Uniformierter macht mit seinen Händen ein Herz-Zeichen
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"Wagner"-Söldner in Rostow am Don

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Für Putin ist es Verrat: So diskutiert Russland über "Dolchstoß"

Präsident Putin fühlt sich an die Oktoberrevolution erinnert und kündigt "harte" Maßnahmen an: Nach der Rebellion von Söldnerführer Prigoschin ist das Entsetzen bei den Bloggern groß, auch die Unsicherheit: "Sieht so aus, als wackelt der Stuhl."

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

"Macht, die sich nicht wie Macht verhält, hört auf, Macht zu sein", klagte der russische Ultrapatriot Igor Strelkow über den von ihm diagnostizierten Autoritätsverlust des Kremls. Für den Fall, dass die Rebellion von Söldnerführer Jewgeni Prigoschin erfolgreich ist, sagte der Blogger mit 840.000 Fans einen Aufstand in Tschetschenien voraus, den Zusammenbruch der Front, den Zerfall Russlands und eine "kurze, aber sehr schmutzige und blutige Zeit" wie in einer lateinamerikanischen Diktatur "ohne Regeln und Gesetze". Prigoschins Treiben sei "eindeutig zu früh" gekommen, weil die Front noch nicht aufgeweicht sei. Es handle sich demnach um einen klassischen "Dolchstoß".

"Sieg wurde uns gestohlen"

Dieser Meinung ist offenbar auch Präsident Wladimir Putin, der bei einem morgendlichen TV-Auftritt von "Verrat" sprach und einräumte, dass Prigoschins Leute Rostow am Don und wohl auch das benachbarte Woronesch besetzt halten: "Wir werden nicht zulassen, dass sich der Bürgerkrieg wiederholt, wir werden unser Volk und unsere Staatlichkeit schützen." Putin kündigte "harte Maßnahmen" an und warf Prigoschin nichts weniger vor, als vom "rechten Glauben" abgefallen zu sein: "Alle, die sich bewusst auf den Weg des Verrats begeben haben, werden unvermeidlich bestraft und müssen sich vor dem Gesetz und vor unserem Volk verantworten. Die Streitkräfte und andere Stellen erhielten entsprechende Befehle."

Es spricht für sich, dass Putin die Oktoberrevolution erwähnte: "Es war ein solcher Schlag, der Russland 1917 zugefügt wurde, als das Land am Ersten Weltkrieg beteiligt war. Doch der Sieg wurde uns gestohlen. Intrigen, Streitereien, Politik hinter dem Rücken der Armee und des Volkes führten zum größten Schock, zur Zerstörung der Armee und zum Zusammenbruch des Staates, zum Verlust riesiger Gebiete. Folge war die Tragödie des Bürgerkriegs."

Einer der gut informierten russischen Militärblogger wollte erfahren haben, dass auf einem der Flugplätze nur noch Hubschrauber abheben, wenn als "Aufpasser" ein Wagner-Söldner mit an Bord ist - damit die Maschinen nicht etwa in die "falsche Richtung" fliegen. Es würde illustrieren, wie sehr die Macht der Armeeführung derzeit bröckelt.

"Katastrophe des Systems"

Eines der größten Telegram-Portale, Rybar, sieht "allgemeine Panik und Verwirrung in den Büros" der Regierung und verweist auf Bemühungen, das Netz unter Kontrolle zu bekommen, sogar von einem "Medienselbstmord" war die Rede. Prigoschin sei nur zu stoppen, wenn Russland das gesamte Internet runterfahre. "Wenn das Einzige, was gut verwaltet wird, eine kleine Privatarmee ist, ist das Ergebnis das, was wir erleben", analysierte ein Blogger: "Eine sehr treffende Beschreibung: Es ist keine Managementkrise, sondern eine Katastrophe des Managementsystems."

Zu den Optionen von Prigoschin nach Putins Auftritt war zu lesen: "Der Oberbefehlshaber verurteilte sein Vorgehen öffentlich. Namentlich nennt er die 'Organisatoren der Rebellion' allerdings noch nicht. Es gibt immer noch Rückzugsmöglichkeiten. Theoretisch sollte Prigoschin jetzt seine Waffen niederlegen. Aber seinem Charakter nach zu urteilen, kann er davon überzeugt sein, dass der 'Präsident getäuscht wurde' und versuchen, in den Kreml zu gelangen, um ihm 'persönlich alles zu erzählen'."

