Schriftsteller Michael Kleeberg
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"Dämmerung": Michael Kleebergs großartiger Roman

2007 erschien "Karlmann". Diesem Auftaktband über Karlmann "Charly" Renn und seine Nöte folgte 2014 die Fortsetzung "Vaterjahre". Jetzt beschließt Michael Kleeberg seine Trilogie mit dem Roman "Dämmerung". Ein literarischer Triumph.

Über dieses Thema berichtet: Diwan - Das Büchermagazin am .

Mit Michael Kleeberg kann man, um ein Wort aus seinem Roman "Vaterjahre" zu borgen, ein "Tourist der eigenen Erinnerung" werden. Schließlich erzählt er das Leben seines Karlmann "Charly" Renn entlang einschneidender historischer Ereignisse, sodass man das, was Charly währenddessen erlebt, mit der eigenen Wahrnehmung dieser Zäsuren abgleicht und "kräftig mitreminisziert", um eine Formulierung aus dem nun vorliegenden fulminanten Abschluss seiner Karlmann-Trilogie zu verwenden. Doch will er keinesfalls eine "Deutsche Chronik" schreiben.

Ihm sei diese Chronik von rund vierzig Jahren bundesdeutscher Zeitgeschichte vielmehr "einfach mitunterlaufen", sagt er im Gespräch. Ursprünglich sollte die Trilogie eine "Tiefenbohrung in die männliche Psyche" werden. Aber rückblickend müsse er feststellen, dass man nun gleichsam "als Beifang eine Zeitgeschichte unseres Landes und unserer Epoche" vorliegen habe. Und was für eine!

Literatur als Zutagefördern von "Erinnerungssubstanz"

Der Anspruch Kleebergs ist kein geringer. Er will mit seinen Karlmann-Romanen, so heißt es jetzt im dritten Band, eine "Erinnerungssubstanz" schaffen, "die dabei hilft, die Essenz dieser Zeit zu fassen zu bekommen". Der Erzählzeitraum von "Karlmann" (2007) war der 7. Juni 1985, der Tag von Boris Beckers Wimbledon-Sieg, bis zum 30. September 1989: dem Tag, als Hans Dietrich Genscher den DDR-Flüchtlingen in der Prager Botschaft im aufbrandenden Jubel die Ausreise eröffnete – die berühmte Balkon-Szene. Letzteres allerdings beschäftigte Charly weitaus weniger als seine zerbrechende Ehe.

Der Erzählzeitraum von "Vaterjahre" (2014) umfasste eigentlich nur einen Tag – den 11. September 2001, aber es gab zahlreiche Rückblenden, sodass wir uns in den Jahren 1993-2001 befanden – und Charly die Anschläge auf das World Trade Center in New York zwar selbstverständlich im Fernsehen wahrnahm, aber auch dieses Großereignis bildete hier nur die Kulisse: Das Einschläfern des Familienhunds beschäftigte die Hauptfigur seinerzeit gerade mehr. In "Dämmerung" nun bewegt sich der 64-jährige Kleeberg so nah an der Zeitgeschichte wie noch nie. Der Roman spielt 2019 bis 2022, in der Zeit der Corona-Pandemie – hier als "Dornröschenzeit" beschrieben - und der russischen Invasion in die Ukraine.

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"Dämmerung" von Michael Kleeberg

Die wiedergefundene Zeit

Über den Leser hat Marcel Proust einmal im abschließenden Band seiner Recherche geschrieben: "In Wirklichkeit ist jeder Leser, wenn er liest, eigentlich der Leser seiner selbst. Das Werk des Schriftstellers ist lediglich eine Art von optischem Instrument, das der Autor dem Leser reicht, damit er erkennen möge, was er in sich selbst vielleicht sonst nicht hätte sehen können." Genau darin dürfte die Stärke von Michael Kleebergs Karlmann-Renn-Romanen liegen. Wir begleiten ein durchaus repräsentatives Mitglied des deutschen Mittelstands durch sein Leben - und erfahren so viel über uns selbst.

Der einstige Proust-Übersetzer Kleeberg sagt dazu: "Das ist genau das, worum es mir geht. Meine Beschäftigung mit Proust stand ja auch am Anfang dieses ganzen Karlmann-Projekts. Als ich zwei, drei Jahre Proust übersetzt hatte, startete ich dieses Projekt und musste anfangs feststellen, dass es übelstes Proust-Epigonentum war: autobiografisch, ein Künstler findet zu sich selbst auf die schlimmstmögliche Art und Weise."

Die Emanzipation von Proust habe ihre Zeit gebraucht, "was daran liegt, dass Proust eine Sonne ist, deren Planet man sehr schnell wird". Aus dieser Umlaufbahn komme man nur sehr schwer wieder heraus, "weil man sich - vielleicht nicht zu Unrecht - einbildet, eigentlich könne und dürfe man gar nicht anders schreiben". Kleeberg konnte sich schlussendlich "davon losreißen", unter anderem auch dank einer selbstverordneten Kur mit modernen amerikanischen Romanen.

Vor allem die Lektüre von John Updikes Rabbit-Romanen erwies sich dabei als hilfreich. Auf einmal hatte er seine Figur gefunden: den Autohaus-Besitzer und späteren Kautschuk-Importfirma-Geschäftsführer bei der Hamburger Firma "Sieveking & Jessen", Karlmann Renn. Einen Mann, der nicht liest, der nicht ins Theater geht, dem also alle "Kulturallüren" gehörig auf den Keks gehen. Der gelegentlich golft und sich wegen mangelnder Bewegung einen "Fitnessfachwirt" als Personal Trainer nimmt. Und der jetzt in "Dämmerung" in Hamburg seinen 60. Geburtstag feiert.

