Martin Walser ist im Alter von 96 Jahren gestorben
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Martin Walser im Jahr 2016

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Martin Walser - Jahrhundertschriftsteller und Unruhestifter

Seine Roman-Helden hadern mit dem Leben und scheitern an den eigenen Ansprüchen. Martin Walser sorgte mit seinen Büchern und mit umstrittenen Wortmeldungen für Aufsehen, manchmal sogar für Skandale. Jetzt ist er im Alter von 96 Jahren gestorben.

"Ich schreibe Romane, und das sind immer auch auf gewisse Weise Selbstporträts", sagte der greise Martin Walser 2018 in einem Interview. Gemessen daran machte er es sich in seinem Leben nie leicht, denn er schrieb unablässig über gescheiterte Menschen.

Schon in seinem ersten großen Erfolgsroman, der Satire "Ehen in Philippsburg" (1957), lernt die Hauptfigur, der Außenseiter Hans Beumann, sich in einer fiktiven Großstadt der gehobenen Gesellschaft anzupassen und das bedeutet: ihrer Doppelmoral nachzugeben, Ideale zu verraten, Affären zu verheimlichen und die Fassade aufrecht zuhalten. Das Buch war ein treffendes Sittengemälde der 1950er-Jahre in Stuttgart, wurde prompt mit dem Hermann-Hesse-Preis ausgezeichnet und so erfolgreich, dass Walser fortan als freier Schriftsteller leben konnte.

"Kein Mensch will mit sechzehn in eine Partei"

Zuvor hatte der 1927 in Wasserburg am Bodensee geborene Autor als festangestellter Redakteur für den Süddeutschen Rundfunk (SDR) gearbeitet, wo er nach dem Krieg als Reporter begonnen hatte. Die Arbeit ließ ihm genug Freiraum für eine Doktorarbeit über Franz Kafka ("Beschreibung einer Form. Versuch über die epische Dichtung", 1952).

Vor allem jedoch war Walser damals Fernseh-Pionier und kümmerte sich um das Hörspiel. Seit 1953 besuchte er die Tagungen der berühmten "Gruppe 47", wo sich die Nachkriegs-Elite der deutschen Literaturszene traf. Seine Erzählung "Templones Ende" wurde von den hochkarätigen Kollegen sogar ausgezeichnet. Darin verzweifelt der titelgebende Villenbesitzer in Bernau bei Berlin über seinen gesellschaftlichen Abstieg und flüchtet sich in wilde Verschwörungstheorien.

Wie auch sein Generationskollege Günter Grass (ebenfalls Jahrgang 1927) musste sich Walser sehr verspätet mit seiner angeblichen Verstrickung in den Nationalsozialismus befassen: Aus der Zentralkartei der NSDAP tauchten Unterlagen auf, wonach der Flakhelfer und Arbeitsdienst-Mann Walser am 30. Januar 1944 einen Aufnahmeantrag gestellt haben sollte.

Zum "Geburtstag des Führers" am 20. April des Jahres soll er mit der Mitgliedsnummer 9742136 in die Ortsgruppe Wasserburg/Bodensee aufgenommen worden sein. Dazu sagte Walser 2007, er habe weder einen Aufnahmeantrag gestellt noch je ein Mitgliedsbuch erhalten oder an einer Aufnahmefeier der NSDAP teilgenommen." Am 30. Januar 1944 soll ich die Aufnahme beantragt haben. Ich weiß nicht, wo ich am 30. Januar 1944 war, ich war sechzehn. Kein Mensch will mit sechzehn in eine Partei."

Im Video: Trauer um Schriftsteller Martin Walser

Der Autor in der kalten Jahreszeit mit Mantel, Schal und schwarzem Hut
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Flaneur: Walser mit Hut

"Ich könnte jeden Tag geschrieben haben, außer als ich im Krankenhaus lag. Schreiben ist nicht der Entschluss, etwas zu tun, sondern Lebensart. Basta", antwortete Walser dem österreichischen Nachrichtenmagazin "Profil" auf die Frage, ob es nicht doch ein Datum gebe, an dem er "kein Wort geschrieben" habe.

Dabei erwiesen sich seine allerersten Schreibübungen nach seiner eigenen Erinnerung als Flop: "Wenn man bereits als Kind süchtig zu lesen beginnt, ist nichts natürlicher, als selbst schreiben zu wollen. Ist man jung entflammt, ist es völlig stimmig, Gedichte zu schreiben. Meine erste, völlig wertlose Liebeslyrik bekam ich von der von mir Bedichteten kommentarlos zurück. Ich wusste nicht, wie ich das verstehen sollte. Ich habe nie nachgefragt."

Spätwerk wurde als "Busenschlamassel" verrissen

Angespornt von keinem Geringeren als der Verleger-Legende Peter Suhrkamp (1891 - 1959), erwies sich das literarische Leben Walsers als äußerst fruchtbar. Er legte über sechzig Romane und Erzählungen vor und gestand, dass seine Erinnerungen an nichts so deutlich geblieben seien wie an die ersten Sätze all dieser Werke, die verschiedentlich für muntere Literaturdebatten sorgten.

Noch für sein Alterswerk "Gar alles oder Briefe an eine unbekannte Geliebte" (2018) wurde er wegen der – nach Meinung von Kritikern – dort zelebrierten "Altmänner-Erotik" gescholten. Dieses böse Urteil traf auch einige andere Titel, angefangen von "Angstblüte" (2006), wo ein alternder Investmentbanker einer jungen Frau verfällt. Der Spiegel ätzte von "Walsers Busenschlamassel", Elke Heidenreich schimpfte, es handle sich um "ekelhafte Altmännerliteratur".