"Nicht wenige in der Elite unterstützen Prigoschin"

Der kremlnahe Politologe hält drei Varianten für möglich: "Prigoschin geht nach Norden, nach Moskau. Man muss sich dann auf Kämpfe einlassen. Die Luftwaffe wird zuschlagen. Oder Prigoschin bleibt in Rostow. Da sind 20.000 der besten Soldaten mit großer Erfahrung im Partisanenkampf in einer Großstadt. Dann wird es lange Verhandlungen geben müssen. Oder Prigoschin verliert die Unterstützung der Wagner-Kämpfer. Dann wird sich alles in ein paar Tagen von selbst lösen."

Der Blog Nezygar, mit 330.000 Fans vergleichsweise weit verbreitet, analysiert abwägend: "Die Schwäche von Prigoschins Geschichte liegt in ihrer verfassungsfeindlichen Willkür. Die meisten politischen Eliten haben Angst vor ihm. Die Aussicht, Prigoschin als legitime Persönlichkeit an der Spitze zu gewinnen, passt ihnen nicht. Doch nicht wenige in der politischen Elite unterstützen Prigoschin mit seinen Thesen vom Kampf gegen Korruption, Ineffizienz und Vetternwirtschaft."

"Die nächsten zwei Tage entscheidend"

Blogger Georgy Fedorow ist überzeugt, dass Prigoschin seine Rebellion sorgsam vorbereitet hat: "Nun stellt sich die Frage, wie tiefgreifend die Verschwörung ist. Werden die Geheimdienste und -behörden der Rebellion widerstehen? Bisher hat Prigoschin die Initiative. Sein nächster Schritt ist die Ankündigung des Beginns der Revolution und der Putin-Entmachtung. Die nächsten zwei Tage sind entscheidend." Grotesk mutet es an, dass fast alle liberalen Stimmen Putin zur Hilfe eilen, weil sie Prigoschin mit "Faschismus" gleichsetzen: "So lustig es auch klingen mag, zum ersten Mal seit 2012 hat sich buchstäblich das gesamte liberale Lager in Russland für Putin ausgesprochen."

Boris Kagarlitzky, der vom Kreml als "ausländischer Agent" gebrandmarkt wurde, vergleicht Prigoschins Aktion mit Mussolinis Marsch auf Rom: "Anders als der König von Italien, der sich damals zurückzog und dann rückwirkend Mussolini unterstützte, sprach sich Putin nach einigem Zögern gegen die Wagner-Anhänger aus und erklärte sie zu Verrätern. Die Option, das alte Regime beizubehalten und das Kräfteverhältnis zu seinen Gunsten zu verändern, ist für Prigoschin also bereits ausgeschlossen, er muss nicht nur mit den Generälen des Generalstabs, sondern auch mit denen frontal zusammenstoßen, die die gesamte Vertikale der Macht ausmachen, die, wenn er auch nur teilweise Erfolg hat, auseinanderzufallen beginnt."

TV-Korrespondent Podduny zeigte sich hin und her gerissen: "Das sind Menschen, die ihr Leben für das Wohl ihres Vaterlandes nicht geschont haben. Aber jetzt ist der Versuch eines bewaffneten Aufstands ein großer, tragischer Fehler. Man kann nicht mit Waffen in die Hauptstadt gehen, denn das ist Verrat am Vaterland. Und daran können weder gute Absichten noch militärische Verdienste etwas ändern." Parlamentschef Wjatscheslaw Wolodin, einer der fanatischsten Kriegstreiber, seufzte: "Die Probleme und Nöte des Landes sind immer nur auf Hinterhältigkeit, innere Spaltung und Verrat der Eliten zurückzuführen."

"Was für eine Wendung"

Mit einer Mischung aus Entsetzen und Amüsement verwiesen russische Netzkommentatoren darauf, dass sich am Morgen nach dem Aufstand, vor Putins Rede, nur ein einziger Gouverneur vorsichtig gegen Prigoschin stellte, nämlich der aus der Heimatregion von Verteidigungsminister Sergej Schoigu. Auch die hilflosen Versuche des Staatsfernsehens, mit der Aktualität mitzuhalten, waren Gegenstand von Spott und Ironie. "Was für eine Wendung", hieß es in den Leserkommentaren der St. Petersburger Zeitung "Fontanka". Ein Kommentator schrieb nach Putins Rede: "Sieht so aus, als ob der Stuhl wackelt." Dort wurde reichlich geätzt: "Ich kann mich nicht erinnern, dass Bürokraten jemals die Wahrheit gesagt hätten." Die Ratten fielen jetzt übereinander her, hieß es, manch einer bedauerte Prigoschins mutmaßliches Schicksal: "Schade um den Mann."

