Rot beleuchtete Poller beschützen die Ohel-Jakob-Synagoge am St.-Jakobs-Platz in der Münchner Innenstadt vor unerlaubter Zufahrt. (Archivbild)
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Rot beleuchtete Poller beschützen die Ohel-Jakob-Synagoge am St.-Jakobs-Platz in der Münchner Innenstadt vor unerlaubter Zufahrt. (Archivbild)

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"Die Ruhe ist vorbei": Juden in Bayern haben wieder Angst

Es sollte ein Zeichen sein: Am 9. November vor 20 Jahren hat die jüdische Gemeinde in München den Grundstein für ihre neue Synagoge gelegt. Jüdisches Leben hat damit wieder einen festen Platz im Stadtzentrum. Doch zum Feiern ist heute wenigen zumute.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Für Peter Guttmann war der 9. November 2003 ein besonderer Tag. Es war der Tag der Grundsteinlegung für die neue Synagoge auf dem Jakobsplatz im Zentrum von München. Es sei "ein erhebendes Gefühl für jeden jüdischen Menschen in München" gewesen, erzählt er. Für ihn ein Zeichen: "Wir Juden leben noch, wir sind mitten in der Stadt, und wir errichten unser neues Gemeindezentrum mit der Synagoge hier mittendrin in München."

Im Video: BR24 live Sendung zum 20-jährigen Jubiläum der Grundsteinlegung der Münchner Hauptsynagoge Ohel Jakob

Blick auf den Jakobsplatz in München;
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München Synagoge am Jakobsplatz

Grundsteinlegung der Synagoge am Tag der Reichspogromnacht

Der Tag der Grundsteinlegung war bewusst gewählt: Der 9. November sollte nicht mehr nur der Tag der Reichspogromnacht sein, an dem der nationalsozialistische Mob Synagogen und jüdische Geschäfte zerstörte, jüdische Mitbürger misshandelte und ermordete. Für die Israelitische Kultusgemeinde in München ist der 9. November auch der Tag, an dem das jüdische Leben im Stadtzentrum wieder seinen festen Platz fand.

Im Juni 1938 hatte Adolf Hitler den Befehl gegeben, die Hauptsynagoge in München dem Erdboden gleichzumachen – fünf Monate vor den Novemberpogromen war das. Die Grundsteinlegung am Tag genau 65 Jahre nach der Reichspogromnacht hat einen Neuanfang markiert.

So formulierte es damals auch Alt-Bürgermeister Hans-Jochen Vogel (SPD): "Die Urheber und Vollstrecker des Holocaust haben nicht das letzte Wort. Der Wille zum Leben, der Wille zur Versöhnung und der Wille zum Miteinander sind stärker als Verbrechen, Mord und Tod."

Jüdisches Leben in München "eine regelrechte Blüte erlebt"

In der Mitte der Landeshauptstadt ist seitdem nicht nur eine neue Synagoge entstanden. Zum jüdischen Zentrum gehören heute ein Kindergarten und eine Grundschule. Die jüdische Gemeinde ist mit rund 9.500 Mitgliedern eine der größten in Deutschland.

Über die 20 Jahre hinweg habe das jüdische Leben hier eine regelrechte Blüte erlebt, sagt der Vizepräsident der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, Peter Guttmann. Seit dem Hamas-Terror und dem Krieg in Israel und Gaza ist das Gefühl vieler anders. Keiner hätte sich vorstellen können, dass es auf deutschem Boden wieder Demonstrationen gibt, die sich nicht nur gegen Israel richten, sondern gegen das Judentum, sagt er. "Das haben wir eigentlich nie erwartet, dass in Deutschland solche Demonstrationen stattfinden, mit 'Juden wieder ins Gas'. Das ist erschreckend!"

Knobloch: "Die Ruhe, die wir hatten, ist vorbei"

Dem stimmt auch Charlotte Knobloch zu. Die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern hat als Sechsjährige die Reichspogromnacht miterlebt. Heute sagt sie: "Die Ruhe, die wir hatten, die Begeisterung, dass sich da in Deutschland wieder ein Judentum entwickelt hat, das eine große Zukunft hat – das ist momentan vorbei."

