Auf einem Smartphone ist der Ladebildschirm von TikTok zu sehen.
Bildrechte: BR/Leon Baatz

Social Media

Per Mail sharen
Artikel mit Audio-InhaltenAudiobeitrag

Warum macht TikTok süchtig? Ein Selbstversuch mit Unterstützung

Alles durcheinander, immer was Neues: TikTok hat Suchtpotenzial. Warum genau ist das so? Und ließe sich der Wildwuchs auf der App vielleicht auch in politische Subversion verwandeln? Medienwissenschaftlerin Isabell Otto hat TikTok untersucht.

Über dieses Thema berichtet: kulturWelt am .

Flache Witze, Buchempfehlungen, Szenen eines Protests im Iran, Schminktipps, Tanzvideos, Gesellschaftskritik: Das alles und noch viel mehr sehe ich, wenn ich die Social Media App TikTok auf meinem Handy aufmache. In kurzen Videos, die teilweise nur ein paar Sekunden dauern. Was mir nicht gefällt, swipe ich weg. Klingt vielleicht langweilig, entfaltet aber einen ziemlichen Sog. Letztens ist es mir passiert, dass ich um acht Uhr abends mein Handy rausgeholt habe – und bis drei Uhr nachts auf TikTok war.

Videos, Videos, Videos

Die Medienwissenschaftlerin Isabell Otto hat gerade ein Buch herausgebracht, das Wirkungsweise und Ästhetik von TikTok untersucht. Warum die Sogwirkung dieser App größer ist als bei anderen Angeboten? TikTok sei viel ungeordneter, sagt Isabell Otto. Auf Facebook und Instagram gebe es "sehr viel stärker fokussierte Inhalte" auf der Basis der Aktivität von Freunden oder Followerinnen. Auch TikTok arbeite mit diesen Parametern, aber sie spielten eine geringere Rolle, so Otto. Viel wichtiger sei die für die weltweite Videoproduktion geöffnete Startseite.

Sobald ich diese Startseite öffne, beobachtet TikTok jede meiner Aktionen auf der App genau. Ob ich ein Video like, ob ich es ganz gucke, mehrmals gucke oder ob ich das Interesse verliere und es gleich wieder nach oben wegwische. Das sagt etwas über meine Vorlieben aus. Und der Algorithmus analysiert jedes Video, das auf der Plattform landet: was dort zu sehen ist, worum es geht, Musik, Stimmung und sogar den Farbton des Videos. So kann mir die App am Ende extrem passgenau die Dinge ausspielen, die mir gefallen.

Schräge Filmchen – und das echte Leben

Aber TikTok hat auch das Spiel mit der menschlichen Neugierde perfektioniert, betont Isabell Otto. Die Plattform achte darauf, dass Trends oder Videos in den Feed kämen, die Userinnen und User eben nicht erwarten: "Also, dieses Überraschende: Da kommt was ganz Neues, was vielleicht gar nicht passt, was vielleicht auch verstört", so Otto. "Das ist das, was diese Faszination ausmacht: Ich schaue diesen Video-Feed, ich scrolle da durch", und dass man nicht mehr aufhören könne, liege auch daran, dass immer zu erwarten sei: "Da passiert noch etwas Spektakuläres."

Im Video: Der TikTok-Selbstversuch

Handybildschirm mit dem tiktok-Logo
Bildrechte: BR
Artikel mit Video-InhaltenVideobeitrag

Alles durcheinander, immer was Neues: TikTok hat Suchtpotenzial. Warum genau ist das so?

Zum Beispiel das hier: Auf den ersten Blick sieht es aus wie eine Szene aus einem Horrorfilm, ein menschlicher Kopf rollt eine Pool-Rutsche herunter, losgelöst vom Körper. Am Ende der Rutsche landet der Kopf auf den Schultern eines jungen Mannes, der in die Kamera lacht. Das Video des TikTokers John Heron Sandoval hat knapp 30 Millionen Views. Eine Videomontage mit unsichtbarem Schnitt, eine sogenannte "Transition". Es muss schnell gehen, es muss fesseln und sich ständig verändern.

Solche Kipp-Punkte prägen die Bildästhetik und die Nutzungspraktiken von TikTok entscheidend, sagt die Medienwissenschaftlerin Isabell Otto. Und das habe auch Auswirkungen auf das echte Leben, das Real Life: "Man kann ja nicht davon ausgehen, dass Social Media einfach in so einer Nische funktionieren, die in abgeschlossenen Räumen stattfindet". Das Smartphone sei immer dabei, es gebe viele Videos, die Geschehnisse im öffentlichen Raum aufzeichneten. "Konzerte verändern sich, Protestkulturen verändern sich dadurch, dass direkt auf TikTok Inhalte eingespeist werden. Und so sieht man das in verschiedensten Bereichen, dass diese Dynamik, die auf TikTok passiert, auch Alltagskultur, politische Kulturen verändert."

Kann eine gewinnorientierte Plattform subversiv sein?

Zum Beispiel bei den Ausschreitungen in Berlin, als in der Silvesternacht Einsatzwägen von Polizei und Rettungsdienst mit Raketen und Böllern beschossen wurden. Hier habe man auf TikTok Challenges beobachten können, die das Ziel hatten, mit den Videos der Angriffe Reichweite zu erzeugen. Und auch die Debatte um eine möglicherweise gescheiterte Migrationspolitik sei wieder auf TikTok geführt worden – auf eine extrem affektive, emotional geladene Weise. TikTok ist alles andere als frei von Rassismus und Diskriminierung. Zugleich sehe man aber auch einen kreativen politischen Wildwuchs, dem ein subversives Moment innewohne, sagt Isabell Otto.

"Wie kann man Verfestigungen, auch Machtstrukturen aufbrechen durch andere Formen der Produktion und der Gestaltung und der Schreibweise?" Diese Frage stelle TikTok, wo eben sehr viel möglich sei. Allerdings auch wieder nur, weil ein großes Unternehmen mit seinem eigenen Kalkül das eben so zulasse. Es bleibt also ein doppelter Befund: Politischer Protest und kreativer Ausdruck erproben spannende neue Formen – "und andererseits wissen wir genau: All das folgt einer Marktlogik und wird letztlich auch wieder ausgewertet und abgeschöpft."

Am Ende hilft mir dieser Gedanke auch im ganz Kleinen, gegen das Suchtpotenzial von TikTok anzukommen. Denn so viel Spaß es macht – am Ende liefere ich nur meine werberelevanten Daten ab. Und das macht dann doch gar nicht mehr so viel Spaß.

Isabell Otto, "TikTok", 80 Seiten, Wagenbach Verlag, 12,00 Euro

Das ist die Europäische Perspektive bei BR24.

Verpassen war gestern, der BR Kultur-Newsletter ist heute: Einmal die Woche mit Kultur-Sendungen und -Podcasts, aktuellen Debatten und großen Kulturdokumentationen. Hier geht's zur Anmeldung!