Historisch Interessierte werden sich bei Prigoschin an das Drama um den Feldherrn Wallenstein (1583 - 1634) erinnert fühlen, der als Kriegsunternehmer im Dreißigjährigen Krieg unverzichtbar für den katholischen Kaiser in Wien war, aber immer mächtiger wurde und auf eigene Rechnung zu arbeiten begann. Deshalb wurde schließlich seine Exekution befohlen, mit verhängnisvollen militärischen Folgen. Der Krieg konnte nicht mehr gewonnen werden, der Westfälische Friede bestätigte letztlich nur die Ausgangssituation.

"Interne Stagnation und Deformation"

Prigoschin selbst glaubt, dass ungefähr die Hälfte der Armee hinter ihm steht, wie er in einem Video mitteilte. Egal, wie sich die Dinge entwickeln, die "gesamte politische Struktur des modernen Russlands" sei "dramatisch geschwächt", heißt es in einem Blog mit 20.000 Followern, da helfe auch kein Trost, dass es letztlich "nur" um einen Streit zwischen Prigoschin und Verteidigungsminister Schoigu gehe: "Der Konflikt selbst wird durch interne Stagnation und eine starke Deformation des Regimes selbst verursacht. Das Regime ist nicht in der Lage, auf eine dringliche Notwendigkeit zu reagieren. Die Bewegungsspielräume sind ausgeschöpft, interne Konflikte sind an ihre Grenzen gestoßen. Darüber hinaus sind offenbar alle der Gleichgewichts-Bemühungen ernsthaft überdrüssig, die angeblich versuchen, Konflikte zu entschärfen, aber im Grunde nichts lösen und die Krise nur noch vertiefen." Putin sei jetzt abhängig von "erfolglosen Generälen, Geheimdienstlern und Staatsanwälten", was "an sich schon eine schwache Position" sei.

"Was ist die Strategie?"

Blogger und Ex-Politiker Alexander Chodakowski schrieb: "Gott sei Dank, dass unsere Soldaten trotz all des Chaos, das herrscht, auf ihren Positionen stehen bleiben und ihre Pflicht erfüllen. Ich weiß nicht, wie ich die Situation einschätzen soll, aber wenn jetzt an der Front etwas passiert, wird das auch eine Folge dessen sein, was im engeren und weiteren Sinne im Hintergrund passiert." Chodakowski hofft darauf, dass sich "bald alles stabilisieren" werde. Der prominente Kriegsberichterstatter Alexander Kots meinte: "Das Interessanteste ist, dass nicht ganz klar ist, was Prigoschin will. Schoigu und Gerassimow zu stürzen ist zu abstrakt. Nun, hypothetisch, angenommen, sie kämen zu ihm, und was dann? Was ist die Strategie?"

"Verrottetes Regime bricht von selbst zusammen"

"Nun kann natürlich nur der Oberbefehlshaber wirklich legitim sein. Seine Einschätzungen werden von grundlegender Bedeutung sein und nur er kann den Konflikt fair lösen", hieß es bei Semjon "Wargonzo" Pegow, einem der einflussreichsten Blogger. In einem Blog mit guten Beziehungen zum russischen Geheimdienst war in der Nacht gejammert worden, Putin habe trotz "dringlicher Bitten" der Sicherheitsleute vorerst keine Entscheidung getroffen und sei ins Bett gegangen, nachdem er gehört habe, dass Prigoschin in Rostow einmarschiert sei.

In einem der wichtigsten Exil-Blogs mit 72.000 Abonnenten war zu lesen: "Wir sind Zeugen einer echten bewaffneten Rebellion. Solche Ereignisse entstehen nicht von ungefähr und lösen sich auch nicht von selbst auf . Das System kann jederzeit zusammenbrechen. Jede Stunde des Aufstands verkürzt die Existenz des Regimes enorm. Prigoschin muss nicht mal groß was unternehmen. Stehen Sie einfach den Tag und die Nacht durch. Das verrottete Regime wird von selbst zusammenbrechen."

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