Die Israelitische Kultusgemeinde in München hat sogar den Verlag der "Jüdischen Allgemeinen" gebeten, die Wochenzeitung aus Sicherheitsgründen nur noch im neutralen Umschlag zu verschicken. Bis heute bewachen Polizisten Synagogen in Deutschland und Bayern, so auch die Münchner Synagoge am Jakobsplatz. Auch die Grundsteinlegung vor 20 Jahren war überschattet: 2003 vereitelte die Polizei ein von Neonazis geplantes Sprengstoffattentat.

Nach Hamas-Angriff: Lebensgefühl von Juden in Bayern ein anderes

Nicht nur in München, auch in anderen jüdischen Gemeinden in Bayern ist das Lebensgefühl seit dem Angriff der Terrororganisation Hamas auf Israel ein anderes. "Die Mitglieder unserer Gemeinde sind ängstlich. Und ich kann nicht sagen, fürchtet euch nicht, weil ich mich selbst fürchte", sagt die Vorsitzende der Israelitische Kultusgemeinde Straubing und Niederbayern Anna Zisler.

Die niederbayerische Gemeinde habe sich über die vergangenen 30 Jahre positiv entwickelt, erzählt sie. Durch die Zuwanderung der Kontingentflüchtlinge aus der ehemaligen Sowjetunion blühte die vom Aussterben bedrohte Gemeinde auf. Auch das Verhältnis zur Straubinger Stadtgesellschaft sei "eigentlich ein wunderbares". Nach den Anschlägen der Hamas in Israel, so berichtet Anna Zisler, zögen sich jedoch viele Juden zurück.

"Kette mit Davidsstern trägt man nicht mehr gern offen"

Es gibt ein Unsicherheitsgefühl bei jüdischen Menschen, bestätigt auch Josef Schuster. Er ist Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland und der Vorsitzende der Israelitischen Gemeinde Würzburg. Die Unsicherheit führe zwar nicht zu einem geringeren Besuch des Gemeindezentrums, da dies von der Polizei gut geschützt werde. "Aber eine Kette mit Davidsstern trägt man nicht mehr gern so offen", sagt Schuster.

In Würzburg wurde ungefähr zeitgleich mit München ein neues Gemeindezentrum errichtet, mit viel Glas gebaut, als Zeichen der Offenheit. "Somit haben wir seither bessere räumliche Möglichkeiten, was zu einer deutlichen Verbesserung des Gemeindelebens bis zum heutigen Tag geführt hat", erzählt er. Die Würzburger Juden seien in der Stadt gut integriert. Bislang habe auch noch keine Veranstaltung abgesagt werden müssen.

Nürnberger Gemeinde will mit allen Bürgern gemeinsame Zukunft schaffen

Ganz ähnlich ist die Situation in Nürnberg. "Das Verhältnis zur Stadt ist hervorragend", sagt Jo-Achim Hamburger, Vorsitzender der Israelitischen Kultusgemeinde. Die Gemeinde ist die zweitgrößte in Bayern. "1989 hatten wir noch 230 Mitglieder. Heute sind es über 2.500", erzählt er. Die Jugendarbeit sei der Kultusgemeinde heute besonders wichtig, so Hamburger. Gerade wird eine neue Kindertagesstätte, die Kindern aller Religionen offenstehen soll, gebaut. Die jüdische Gemeinschaft hoffe, damit mit allen Mitbürgern eine gemeinsame Zukunft schaffen zu können, betont Hamburger: "Wer im Kindergarten miteinander spielt, der hasst sich später nicht."

Die Angst in der jüdischen Gemeinschaft ist groß. Und sie überschattet den heutigen Festakt, bei dem die Rückkehr des jüdischen Lebens ins Herz der Stadt München gefeiert werden soll.

Im Video: Gedenken Reichspogromnacht in Münchner Synagoge

Gedenken Reichspogromnacht in Münchner Synagoge
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Gedenken Reichspogromnacht in Münchner Synagoge

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