Wahlplakat der Freien Wähler zur Landtagswahl in Bayern
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Fall Saller: Antisemitismus bei den Freien Wählern?

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Fall Saller: Antisemitismus bei den Freien Wählern?

Ein Landtagskandidat der Freien Wähler hat eine Mitteilung mit einer antisemitischen Chiffre gepostet. Einen Monat nach der Flugblatt-Affäre. Was sagt der Fall über die Partei aus? Eine Analyse.

Als Markus Saller, Jahrgang 1969, Freier Wähler, Landtagskandidat Mühldorf am Inn, am 23. September auf dem Kurznachrichtendienst X (ehemals Twitter) einen Post absetzt, ist es spät. Um 23.40 Uhr schreibt er: "Rothschild?". Mehr nicht. Aber es reicht, um etwas loszutreten.

Denn die Frage hat er nicht irgendwo gepostet, sondern unter einer Veröffentlichung von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach. Der Sozialdemokrat hatte ein Foto auf X gestellt, das ihn mit seinem Doktorvater und dessen Frau zeigt. "Wunderbares Treffen", schrieb Lauterbach dazu, "bei meinem Doktorvater Amartya Sen und seiner Frau Emma Rothschild".

Mythos einer jüdischen Weltverschwörung

Unter dem Post von Lauterbach sammeln sich antisemitische Kommentare und Verschwörungsmythen. Sie verweisen auf eine Erzählung, die es seit dem 19. Jahrhundert gibt: auf eine angebliche jüdische Weltverschwörung. Der Name der früher sehr einflussreichen jüdischen Familie Rothschild ist für Verschwörungsanhänger eine Art Codewort für diesen Mythos.

Markus Saller sagt dazu: "Eine antisemitische Anspielung war von mir nicht beabsichtigt. Ich habe auch direkt auf den Tweet gepostet und nicht gesehen, was dort schon von anderen kommentiert wurde."

Kritiker sagen: Da ist einer abgedriftet.

Im Video: Rothschild-Verschwörungen - was ist im bayerischen Wahlkampf los?

Gut vier Wochen nach der Flugblatt-Affäre

Der Post von Markus Saller kommt in einer Zeit, in der die Sensibilität für womöglich antisemitische Äußerungen bei den Freien Wählern hoch ist. Gut einen Monat ist die Flugblatt-Affäre rund um den Chef der Freien Wähler, Hubert Aiwanger, nun her. In dessen Schultasche war vor mehr als 35 Jahren ein menschenverachtendes Flugblatt gefunden worden, das viele auch als antisemitisch eingestuft haben. Zwar hat sich Aiwangers Bruder Helmut als Verfasser erklärt, aber Hubert Aiwanger steht mindestens wegen seines Umgangs mit den Vorwürfen in der Kritik. Die Aufklärung lief schleppend, eine Entschuldigung kam spät, noch immer sind viele Fragen offen. Und jetzt die Äußerungen von Markus Saller.

Was sagt all das über die Freien Wähler aus? Hat die Partei ein Antisemitismus-Problem?

Von globalen Eliten, Lobbyisten und Ufos

Fragt man in Mühldorf Menschen, die Markus Saller kennen, zeigen sich viele überrascht von seinen Äußerungen. Er sei keiner, der ein Blatt vor den Mund nehme, sagen sie. Aber Antisemit? Nein. Nur in den sozialen Medien seien ihnen einige Posts seltsam vorgekommen.

Mittlerweile hat Saller seinen X-Account gelöscht. Dem Bayerischen Rundfunk liegen aber Screenshots von Sallers Aktivitäten im Onlinedienst vor.

So schreibt er etwa am 20. September vom "Great Reset", einem Verschwörungsmythos, der laut Bundesamt für Verfassungsschutz davon ausgeht, "dass eine 'globale Elite' in Politik und Wirtschaft eine globalisierte Diktatur" anstrebt. Saller sagt BR24 dazu, der Tweet sei flapsig gemeint und unglücklich formuliert gewesen.

Am 17. September schreibt Saller über die Bundesregierung, sie habe rund um die Ministerien Lobbyisten installiert, die Durchhalteparolen verkauften, "bis sie ihr Teufelswerk vollendet haben". Dem BR sagt er, er erinnere sich nicht an den Tweet und könne sich nicht vorstellen, ein Wort wie "Teufelswerk" verwendet zu haben.

Und Mitte September retweetet er einen Post, in dem ein Nutzer über das "Themenfeld Außerirdische und UFOs" sinniert und vor einem "One World Government" warnt – auch das eine antisemitische Verschwörungserzählung.

Wer ist Antisemit?