Mit AfD-Wählern Geburtstag feiern?

Das ist die große Auftaktszene von "Dämmerung". Schon an ihr lässt sich ablesen, wie seismografisch genau Kleeberg arbeitet. In dieser Roman-Ouvertüre geht es unter anderem darum, wie ein Gast der Feier – Hubert, der Mann von Charlys Nichte – den anderen unangenehm auffällt, weil er "bei der AfD" ist. Kleeberg beschreibt nun mit ungeheurem Blick fürs sprechende Detail, wie die anderen Gäste auf diesen Hubert und das, was er sagt, reagieren, wie sie ihn meiden und sich in ihrem "moralischen Erbeben" gefallen. Nur Charly kommentiert die Aufregung mit den denkbar sarkastischen Worten: "Ich lade die Leute doch nicht danach ein, ob sie mir ihren Ariernachweis präsentieren können."

Kurzum: Auch wenn er die politischen Ansichten von Hubert überhaupt nicht teilt, hat er etwas gegen dessen automatische Ächtung und Isolation. Voilà, wir sind mittendrin in den Debatten unserer Tage. Die Szene ist übrigens auch äußerst komisch, weil Charlys Schwester Erika den "Nazi" Hubert irgendwann eiskalt bloßstellt, indem sie ihn laut fragt: "Hast du heute Abend schon gesagt, dass wir ein Muschivolk sind? So drückst du es doch aus: Wir sind zu einem Muschivolk geworden, das sich nicht mehr wehren kann und will ...?"

Ein alter Opportunist als Hauptfigur

Kleeberg selbst sieht Charly als "alten Opportunisten" an. Allzu viel Haltung wird man von ihm in politischen Fragen ebenso wenig wie in Liebesangelegenheiten erwarten dürfen, dafür ist zittert die Nadel seines "ethischen Kompasses" zu sehr. In irgendein Korsett will er sich schon gar nicht pressen lassen. Unser "moralischer Halteapparat", der "moralische Stützapparat" drohe mit der Zeit "auszuleiern", heißt es im Roman. Er sei zwar ein "ehrlicher Geschäftsmann" und eine "treue Seele", aber gerade "da, wo die Moralität nicht immer durchzuhalten" sei, habe er seine Schwachpunkte: "Das betrifft bei Charly unter anderem Fragen der Liebe und Beziehung. Da ist er, glaube ich, alles andere als exemplarisch." In der Tat: Er nummeriert die Frauen, die er nach der gescheiterten Ehe mit Heike hat, durch und kreiert einen ganz eigenen ph-Wert: "ph1-5" (pH für "post Heike"). Ein misogyner alter Sack also? So einfach ist es nicht.

Das Altern es bringt mit sich, dass in erotischer Hinsicht eh eine Temperierung eintritt. Vor jedwedem Gefühlsüberschwang bewahrt Charly mittlerweile das, was er die "Regulierung des Herzens" nennt – eine von vielen treffenden Formulierungen, die Kleeberg zu wahrhaft Proustschen essayistisch-ironischen Exkursen verleiten.

Auch Thomas Gottschalk kommt vor

Eine Herausforderung nimmt Charly Renn, der nach mehr als 25 Jahren als kaufmännischer Geschäftsführer von der altehrwürdigen Hamburger Kautschukfirma "Sieveking & Jessen" vor die Tür gesetzt wird, noch an: die Leitung einer fiktiven und ebenso altehrwürdigen Kulturinstitution, des Lessinghauses, das er aufmöbeln und dem er wieder Aufmerksamkeit verschaffen soll. Weil Karlmann Renn ein Macher-Typ ist, nimmt er das Angebot des Hamburger Senats an, die Amts-Nachfolge seines soeben zu Grabe getragenen Vaters Karl Renn anzutreten, der seinerseits jenes Lessinghaus lange geleitet hatte.

Charly gelingt es, ebenso schnell Gelder zu akquirieren wie sich Feinde zu machen. Er organisiert eine Spendengala für die von Russland überfallene Ukraine – und erlebt in derselben Nacht noch seine Nemesis, woran seine aus der Zeit gefallenen Flirttechniken einen gehörigen Anteil haben. Wie ohnehin dieser Roman auf sehr präzise Art und Weise von einem erzählt, der langsam, aber sicher aus der Zeit fällt. Der anders kommuniziert als seine Kinder es tun, der die Wirkmacht dessen unterschätzt, was für ihn nur "Social-Media-Quatsch" ist. Er hadert - ganz alter weißer Mann - mit der neuen Sprache, "die binnen zweier Generationen abgerüstet hat bis zum Kindisch-Diminutiven". Er nippt nur noch an dem, was an einer Stelle von "Vaterjahre" mal "der Wein des Heute" genannt wurde. Mit anderen Worten: Er lebt auch gedanklich eher im Gestern. Er muss googeln, was sich hinter der Abkürzung SGL verbirgt (der Rezensent gibt unumwunden zu, dass er auch nicht wusste, dass es für "Same Gender Loving" steht).

Charly verkörpert idealtypisch jene "Männerdämmerung", die Frank Schirrmacher bereits 2003 heraufziehen sah. Es ist kein Zufall, dass in der namenlosen Figur des Hamburger Benefiz-Gala-Moderators unschwer Thomas Gottschalk zu erkennen ist, der als "menschenfreundlicher Zauberer" und Fernsehstar mit seinem "lausbübischen Charme" die wohlhabenden Gäste dazu bringt, das Portemonnaie zu zücken. En passant setzt Michael Kleeberg so auch Thomas Gottschalk ein kleines Denkmal.

Michael Kleeberg: "Dämmerung". Roman. 478 Seiten. Penguin. 26 Euro