Zukunftsangst: Ist die Mittelschicht am Ende?
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Mittelschicht am Anschlag: Angst vor dem Abrutschen

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Mittelschicht am Anschlag: Angst vor dem Abrutschen

Im Vergleich mit dem europäischen Ausland trägt die Mittelschicht in Deutschland mit die höchste Steuer- und Abgabenlast. Das bedeutet gerade für Menschen mit mittlerem Einkommen eine hohe Belastung. Ist die Mittelschicht am Ende?

Über dieses Thema berichtet: Possoch klärt am .

Deutschlands derzeitiger Wohlstand und damit die Basis des hiesigen Sozialsystems fußt laut Wirtschaftshistoriker Klemens Skibicki vor allem auf einer erfolgreichen Vergangenheit als Industrienation mit einem breiten Mittelstand. Doch Skibicki kritisiert im Interview mit BR24 für "Possoch klärt" (Video oben, Link unten) deutliche Versäumnisse: "Natürlich hätte man sich fürs digital vernetzte Zeitalter seit sehr, sehr, sehr vielen Jahren schon neu aufstellen müssen. Wir haben eigentlich das Gegenteil gemacht."

Gerade der baldige Renteneintritt der Babyboomer-Generation wird Deutschland daher vor ein Problem stellen. Denn dann verteilt sich die Steuerlast, die das derzeitige Sozialsystem am Laufen hälft, auf deutlich weniger Menschen. "Wir werden in den nächsten Jahren fünf bis sechs Millionen Menschen verlieren, […] die berühmten Boomer, die dann in Rente gehen und die als Rentner versorgt werden müssen und die auf dem Arbeitsmarkt fehlen, die also diese Fachkräftelücke, die jetzt schon erheblich ist, noch einmal erheblich vergrößern werden", mahnt im BR24-Interview auch Daniel Goffart, Chefreporter der "WirtschaftsWoche".

Die Mittelschicht schrumpft

Die Mittelschicht ist unter Druck: Eine Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) belegt, dass die Mittelschicht in Deutschland bereits seit Jahrzehnten schrumpft. 1995 waren noch 70 Prozent der Bevölkerung Mittelschicht, 2018 waren es nur noch 64 Prozent. Der stärkste Rückgang fand bis 2005 statt, doch die Mitte hat sich seither nicht wieder erholt.

Grafik: Wie entwickelt sich die Mittelschicht?

Das Abstiegsrisiko hat in den vergangenen Jahren vor allem in der unteren Mitte zugenommen. Zwischen 2014 und 2017 sind 22 Prozent der Personen in der unteren Mittelschicht in die untere Einkommensklasse abgerutscht. Mehr als jeder fünfte Erwerbstätige galt damit statistisch als arm oder armutsgefährdet.

Mittelschicht: Soziale und wirtschaftliche Mobilität nur noch gering

Gleichzeitig sind die Chancen, in die Mittelschicht aufzusteigen, kleiner geworden, was laut der Studie "Bröckelt die Mittelschicht?" von OECD und Bertelsmann Stiftung vor allem junge Menschen trifft. "Das erklärt, weshalb die Frustration bei vielen Menschen in der Mittelschicht groß ist: wenig Chancen, starke Belastung und wenig Möglichkeiten, Vorsorge zu betreiben", fasst der Wirtschaftsprofessor Marcel Fratzscher zusammen.

Der Anteil der 18- bis 29-Jährigen, die zur Einkommensmitte gehören, ist mit einem Rückgang von 10 Prozentpunkten überdurchschnittlich stark gesunken: Bei der älteren Generation der sogenannten Babyboomer waren es noch 71 Prozent, die nach der Ausbildung direkt in die Mittelschicht gestartet sind; bei den jüngeren sogenannten Millennials sind es nur noch 61 Prozent. Die Generation, die auf die Babyboomer folgt, ist demnach die erste nach dem Zweiten Weltkrieg, die ihre Eltern mehrheitlich wirtschaftlich nicht übertreffen wird.

Im Video: Zukunftsangst: Ist die Mittelschicht am Ende? Possoch klärt!

"Kann ich mir mein Leben in Zukunft noch leisten?"

Diese Veränderungen hängen für Journalist und Buchautor Daniel Goffart mit zwei Dingen zusammen: "Das eine ist, dass man früher viel mehr in der Lage war, Eigentum zu bilden, auch als Normal- oder Geringverdiener. Und das zweite ist, dass die Entwicklung der Mieten halt exorbitant ist. Das heißt, wir haben in den letzten Jahren eine Mietpreisexplosion erlebt."

