Kunsthallen-Direktor Roger Diederen ist völlig klar, dass er dem deutschen Publikum mit Ignacio Zuloaga einen völlig Unbekannten präsentiert. Klar, man könne die hunderttausendste Monet-Ausstellung machen, sagt er – oder eben mal was zeigen, was das Publikum noch nicht so vor Augen hat. Dabei war Zuloaga einer der einflussreichsten und bildstärksten Maler seiner Generation, mit vielen internationalen Ausstellungen von Russland über Berlin bis New York. Und er nimmt in der Kunstgeschichte eine klare Rolle ein: Ignacio Zuloaga ist einer der großen Mythenbilder seiner Nation.
Sommer, Sonne, Sangría? Völlig falsch!
Wer jetzt an Sommer, Sonne und Sangría denkt, liegt voll daneben. Zuloaga glorifiziert Spanien nicht. Sein Sujet ist die einfache Gesellschaft: Bauern und Tänzerinnen, Bucklige und Kleinwüchsige, kartenspielende Frauen und betende Pilger, Dorfbürgermeister, Volksdichter. "Diese Bildsprache, extrem expressive Gesichter, die unglaubliche Würde des Hässlichen, der unkonventionellen Schönheit – das ist es, was diese Bilder für mich extrem stark macht", sagt Diederen.
Zuloaga, der Spanienmaler. Dabei lebt er viele Jahre in Frankreich, seine Frau ist Französin, er ist eng mit Rodin befreundet, teilt sich ein Atelier mit Gauguin. Doch irgendwann kehrt er der feinen Pariser Kunstwelt den Rücken zu, zieht nach Sevilla und lebt dort mit den Gitanos, wie sich die Roma in Südspanien nennen. Zuloaga malt Stierkämpfer, Flamenco-Tänzerinnen und Prostituierte, mit aufforderndem Blick und Gesichtern, die vom Morphium-Konsum zeugen.
Das "schwarze Spanien"
Auch religiöse Kunst malt er: die Prozessionsteilnehmer rund um ein hyperrealistisch geschnitztes Kruzifix, blutüberströmt und mit Perücke unter der Dornenkrone, eine Figur, wie sie an Ostern heute noch durch die Straßen Südspaniens getragen werden. Zuloaga geht es um die Traditionen seines Landes, maltechnisch orientiert er sich an spanischen Vorbildern, an Velázquez, Ribera, El Greco und Goya.
"Man muss wissen, dass Spanien 1898 Krieg führt gegen die USA und die letzten Kolonien verliert, das ist das Ende der Handelsmacht," erklärt Roger Diederen. Zuloaga malt eine Nation im Umbruch, auf der Suche nach sich selbst. Und dieses Selbst sieht er nicht in pittoresken, fröhlich-folkloristischen, sonnigen Strandbildern wie sein Kollege und Gegenspieler Joaquín Sorolla – dem die Kunsthalle 2016 eine große Schau gewidmet hatte. Zuloaga malt stattdessen das schwarze Spanien, "la España negra", und zwar wortwörtlich: Immer wieder verdunkeln grauschwarze Schlieren den Himmel, keine Wolken, sondern symbolisch zu verstehen.
Und doch meint man eine Art Volksseele zu erkennen
Es sind düstere Bilder, herb, voller symbolistischer Andeutungen, nicht jeder wird das mögen. "Es gab viel Kritik auch von Spanien, dass er das Land in schlechtem Licht darstellt, dass alles so negativ ist", sagt Diederen. "Andere haben ihn gefeiert. Er war wirklich stolz auf sein Land, er macht das nicht als Kritik, er sagt: Das ist, wer wir sind!"
Wir sind das letzte Land der Kunst auf der Welt, mit unseren Dörfern, unseren Trachten, unserem Stierkampf, unseren jahrhundertealten Riten, unseren Prozessionen, unseren Bräuchen. Bei uns lebt und vibriert die Vergangenheit noch, während anderswo nichts von ihr übriggeblieben ist. (Ignacio Zuloaga)
Sein Auto malt er wohlweislich nicht
Natürlich ist das alles eine inszenierte Authentizität und Zuloaga bedient die Sehnsüchte des ausländischen Publikums nach Romantik und Exotik. Das Auto, mit dem Zuloaga Kastilien bereist hat, hat er wohlweislich nicht gemalt. Und doch meint man tatsächlich eine Art Volksseele in den Bildern zu erkennen, die sich in Bräuchen spiegelt.
Eines der besten Bilder ist "Das Opfer der Fiesta" (Artikelbild): Ein Picador in seiner bestickten Kurzjacke mit der Lanze in der Hand auf einem Pferd. In der Ferne Dörfer und Felder, Kirchturm, Friedhof und die Stierkampfarena. Das Pferd ist ein wahrer Klappergaul, völlig unterernährt, alt, schmutzig und blutverschmiert. Aber der Picador sitzt obendrauf: alt und krumm und mit glasigem Blick. Nicht gerade stolz. Aber doch irgendwie zufrieden.
"Mythos Spanien. Ignacio Zuloaga (1870–1945)": Bis 4. Februar 2024 in der Kunsthalle München.
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