Haustür aus dunklem Holz neben einem goldenen Klingelschild
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Privilegiert sein

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Sind wir die Guten? Der neue Roman von Thomas von Steinaecker

Geht das – zu den "Guten" zu gehören und eigentlich doch nur an sich selbst zu denken? Der Augsburger Schriftsteller Thomas von Steinaecker porträtiert in "Die Privilegierten" eine Generation und ein Lebensgefühl. Das bleibt über 600 Seiten spannend.

Über dieses Thema berichtet: Diwan - Das Büchermagazin am .

In einer Zukunft, in der nicht einmal mehr auf die Jahreszeiten Verlass ist, sitzt ein alter Mann in einer Hütte in den norwegischen Wäldern und blickt auf sein Leben zurück. Auf seine Kindheit in der Oberpfalz, in den 80er- und 90er-Jahren. Bastian wächst bei seinem kulturbeflissenen Großvater auf. Seine Eltern sind bei einem Autounfall ums Leben gekommen. In der Schule fühlt er sich als Außenseiter – und freundet sich mit den beiden anderen Kindern an, die auch irgendwie anders sind: Madita aus Norddeutschland, die zu "öko" ist. Und Ilie aus Rumänien, der in einem "Hochhaus" wohnt. Die drei gründen den "Klub der Katze", erfinden Geschichten zusammen, schauen Star Wars und schwören sich ewige Freundschaft. Die Zukunft scheint vielversprechend.

"Generation eigentlich": Gehöre ich zu den Guten?

Sechzig Jahre später fragt sich Bastian, ob Madita und Ilie überhaupt noch leben. Und wie er eigentlich dazu gekommen ist, die Menschen zu hassen. Denn er hat doch einst zu den Privilegierten gehört. Und wer sind diese "Privilegierten"? Das sei jene Bevölkerungsgruppe, aus der er selber komme, sagt Autor Thomas von Steinaecker. Das, was man vielleicht als die "weiße Mittelschicht" bezeichnen würde: "Gebildet aufgewachsen, ohne materielle Sorgen – aber trotzdem eigentlich konstant unglücklich". Und stets von dem Gefühl begleitet, "dass man irgendwas falsch gemacht hat und dass man eigentlich noch nicht da ist, wo man eigentlich sein sollte".

Thomas von Steinaecker ist Jahrgang 1977, also nur ein paar Jahre älter als sein Ich-Erzähler. So, wie er seine Altersgenossen beschreibt, könnte man sie auch "Generation eigentlich" nennen. Als junge Erwachsene sind Bastian und seine Freundin Brigitte überzeugt, zu den "Guten" zu gehören, weil sie wissen, wie sie sich "eigentlich" richtig verhalten müssten: weniger Flugreisen, mehr Zeit für Freunde und Familie, nicht so viel im Internet bestellen, mal was spenden.

Es sei, sagt Thomas von Steinaecker, ein "durchaus erfolgreiches Leben", das er seinem Protagonisten auf den Leib geschrieben hat, Bastian mache auch keine großen Fehler, "die man ihm moralisch vorwerfen könnte". Und trotzdem bleibe eben das Gefühl: "Irgendwas stimmt hier nicht, irgendwas habe ich falsch gemacht." Für die Leserinnen und Leser wird Bastian zu einem Freund, den man dabei beobachtet, wie er seinen Job doch immer wieder an die erste Stelle setzt – und seine Partnerin und Mutter des gemeinsamen Kindes das resigniert hinnimmt. Wie er seinen eigenen Ansprüchen als Freund nicht gerecht wird, aber der "Klub der Katze" doch immer wieder auflebt.

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Autor Thomas von Steinaecker

Radikal sein – und mitmachen

Thomas von Steinaecker gelingt in "Die Privilegierten" das Kunststück, so ehrlich und reflektiert von den großen und kleinen Dramen des Lebens zu erzählen, dass die Lektüre immer spannend bleibt.

"Und war nicht eines sicher? Am Ende waren wir stets allen Unkenrufen zum Trotz in unseren bekannten Alltag zurückgekehrt, in dem unsere alten Rollen auf uns warteten und wo schnell nach der Aufregung über die jeweilige Weltkrise die Vielzahl der kleinen Probleme in den Mittelpunkt rückten sowie das diffuse Gefühl, unentwegt unerfüllt zu sein, als liefen wir jenem Leben hinterher, das uns eigentlich zustände und deshalb das einzig Wahre wäre."

Der Bruch kommt Ende der 2020er-Jahre: Bastian überwirft sich mit seinem erwachsenen Sohn Samy, weil der nämlich im Gegensatz zu seinen Eltern wirklich etwas an den gesellschaftlichen Missständen ändern will. Samy schmeißt sein Medizin-Studium hin, um sich für Menschen zu engagieren, die der Staat längst aufgegeben hat. Darin ist er eigentlich radikal, rutscht dann aber doch, erklärt Thomas von Steinaecker, in die Rolle des "Showmans" hinein. Denn Samy agiere "mit Mitteln des 21. Jahrhunderts" – und dem medialen Zirkus sei nun einmal nicht mehr zu entkommen. Um Aufmerksamkeit für seine wohltätige Organisation zu schaffen, dokumentiert Samy jeden seiner Schritte für die Sozialen Medien.

Die Hilflosigkeit der Politik

Thomas von Steinaecker verzichtet darauf, die dystopische Zukunft detailliert auszumalen. Eher denke er die Gegenwart weiter, sagt er. Und dazu gehöre "die soziale Schere, die immer weiter auseinandergeht, der Staat, der dem Ganzen zunehmend hilfloser gegenübersteht". Und das Gefühl, dass Privatinitiativen das einzige sind, was irgendwie im Alltag was hilft. Der Roman lässt einen aufgewühlt und voller Fragen zurück: Wann haben Bastian und seine Freunde eigentlich aufgehört, zu den "Guten" zu gehören? Funktionieren die Maßstäbe für ein gutes, ein erfolgreiches Leben noch in einer Zeit, die von Katastrophen geprägt ist? Und wie ignorant ist es, das eigene kleine Glück beschützen zu wollen, wenn die Welt wortwörtlich in Flammen steht?

Von der "Gated Community" am Münchner Stadtrand führt Bastians Weg über einen Prepper-Kurs bis in die norwegische Einsamkeit. Es bleibt abzuwarten, ob er es auch wieder zu den Menschen zurückschaffen wird.

Thomas von Steinaecker: "Die Privilegierten", Roman, 624 Seiten, S. Fischer, 26,00 Euro

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