Aktenordner vor einer bedrohlichen Kulisse
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Die Zerstörung der Bürokratie - Possoch klärt!

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Bürokratie-Wahnsinn: Eine Gefahr für die Demokratie?

Kaum eine Branche, die nicht unter Bürokratie ächzt. Es seien zu viele Regeln und Verordnungen, ist oft zu hören. Wissenschaftler sprechen von einem "Kipppunkt": Ändert sich nichts, würden die Probleme größer. Das könne die Demokratie gefährden.

Ein Windrad, das von der Planung bis zur Inbetriebnahme bis zu sieben Jahre dauert. Ein Bäckermeister, der 40 Prozent seiner Arbeitszeit mit der Erfüllung von Auflagen beschäftigt ist. Ein Milchkaffee, für den je nach enthaltener Milchmenge entweder 7 oder 19 Prozent Mehrwertsteuer fällig werden. Nur drei Beispiele dafür, welches Ausmaß Bürokratie in Deutschland erreicht hat.

Es gibt kaum etwas, das nicht reguliert ist, für das es keine Ge- oder Verbote gibt. Und es werden immer mehr. Coronakrise, Energiekrise, Klimakrise – neue Problemlagen erfordern neue Regeln. Das sei der Zweck von Politik, sagt der Wirtschaftswissenschaftler Thomas Meuche im neuen Video von "Possoch klärt" (oben, Link unten): "Die Politik erzeugt nur ein Ergebnis, und das sind Gesetze." Meuche, der an der Hochschule Hof das Kompetenzzentrum Digitale Verwaltung leitet, spricht von einem "sich selbst fütternden System, das dazu führt, dass wir immer mehr Regelungen haben."

Bürokratie verursacht jährlich Kosten in Milliardenhöhe

23,7 Milliarden Euro hat es die Bürgerinnen und Bürger, die Wirtschaft und die Verwaltung im Jahr 2023 gekostet, bundesrechtliche Vorschriften zu befolgen. Zu diesem "Erfüllungsaufwand" zählen beispielsweise Dokumentations- und Meldepflichten, Kennzeichnungspflichten oder die Mitwirkung bei Kontrollen. Die Summe nennt der Normenkontrollrat (NKR) in seinem Jahresbericht (externer Link). Der NKR ist ein Gremium, das Bürokratiekosten prüft und die Bundesregierung berät.

Dessen stellvertretende Vorsitzende, die Professorin für Politikwissenschaft, Verwaltung und Organisation an der Universität Potsdam Sabine Kuhlmann, zieht den Vergleich mit anderen Ländern, wie den skandinavischen Staaten und Großbritannien: "Dort ist die Tendenz gar nicht so vorhanden, dass sie alles in rechtliche Kodifizierung gießen müssen, sondern da lässt man auch mal Spielräume. In Großbritannien ist es so, dass man doch eher auch pragmatisch handelt nach Grundsätzen von Fairness und von Problemlösung. Die haben da eine andere Kultur."

Im Video: Ginge es uns ohne Bürokratie besser? Possoch klärt!

Bürokratie als Teil der deutschen Mentalität

Christoph Knill ist Professor für empirische Theorien der Politik an der LMU München; Bürokratie ist eines seiner zentralen Forschungsfelder. Knill spricht von einer "gewissen Schizophrenie" bei uns Deutschen: "Einerseits hassen wir die Regeln, auf der anderen Seite ist wahrscheinlich jede und jeder von uns in starkem Maße auch dran interessiert, uns auf Regeln zu berufen, sobald es um unsere eigenen Belange geht."

Und trotzdem: Bürokratieabbau ist das Gebot der Stunde. Vergangene Woche hat die Bundesregierung das Vierte Bürokratieentlastungsgesetz auf den Weg gebracht. Es sieht unter anderem vor: Abschaffung der Meldepflicht für deutsche Bundesbürger in Hotels, kürzere Aufbewahrungsfristen – acht statt zehn Jahre - für Unternehmen, Fluglinien soll es erlaubt werden, Reisedokumente auch digital auszulesen. Ein "Konjunkturpaket zum Nulltarif", nennt das der zuständige Minister Marco Buschmann (FDP).