Das wirke sich unmittelbar aus, denn fast nirgends in Europa wohnten so viele Menschen zur Miete wie in Deutschland, so Goffart weiter. Für viele werde die Zukunftsperspektive begleitet mit einem Bedrohungsgefühl: "Kann ich mir mein Leben, was ich jetzt habe, in Zukunft noch leisten? Zumal, wenn sie dann auch die Entwicklung der Renten sehen: Die Renten sind zwar gestiegen, aber wir haben auch in Deutschland im internationalen Vergleich sehr kleine Renten."

Steuern und Abgaben: Deutschland auf Platz zwei hinter Belgien

Gleichzeitig ist die Belastung mit Steuern und Abgaben in Deutschland so hoch wie in fast keinem anderen Industrieland. Unter den 38 Industrieländern, die Mitglied sind in der OECD, rangiert Deutschland nach Belgien auf Platz zwei was die Belastung der Arbeitseinkommen mit Steuern und Sozialabgaben betrifft. Das hat eine Auswertung der OECD ergeben. So liegt die Abgabenquote bei einem verheirateten Paar mit Kindern durchschnittlich bei 40,8 Prozent. Höher ist die Belastung nur in Belgien mit 45,5 Prozent. Im Schnitt aller OECD-Staaten liegt die Abgabenlast bei 29,4 Prozent.

Auch bei Singles liegt Deutschland auf Platz zwei der Belastung durch Steuern und Abgaben. Hier liegt die entsprechende Quote bei 47,8 Prozent. Platz eins belegt erneut Belgien mit 53 Prozent.

Grafik: Steuern und Abgaben im Vergleich

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Nur Belgien hat unter den OECD-Mitgliedsstaaten höhere Steuern und Abgaben als Deutschland.

Schieflage bei Steuern und Abgaben sorgt für Frust

Das ermöglicht laut Marcel Fratzscher Deutschlands "starken Sozialstaat", der eine wichtige Voraussetzung sei für sowohl sozialen Frieden als auch eine erfolgreiche Marktwirtschaft.

"Die Frage ist: Wie wird dieses System finanziert? Und die Mittelschicht trägt einen ungewöhnlich großen Teil dieser Last, das zu finanzieren, weil eben ganz große Vermögen, die Topverdiener, aber vor allem die Menschen, die sehr, sehr große Vermögen haben, sich kaum an dieser Last beteiligen, über die Einkommen schon, aber nicht über die Vermögen. Und das schafft eine Schieflage." Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung

Für den Ökonomen Marcel Fratzscher ist das deutsche Steuer- und Abgabensystem eine Erklärung, weshalb viele Menschen in der Mittelschicht "kaum über die Runden kommen": Wenngleich die Löhne stiegen, hielten sie in den vergangenen Jahren nicht Schritt mit der hohen Inflation.

Wirtschaftshistoriker: Ohne Strukturreformen drohen Verteilungskämpfe

Das Sozialsystem, zu dem in Deutschland etwa Krankenversicherung, Pflegeversicherung und Rentenversicherung gehören, stehe schon jetzt vor dem Problem aufrechterhalten werden zu können, analysiert Daniel Goffart im Interview. Zwar sieht der langjährige Beobachter der Mittelschicht Goffart einen Systemkollaps in Deutschland derzeit nicht unmittelbar bevorstehen. Er warnt jedoch: "Wenn wir nicht gegensteuern und wenn wir gewisse Entwicklungen nicht wirklich umkehren, dann kommt dieses System an seine Grenzen. Das ist absolut so." Als wichtigsten Lösungsansatz destilliert Goffart eine "Verringerung der Steuerabgabenlast für die arbeitende Mitte" heraus.

Auch Wirtschaftshistoriker Skibicki mahnt vor sozialen Konsequenzen, wenn Deutschland nicht bald einen Strukturwandel anstrebt: "Wenn wir nichts fürs neue, fürs digital vernetzte Zeitalter haben und gleichzeitig die Industriebasis wegbricht, dann wird es doch eher eng und Verteilungskämpfe sind zu erwarten."

Dieser Artikel ist erstmals am 26.01.2024 auf BR24 erschienen. Das Thema ist weiterhin aktuell. Daher haben wir diesen Artikel erneut publiziert.

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