Auf BR-Anfrage distanziert sich Saller ausdrücklich von nationalsozialistischem Gedankengut und jeder Form des Antisemitismus. Er bekenne sich zur freiheitlich demokratischen Grundordnung. Er habe "auf der Plattform manchmal zu schnell, unüberlegt und emotional reagiert".

Wie glaubwürdig ist das? Antisemitismusforscher haben da Zweifel. Der Historiker Sebastian Voigt vom Institut für Zeitgeschichte in München sagt: "Das Perfide an solchen Aussagen ist, dass man im Nachhinein immer sagen kann, dass es nicht so gemeint war."

Saller sagt zu seinen Retweets: "Ohne mich an den jeweiligen Kontext erinnern zu können, erfolgte der Retweet wohl, weil ich beim Lesen subjektiv empfand, dass den Verfassern jenseits der kruden Theorien eine ähnliche Grundsorge zu entnehmen ist: Die Verfasser fühlen sich verängstigt und in gewisser Weise einer Situation ausgeliefert, dass ihnen etwas aufoktroyiert wird, was sie im Grunde nicht wollen und wogegen sie sich nicht zur Wehr setzen können."

Als Beispiele nennt er das Gebäudeenergiegesetz, das Verbrenner-Aus oder den Ausstieg aus der Kernenergie inmitten einer Krise.

Freie Wähler in den sozialen Netzwerken

Es ist eine Stimmung, die bei den Freien Wählern nicht nur Saller anspricht und bespielt.

Da ist etwa die Nürnberger Stadträtin Heidi Lau, die vor allem auf Facebook Videos der AfD oder Posts wie diese teilt, vor Migration oder Impfung warnt und in ihrem Profil über sich schreibt: "verunglimpft und diffamiert von örtlichen Medien und Linken".

Und da sind die Äußerungen von Freie Wähler Chef Aiwanger selbst, der auf einer Demonstration in Erding zum Beispiel sagte, dass man sich "Demokratie wieder zurückholen muss".

Antisemitische Argumentation: Opferrolle und "Wir gegen Die"

Antisemitismusforscher sehen solche Äußerungen kritisch. "Ich würde nicht so weit gehen, dass die Rede Aiwangers antisemitisch war, aber sie hat antisemitische Argumentationsfiguren bespielt", sagt der Historiker Sebastian Voigt vom Institut für Zeitgeschichte in München, der gerade erst ein Buch über die Geschichte des Judenhasses geschrieben hat. Solche Argumentationsfiguren seien: "Wir gegen die", oder eine Opferrolle.

Ähnlich äußert sich auch der stellvertretende Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung an der TU Berlin, Uffa Jensen: "Da sind die Freien Wähler quasi schon halb in Konkurrenz mit der AfD oder versuchen, denen das Wasser abzugraben bei solchen Narrativen." Das sei zwar nicht automatisch antisemitisch, könne "aber in der Regel so konkretisiert werden". Also: Antisemitismus kann auf solche Erzählungen aufsatteln.

Verfassungsschutz: Verschwörungsmythen und Antisemitismus

Tatsächlich ist das eine Entwicklung, die das bayerische Landesamt für Verfassungsschutz in den vergangenen Jahren im Rechtsextremismus beobachtet hat. Vor allem die Corona-Pandemie und die Ablehnung von Corona-Maßnahmen der Regierungen hätten dazu geführt, dass Antisemitismusbezüge sichtbarer geworden seien.

Auch Verschwörungstheorien, die im Zusammenhang mit anderen politischen Ereignissen, etwa dem Klimawandel oder dem Krieg in der Ukraine, entstanden seien, "konnten antisemitisch aufgeladen werden" und hätten so dazu beigetragen, dass antisemitisches Gedankengut in der Gesellschaft bleibe.

Antisemitismus in der Mitte der Gesellschaft

Und das nicht nur in den politischen Extremen, wie die kürzlich veröffentlichte Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zeigt. Rund sechs Prozent der Befragten haben darin antisemitischen Äußerungen zugestimmt. 2020/2021 lag dieser Wert bei ein bis zwei Prozent. Mehr als jeder zehnte meinte in der aktuellen Befragung etwa, dass der Einfluss der Jüdinnen und Juden "überwiegend" oder "voll und ganz" zu groß sei. Auch die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) Bayern spricht von anhaltend hohen Fallzahlen in diesem Jahr.

Antisemitismus in allen Parteien

Antisemitismus sei ein gesellschaftliches Problem, sagt Dana Ionescu, Dozentin beim Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben im Bildungszentrum Braunschweig. Und: "Da Parteien Teil der Gesellschaft sind, kommt er auch in allen Parteien vor." Also nicht nur bei den Freien Wählern.