"Dieser Bürokratieabbau, auch die ganze politische Diskussion darüber, das sind alles Blendgranaten. Das ist bestenfalls ein Tropfen auf dem heißen Stein, weil wir eigentlich eine Strukturreform bräuchten." (Christoph Knill, Politikwissenschaftler)

Was nötig wäre: Strukturreform statt neuer (Bürokratieentlastungs-)Gesetze

Auch Thomas Meuche von der Hochschule Hof sagt, es brauche eine andere Struktur der Verwaltung. Mehr Durchlässigkeit etwa zwischen den einzelnen Sachbereichen, aber auch anderes Personal. Er spricht von einer anderen Kultur in der Verwaltung, eine, "die nicht rein juristisch geprägt ist. Gute Juristinnen und Juristen sind natürlich darauf aus, Risiken zu minimieren. Wir brauchen Leute, die einfach anders denken, also einfach mal ohne Scheuklappen durchgehen und kritische Fragen stellen können. Das ist das, was fehlt."

Was fehlt, ist aber auch Personal an sich. Gesetze, die der Bund erlässt, müssen von den Verwaltungen der Länder und Kommunen umgesetzt werden. Aber auch Länder und Kommunen sind angehalten zu sparen. Das sei dann, sagt Politikwissenschaftler Knill, in den unteren Verwaltungsbehörden der Fall. Die hätten aber ohnehin schon - auch wegen des demografischen Wandels und der damit einhergehenden Nachwuchssorgen - mit Engpässen zu kämpfen hätten, bei gleichzeitig steigender Aufgabenlast. Knill sagt: "Den Bund interessiert letztlich nicht sonderlich, wenn er neue Regeln macht, wie die Länderverwaltungen damit klarkommen."

"Verwaltungs-Triage" und mangelnde Digitalisierung

Die Verwaltungen könnten aber nicht alles auf einmal machen, sie müssten priorisieren, sagt Knill. Das führe zu einer "Verwaltungs-Triage". Der Begriff Triage ist vor allem aus der Medizin bekannt: Er benennt, wenn nicht alle gleichzeitig versorgt werden können, sondern nur die schlimmsten Notfälle; der Rest muss warten.

All das führt dazu, dass Verfahren in Deutschland sehr lang dauern. Das bekommt jede und jeder zu spüren, der mit Behörden zu tun hat und mit Anliegen, die nicht digital erledigt werden können. Denn auch das ist Teil des Problems: Bei der Digitalisierung in den Behörden hinkt Deutschland hinterher. Von gut 580 Behörden-Dienstleistungen können Bürgerinnen und Bürger bundesweit nur 81 komplett online nutzen (externer Inhalt). Im internationalen Vergleich ist Deutschland damit im hinteren Bereich des Rankings.

Symbolpolitik und mangelndes Vertrauen: Gefahr für die Demokratie

Man sei in Sachen Bürokratie an einem Kipp-Punkt angelangt, sagt Christoph Knill. Gehe es so weiter wie bisher, "dann landen wir an einem Punkt, wo das System noch viel größere Probleme bekommt, als wir sie aktuell haben." Eine Folge wäre mehr Symbolpolitik, sagt Knill. Politik würde immer unglaubwürdiger, weil die Maßnahmen, die verabschiedet würden, nicht mehr richtig angewendet werden könnten. Das stelle letztendlich die Legitimation von Demokratien infrage.

Thomas Meuche skizziert das ähnlich:

"Wenn die Bürgerinnen und Bürger den Eindruck haben, dass der Staat nicht mehr handlungsfähig ist - und das passiert jetzt immer mehr, weil Verfahren zu lang dauern, weil keine Entscheidungen getroffen werden - dann ist unsere Demokratie gefährdet." Thomas Meuche, Verwaltungswissenschaftler

Dass wir ohne Bürokratie ins Chaos stürzten – diese Gefahr sieht Sabine Kuhlmann vom Normenkontrollrat für Deutschland nur als "abstrakte These" – vor allem, wenn man etwa in Richtung Entwicklungsländer blicke: "Da würde ich schon sagen, wenn da nicht eine funktionierende Bürokratie ist, dann landet man im Chaos und hat man Korruption, dann hat man keine funktionierende Verwaltung und so weiter. Dann hat man wirklich Willkür. In Deutschland sehe ich das nicht."

Christoph Knill betont, dass nicht alles an Bürokratie schlecht sei. Als Beispiel nennt er umweltpolitische Regeln, die es in den 1950er Jahren so noch nicht gegeben habe: "Wir haben durch diese Regeln saubere Flüsse, wir haben eine bessere Luftqualität. Wir haben weniger Smog in den Städten und so weiter und so fort. Unser Leben ist in vielerlei Hinsicht auch besser geworden."

Dieser Artikel ist erstmals am 22. März 2024 auf BR24 erschienen. Das Thema ist weiterhin aktuell. Daher haben wir diesen Artikel erneut publiziert.

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