Auf einem Schwarz-Weiß-Foto sieht man eine Frau, die mit ihrer Hand eine andere Hand berührt, die ins Bild ragt.
Bildrechte: Ralph Gibson

Ralph Gibson, aus der Serie "The Somnambulist", 1970

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"Raus ins Helle": Fotograf Ralph Gibson fasziniert in München

Er gilt als einer der interessantesten US-Künstler seines Fachs: Ralph Gibson, mittlerweile 84 Jahre alt, hat sich nie für die fotografische Dokumentation der Realität interessiert, er begreift vielmehr die Fotografie selbst als ästhetische Realität.

Über dieses Thema berichtet: kulturWelt am .

"Seit ich ein kleiner Junge war, bin ich sehr tropistisch", erzählt Ralph Gibson im Interview, "wenn du eine Pflanze neben ein Fenster stellst, wird sie in Richtung Fenster wachsen, sie wird vom Licht angezogen. Und so bin ich: Ich sitze immer neben dem Fenster und versuche raus ins Helle zu kommen." Man sieht ihm seinen Tropismus, also den mit Pflanzen vergleichbaren Drang zum Licht, sogar an: Braungebrannt ist Ralph Gibson, mit strahlend himmelblauen Augen. Neben sich auf der Bank: seine Leica. Die hat er auch mit 84 Jahren immer dabei. Fotograf sein ist für ihn keine Berufung, sondern eine Identität: "Ich war 17 und wusste genau, was ich mit meinem Leben machen wollte. Ich war in der US-Navy und überquerte den Atlantik, Richtung Europa und es gab einen Sturm, es war Nacht, es regnete Eis und ich schrie dem Himmel entgegen: Ich werde ein Fotograf sein!"

Faszinierende Fotos von Schlafwandlern

Und das wurde er: Fast 300 seiner Fotos zeigt die Bayerische Versicherungskammer, jedes einzelne ein exzellentes Bild, darunter Dutzende Meisterwerke. Die Tür aus der frühen Serie "Somnambulist – Schlafwandler": Man sieht gerade noch die Hand des Mannes, der die Tür geöffnet hat und nun in dem Raum dahinter stehen muss, mitten im Licht, das von dort in den Flur fällt und einen fast schon surreal scharfen Schatten der Männerhand an die Wand wirft. "Secret of Light" heißt die Ausstellung, denn Ralph Gibsons Bilder erzählen vom Licht.

"Licht ist nicht absolut, es kommt darauf an, was man damit macht. Ich liebe starke Kontraste, etwa, wie das Licht eine scharfe Kante definiert oder wie es als Schatten ganz neue Formen kreiert." Von allen Fotografen seiner Generation hat Ralph Gibson wohl das breiteste Motiv-Spektrum, er fotografiert alles: Frauenkörper und Wolken, Wassergläser und Hauswände. Ein Auto in der Landschaft in der Mittagssonne: Der Schatten fällt genau unter den Wagen, als würde er auf einem Podest stehen. Der Hals eines schwarz-weiß gescheckten Pferdes bzw. jener Streifen, auf dem ein Farbwechsel passiert und dunkle Haare auf den hellen liegen.

Um was geht es beim Fotografieren?

Gibson ist ein Formalist: Perspektive, Fokus, Tonalität, Brennpunkt und Helligkeiten sind penibel gewählt, und doch geht es nicht darum, wie etwas fotografiert wird, sondern was. Paare beim Tanzen: Schultern, Nacken, Haaransätze und Ohren, man sieht nur ein einziges Gesicht im Profil, aber die Hände von vier Personen, wie sie auf den Körpern ihrer Partner liegen. Eine gewöhnliche Tanzstunde wird zum Inbegriff von Körperlichkeit, Berührung, Intimität, zur Idee, was Tanz eigentlich ist. Gibson fotografiert keine Ereignisse, ihm geht es um den Vorgang der Wahrnehmung: "Ursprünglich ging es beim Fotografieren um Ereignisse: Jemand schlägt einen Baseball oder springt über eine Pfütze. Für mich ist das eigentliche Ereignis, dass ich hier sitze und auf die Kante dieser Bank schaue und denke, da könnte ich ein Foto von machen."

Die Kunst der Wahrnehmung

Ralph Gibson ist ein Denker, ein Bild-Philosoph, der sich immer wieder neue Sphären des Sehens erschließt. Viele Jahre hat er in Schwarzweiß fotografiert, später auch in Farbe und digital. Er hat alles ausprobiert, hat sich nie wiederholt: "Als ich 1970 solchen Erfolg hatte mit der Reihe Somnambulist, habe ich mir gesagt, ich werde sicher nicht Der Sohn des Schlafwandlers oder Schlafwandler 2 machen. Ich wollte versuchen, weiterzuwachsen. Das ist der Unterschied zwischen der Arbeit als Künstler und als Versicherungskaufmann: Am Ende deines Lebens bist du ein anderer als am Anfang."

Man kann Gibsons Fotos eine Ewigkeit anschauen. Es sind Bilder, die sich nie auserzählen, in denen man auch nach Jahren noch neue Bezüge, Schichten, Ideen entdeckt, Fotos, die nachklingen.

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