Auf die Frage, warum er so viele Bücher geschrieben habe, gab sich Walser verblüffend lakonisch: "Ich bin nicht rechtzeitig gestorben." Womöglich hatte er sich rein literarisch wirklich um Jahrzehnte "überlebt". In den wild bewegten Sechzigern zählte er jedenfalls zu den jungen Wilden, machte Wahlkampf für Willy Brandt, engagierte sich gegen den Vietnamkrieg, galt als Sympathisant der DKP und war ein guter Bekannter des damaligen neomarxistischen Mode-Großdenkers Ernst Bloch. In einer Rezension der Festschrift der Deutschen Bank zum 100. Geburtstag für den Spiegel rechnete Walser 1970 nicht immer ganz faktensicher mit den NS-Belastungen des Geldinstituts ab.

"Ein fliehendes Pferd": Abgesang auf Utopien

Die Novelle "Ein fliehendes Pferd" (1978), in der zwei Ehepaare aufeinandertreffen und ihre Lebensentwürfe vergleichen – die einen introvertiert und zurückgezogen, die anderen sexuell ausschweifend und lebensgierig – wurde zum Millionen-Erfolg. Ein Gleichnis auf die Ernüchterung der Siebziger, in denen sich die heiß diskutierten Utopien des vorangegangenen Jahrzehnts erledigt hatten.

Geradezu beklemmend deprimierend ist dann die Atmosphäre im Roman "Das Schwanenhaus" (1982), wo sich ein mäßig erfolgreicher Immobilien-Makler damit abplagt, sich als Dichter zu verstehen, dafür aber viel zu infantil und sensibel ist. Prompt fällt die titelgebende Jugendstilvilla der Abrissbirne zum Opfer.

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Zwei Titanen: Walser und Marcel Reich-Ranicki

2002 sorgte Walser mit dem Roman "Tod eines Kritikers" für jede Menge (negativer) Furore, weil er sehr drastisch mit dem Literaturpapst Marcel Reich-Ranicki abgerechnet hatte und deshalb als Antisemit gescholten wurde. Der Angegriffene selbst beteuerte zwar, er halte Walser nicht für einen Judenhasser, aber es sei dem Autor offenkundig wichtig, darauf hinzuweisen, dass "der Kritiker, der ihn am meisten gequält" habe, "auch noch Jude ist".

Kritiker warfen ihm 1998 "geistige Brandstiftung" vor

Der Streit war für Walser auch deshalb von erheblicher Brisanz, weil er 1998 bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels vor einer "Instrumentalisierung des Holocaust" gewarnt und sich damit höchst angreifbar gemacht hatte: "Anstatt dankbar zu sein für die unaufhörliche Präsentation unserer Schande, fange ich an wegzuschauen. Ich möchte verstehen, warum in diesem Jahrzehnt die Vergangenheit präsentiert wird wie nie zuvor. Wenn ich merke, dass sich in mir etwas dagegen wehrt, versuche ich, die Vorhaltung unserer Schande auf die Motive hin abzuhören, und bin fast froh, wenn ich glaube, entdecken zu können, dass öfter nicht das Gedenken, das Nichtvergessendürfen das Motiv ist, sondern die Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken."

Diese zumindest missverständliche Rede war von Kritikern als "geistige Brandstiftung" bezeichnet worden. "Niemand stellte sich die Frage, weshalb ich mir in meinen Reden und Büchern scheinbar widerspreche. Ich will immer nach meinen Romanen verstanden werden, nie nach meinen Reden. Das ist mir nicht gelungen", so Walser im Rückblick zu dem Skandal, den er als "ekelhaft" bezeichnete.

"Habe nichts dagegen, bekannt zu sein"

Ohne Zweifel zählte Walser neben und mit Günter Grass und Siegfried Lenz zu den ganz großen und prägenden Nachkriegsautoren. Obwohl das Thema der allermeisten seiner Bücher der Rückzug in die Innerlichkeit und die Resignation sind, und er kein politischer Schriftsteller im engeren Sinne war, wirkte er doch maßgeblich auf den Zeitgeist. Walser war eine literarische Autorität ersten Ranges, vielfach persönlich betroffen von den Abgründen der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts.

Nach eigener Aussage genoss Walser einen guten Wein stets mehr als seinen "Ruhm": "Es war mir auch immer ein bisschen peinlich, wenn ich beim Zugfahren erkannt wurde. Wenn mir jetzt jemand aus dem Zug hilft, dann nur deshalb, weil ich alt und gebrechlich geworden bin, nicht weil man mich kennt. Natürlich habe ich nichts dagegen, bekannt zu sein. Das wäre ja auch lächerlich."

Und obwohl er sich mit der Vergänglichkeit ausführlich beschäftigte ("Ein sterbender Mann", 2016) beharrte Walser darauf, nie etwas über den endgültigen Abschied verfasst zu haben: "Ich fürchte, dass man das Sterben nicht lernen kann. Wenn ich schmerzfrei erwache, bin ich meinem Tod nicht näher als vor dreißig Jahren. Ich rede und schreibe nur aus Erfahrung. Vom Sterben spreche ich deshalb nicht."

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