Die Schülerinnen Clara und Elisabeth sowie der Schüler Leon beraten über die Lage an Schulen.
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Die Schülerinnen Clara und Elisabeth sowie der Schüler Leon beraten über die Lage an Schulen.

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Abgehängte Schüler: Die Scherben der Corona-Pandemie

Die Corona-Pandemie hat bis heute Auswirkungen auf den Schulalltag an Schulen. Hinzu kommt der Lehrkräftemangel. Wie schätzen Schüler in Bayern die Lage ein – und was bereitet ihnen Sorgen?

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Die Schülersprecher Clara, Elisabeth und Leon wollen auf Probleme im Schulalltag aufmerksam machen. Denn viele ihrer Mitschülerinnen und Mitschüler leiden unter dem Lehrkräftemangel, wie sie berichten. Die Folgen seien gravierend.

Unterrichtsausfall an den Schulen

Die Gymnasiastinnen Clara und ihrer Schwester Nele berichten: Mindestens zwei bis drei Unterrichtsstunden fallen wöchentlich an ihrer Schule aus – auch nach der Pandemie. Vertretungskräfte sind Mangelware und zudem oft fachfremd.

Vieles muss sich die 16-jährige Clara alleine über Apps und Arbeitsaufträge mühsam einpauken. "Wenn über Wochen ein- und dasselbe Unterrichtsfach ausfällt und es keinen Ersatz gibt, weil es einfach keinen Vertretungslehrer gibt, dann fehlt einem der Stoff." Zwar bekomme sie online Arbeitsaufträge gestellt, doch das sei kein Vergleich zu tatsächlichem Unterricht und so hänge sie, genauso wie viele ihrer Freunde, immer weiter hinterher.

Lücken nach Corona-Pandemie

Trotz der Corona-Lücken: Bei Clara und vielen anderen bayerischen Schülerinnen und Schülern hieß es schnell wieder 'business as usual'. Das bedeutet: möglichst schnell den Lehrstoff nachholen und Leistungen abliefern, wie vor der Pandemie. Doch viele sind notenmäßig abgesackt – auch Clara.

Zum ersten Mal habe sie auch einen 'Blauen Brief' erhalten, eine Versetzungsgefährdung, berichtet Clara. Und damit sei sie kein Einzelfall. Die Hälfte ihrer Freunde sei versetzungsgefährdet, ebenso ihre Schwester. "Und bei mir in der Klasse ein Drittel, würde ich sagen."

Schülersprecher: Es fehlt an Motivation und Lernstruktur

Es sind aber nicht nur die Noten, unter denen die Schüler leiden. Vor allem Kinder und Jugendliche, die daheim alleine auf sich gestellt sind, deren Eltern sie nicht unterstützen können, haben teils auch schwerwiegendere Probleme. "Die Schüler haben nicht mehr die Motivation und die Lernstruktur, die sie davor hatten", erläutert Leon, der an einer Realschule gerade seinen Abschluss macht. "Schüler machen den Laptop auf, melden sich an und sagen: 'Hallo, ja' und gehen dann wieder schlafen."

Schülersprecherin Elisabeth berichtet von Kindern, die ihr erzählten, eine Sucht entwickelt zu haben. Einerseits müssten sie den fehlenden Unterrichtsstoff lernen, andererseits fehle ihnen ein richtiges soziales Umfeld – und so spielten sie den ganzen Tag und entwickelten eine Sucht. Davon könnten sie "eigentlich allein gar nicht mehr wegkommen", ergänzt Elisabeth.

Therapeutin: Deutlich mehr Anfragen nach Psychotherapien

Weil Leistungsdruck und Schulangst steigen, bekommt die Nürnberger Kinder- und Jugend-Psychotherapeutin Anna Heid Rocha immer mehr Anfragen. Manche Jugendliche können Monate nicht in die Schule gehen. Besonders schlimm ist die Situation auch für jüngere Kinder. Es sei stark abhängig vom Elternhaus, inwiefern Kinder mitgekommen seien oder nicht, erklärt Anna Heid Rocha.

Viele Kinder seien regrediert, sagt sie. "Das heißt, dass sie viele Entwicklungsstufen, die sie eigentlich schon hinter sich haben, wieder neu meistern müssen", sagt Heid Rocha. "Kinder, die wieder Trennungsängste entwickelt haben, Kinder, die wieder Verlustängste entwickelt haben, Kinder die wieder einnässen oder Kinder, die wieder bei den Eltern im Bett schlafen müssen."

Nach Pandemie: "Vom Stillstand zum Sprint"

Statt nur Wissen zu pauken, bräuchten Betroffene jetzt Zeit, um ihre sozialen Kompetenzen aufzuholen, fordert die Psychotherapeutin. Die lagen während der Corona-Pandemie brach. Verständnis und Zeit, um wieder anzukommen, seien nun wichtig, sagt Heid Rocha. "Ich denke, unsere Gesellschaft ist generell zu schnell. Jetzt waren wir zwei Jahre im absoluten Stillstand und jetzt sollen wir alle wieder einen Sprint hinlegen, das funktioniert nicht."

Das Telefon steht nicht mehr still, auch noch nach der Corona-Pandemie. Tagtäglich bekomme sie Anfragen nach einem Therapieplatz, berichtet Heid Rocha, doch die meisten müsse sie vertrösten. "Und das lässt einen als Therapeut verzweifeln, dass man ausgebildet worden ist, um zu helfen, aber man kann nur eine Absage erteilen."

Nachhilfe durch Mitschüler

Um dieses Problem wissen viele Schulen und überlegen sich Angebote für ihre Kinder und Jugendlichen. Auch Elisabeth ist Gymnasiastin. Sie sucht Bücher für Fünft- und Sechstklässler, um mit ihnen nötigen Stoff nachzuholen. Ein Angebot ihrer Schule um den Lehrermangel abzumildern. Für die Kinder ist das Angebot kostenlos und Elisabeth bekommt als Nachhilfskraft etwas Geld.

Therapeutin: "Über psychische Gesundheit sprechen"

Psychotherapeutin Anna Heid Rocha hat zusammen mit Bar-Betreibern und Jugendlichen aus dem Nürnberger Umland ein Projekt im Visier, um Betroffene in ihrer Wartezeit auf einen Therapieplatz nicht ganz mit ihrer Situation allein zu lassen. In Bars will sie gegen einen kleinen Obolus Veranstaltungs-Abende organisieren. Unbürokratisch und unkompliziert. Mit Themen wie Depression, Essstörungen oder Schulangst.

"Es soll die Möglichkeit geben, dabei über psychische Gesundheit zu sprechen" sagt Heid Rocha. Es sei ein Therapieansatz im echten Leben. "Weil die Kids und die Jugendlichen jetzt Hilfe brauchen. Jetzt. Die Wartelisten sind extrem lang und ich kann bei einer Depression nicht ein halbes Jahr warten. Ich brauche die Hilfe sofort."

Corona-Pandemie, Lehrermangel, und immer mehr Krisen: Das erzeugt tiefe seelische Spuren. Die Bedürfnisse der Kinder- und Jugendlichen zu ignorieren, kann sich die Gesellschaft möglicherweise nicht mehr lange leisten.

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