So leitete der damalige CDU-Politiker Martin Hohmann 2003 in einer Rede zum Tag der Deutschen Einheit her, warum die Juden als Tätervolk bezeichnet werden könnten. Der FDP-Politiker Jürgen Möllemann verfasste 2002 ein Flugblatt, in dem er den damaligen Ministerpräsidenten Israels (Ariel Sharon) und den ehemaligen Vize-Vorsitzenden des Zentralrats der Juden als hinderlich für eine Lösung des Nahost-Konflikts darstellte. Die jetzige Spitzenkandidatin der AfD, Katrin Ebner-Steiner, posierte während der Corona-Proteste mit einem Impfgegner, der einen Judenstern trug. 2019 verließ der Großteil der AfD-Fraktion eine Gedenkveranstaltung für die Opfer des Holocausts im Landtag. Die Linke ist in der Vergangenheit immer wieder vor allem mit israelkritischem Antisemitismus aufgefallen. Und bei den Grünen hat erst vor wenigen Wochen der Münchener Stadtrat Bernd Schreyer getwittert: "Obwohl es nie ein Heizungsverbot gab, ist es gelungen so gegen Grüne aufzuwiegeln, als seien sie d. 'neuen Juden', die 'ausgemerzt' werden müssen um Deutschland wieder alles Glück und Wohlstand zu bringen." Die Generalstaatsanwaltschaft München hat wegen antisemitisch motivierter Straftaten Verfahren gegen Beschuldigte geführt, die der NDP, den Grünen und der AfD zuzuordnen waren.

Umgang mit Antisemitismus entscheidend

Wissenschaftlerin Dana Ionescu sagt: Die Parteien seien gut darin, Antisemitismus bei den anderen Parteien zu erkennen und zu kritisieren – nicht aber in den eigenen Reihen. Öffentlich positionierten sich alle gegen Antisemitismus, aussagekräftiger sei aber der Umgang mit Fällen in den eigenen Reihen.

Hohmann, Möllemann und Schreyer mussten nach ihren Äußerungen zurücktreten. Und Markus Saller von den Freien Wählern? Wie reagiert die Parteispitze auf seine Äußerungen?

Freie Wähler bleiben still

Wer die sozialen Medien nach Kommentaren der Parteispitze zum Fall Saller durchsucht, wird nicht fündig. Die sonst so Twitter-freudigen Freien Wählern bleiben still. Erst auf Anfrage von BR24 äußern sie sich. Generalsekretärin Susann Enders lässt mitteilen, dass Sallers Äußerung "unüberlegt und aus unserer Sicht inakzeptabel war". Er habe die Äußerung gelöscht und sich entschuldigt.

Fraktion: Kein Rechtsruck in den eigenen Reihen

In der Fraktion der Freien Wähler fällt die Distanzierung deutlicher aus. Öffentlich äußern will sich zu Sallers Posts zwar niemand, in Gesprächen beteuern die Abgeordneten aber, dass sie den Tweet Sallers abscheulich finden. Einen Rechtsruck oder gar antisemitische Tendenzen sehen sie in ihrer Partei aber auf keinen Fall. Im Gegenteil. Im Landtag hätten die Freien Wähler in der vergangenen Legislaturperiode gezeigt, dass sie es mit dem Kampf gegen rechts und gegen Antisemitismus ernst meinten. Sie untermauern das mit der Resolution "Antisemitismus entschieden bekämpfen", die die Fraktion eingebracht hat.

Warum sich niemand öffentlich äußere? "Wahlkampfstress", heißt eine Begründung. Andere sagen, sie hätten den Fall Saller noch gar nicht richtig mitbekommen oder verweisen darauf, dass "Saller sich ja entschuldigt" habe.

Der Diskurs verschiebt sich

Es sind ähnliche Töne wie in der Flugblatt-Affäre. Geschichtswissenschaftler Voigt sagt: "Aus dem Fall Saller kann man nicht folgern, dass die Freien Wähler eine antisemitische Partei sind." Zumal die Freien Wähler deutlich heterogener sind als andere Parteien. "Aber sie haben einen inkonsequenten Umgang damit. Und das halte ich für problematisch." Und er ergänzt: "Jeder Tabubruch, der ohne reale Konsequenzen bleibt, verschiebt den Diskurs."

In der öffentlichen Wahrnehmung scheinen viele die Vorwürfe in der Tat nicht zu dramatisch zu finden. Seit der Flugblatt-Affäre sind die Freien Wähler im Aufwind. Bei rund 16 Prozent stehen sie laut ARD-Deutschlandtrend gut eine Woche vor der Wahl.

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