Archivfoto der Penzberger Moschee
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Hamas-Terror: "Die meisten Muslime sind extrem erschrocken"

Der Angriff der radikal-islamistischen Hamas auf Israel hat weltweit Entsetzen ausgelöst, auch in arabischen Ländern. Feiernde Palästinenser in Berlin-Neukölln sorgten für Irritationen, auch bei den meisten Muslimen in Deutschland.

Nach den schockierenden Bildern des blutigen Angriffs der radikal-islamistischen Hamas auf Israel folgten in Deutschland schnell die nächsten: Einige Dutzend Männer feierten in Berlin die Taten der Terrororganisation mit dem Verteilen von süßem Gebäck.

"Meisten Muslime in Deutschland extrem erschrocken"

"Das, was einzelne Personen in Berlin-Neukölln machen, ist nicht repräsentativ für Muslime in Deutschland", betont Mira Sievers, Professorin für Islamische Theologie an der Universität Berlin. Die meisten Musliminnen und Muslime, mit denen sie gesprochen habe, seien "extrem betroffen" und seien zunehmend betroffener geworden, als das Ausmaß der Angriffe deutlich wurde, sagt sie im Gespräch mit BR24. "Das Gefühl von Erschrocken-Sein ist das überwiegende, so nehme ich das wahr."

Auch ein Blick in die sozialen Medien bestätigt das. "Wenn jemand einen Menschen tötet, so ist es, als hätte er die ganze Menschheit getötet", zitiert Erkan Inan, Mitglied im Münchner Forum für Islam, eine Sure aus dem Koran auf Facebook. "Morden, rauben, versklaven oder bombardieren von zivilen Menschen" sei mit nichts zu rechtfertigen.

"Es ist nicht islamisch, Menschen in ihren Häusern zu überfallen, zu töten oder zu verschleppen", pflichtet auch Benjamin Idriz bei, Imam aus dem oberbayerischen Penzberg. Es brauche mehr denn je Stimmen in der Welt, welche zu Besonnenheit und Versöhnung und nicht zu Gewalt und Vergeltung aufriefen, so der Geistliche auf Facebook: "Gib uns die Worte in den Mund, der Menschenverachtung zu widersprechen!"

Kritik: Islamverbände schweigen oder relativieren Hamas-Terror

Allerdings gab es auch öffentliche Kritik an deutschen Islamverbänden. Diese hätten sich zu wenig vom Hamas-Terror distanziert. Eren Güvercin, Mitglied der "Deutschen Islam Konferenz", sagte im ZDF, manche hätten die Tatsachen relativiert, hätten von "Übergriffen der Siedler gesprochen und von Übergriffen auf die Al-Aqsa-Moschee". Güvercin bezieht sich dabei auf eine Aussage des Zentralrats der Muslime in Deutschland: "Das ist für mich als ein gläubiger Muslim eine nicht zufriedenstellende Positionierung, das ist leider sehr beschämend."

Islamverbände, das betont Expertin Mira Sievers, vertreten allerdings nur einen Bruchteil der deutschen Muslime. Die meisten sind nicht in einem Verband organisiert. "Das hängt damit zusammen, wie religiöse Autorität im Islam funktioniert", sagt Expertin Mira Sievers, "und sie funktioniert eben vor allen Dingen nicht zentralisiert."

Antisemitismus-Experte: Aufrufe, sich zu positionieren, kontraproduktiv

Dervis Hizarci, Vorstandsvorsitzender der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus (KIgA), hält die Forderung an Muslime, sich nach jedem islamistischen Anschlag – oder jetzt dem Hamas-Terror – zu positionieren, manchmal sogar für kontraproduktiv. In solchen Aufrufen würde oft indirekt gefordert, Muslime müssten etwas tun. "Da unterstellt man, Muslime tun nichts", sagt Hizarci im Interview mit BR24. Außerdem würde dadurch suggeriert, dass hier lebende Muslime automatisch etwas mit dem Terror in anderen Ländern zu tun hätten.

Durch solche Forderungen schaffe man nur neue Fronten, so der Experte für Antisemitismus, Rassismus und Diskriminierung. Man rede nicht mehr über die Sache, sondern darüber, "ob richtige Erklärungen abgegeben würden oder nicht". Es gehe ja darum, dass es "irgendwo Leid gibt und dass man mit dem Leid so umgeht, dass Anteilnahme sichtbar wird und eine Bereitschaft, gegen Hass und Intoleranz aufzustehen und für Dialog und Menschlichkeit sich einzusetzen". Hizarcis Appell: "Nicht auffordern und damit Dinge unterstellen, sondern zu einer gemeinsamen Erklärung einladen."

Unter islamischen Theologen würde genau dies im Moment passieren, erklärt Mira Sievers. Viele hätten sich sehr schnell nach den Ereignissen vom Samstag an jüdische Gesprächspartner gewendet, "mit denen sie enge Kontakte pflegen und im Dialog sind". Dennoch würden sich auch jüdische Kollegen wünschen, "dass Muslime klarstellen, dass der Terror nicht im Namen des Islams geschieht".

"Muslime mit Situation überfordert"

Die meisten Musliminnen und Muslime seien mit der Situation und den Gefühlen, die dadurch ausgelöst würden, "überfordert", beschreibt Bettina Mehic die Stimmung in ihrer bayerischen Community gegenüber BR24. "Dazu kommt die Rollenzuschreibung der Gesellschaft, die einen schon in eine Rolle presst." Muslime hätten schon oft die Erfahrung gemacht, "dass die andere Seite nicht fragt, um zuzuhören, sondern fragt, um sich bestätigt zu fühlen".

Der Terror der Hamas würde auch bei deutschen Muslimen "viele Baustellen öffnen", beschreibt die Lehrerin, die auch Mitglied im Münchner Forum für Islam ist, ihre Situation. "Da ist zum einen der Druck, Stellung zu beziehen. Dann habe ich drei Kinder, die ich darauf vorbereiten muss, dass Menschen auf sie zukommen könnten und Stellungnahmen von ihnen erwarten."

Angst muslimischer Mütter: Extremisten könnten Situation ausnutzen

Gleichzeitig wisse sie, dass muslimische Extremisten genau auf solche Situationen warteten und damit versuchten, Kinder und Jugendliche zu radikalisieren. "Auch diese Angst schwingt bei mir mit, so dass ich meinem Sohn, der 13 Jahre alt ist, erstmal alle Social-Media-Kanäle gesperrt habe."

Viele Muslime verweisen auch darauf, dass der Nahost-Konflikt ein politischer sei und kein religiöser. "Ich verstehe nicht, warum ich mich aufgrund meiner Religion äußern sollte. Ich bin Deutsche und so gesehen sollte es reichen, wenn mein deutscher Bundespräsident, mein deutscher Bundeskanzler und meine deutsche Außenministerin sich schon positioniert haben", so Bettina Mehic.

Video: Die aktuelle Lage im Nahost-Konflikt

Zerstörte Häuser im Gazastreifen, im Hintergrund Rauchwolken.
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Am sechsten Tag nach den blutigen Angriffen der Hamas auf Israel setzt die israelische Luftwaffe das Bombardement auf den Gazastreifen fort.

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