Jewgeni Prigoschin bei einer Veranstaltung
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Jewgeni Prigoschin bei einer Veranstaltung

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"Ungeheuerliche Schande": Söldner-Chef entlarvt Kreml-Propaganda

Der Konflikt in der russischen Führung wird immer dramatischer: In einem Interview behauptete Jewgeni Prigoschin, Chef der Privatarmee "Wagner", den Putin-Leuten gehe es nur darum, die Ukraine auszubeuten. Der Krieg sei zur "Schlägerei" verkommen.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Dieser als "Informationsbombe" bezeichnete Auftritt dürfte ihm noch jede Menge Ärger einbringen: Jewgeni Prigoschin brachte mit seinen jüngsten Äußerungen die gesamte Kreml-Propaganda zum Einsturz. In einem langen Interview, das eher einem Wut-Monolog glich, behauptete er, Kiew sei in keiner Weise jemals eine Bedrohung für Russland gewesen, der ukrainische Präsident Selenskyj sei, soweit er informiert sei, sogar zu "jedweden Verhandlungen" bereit gewesen: "Der Kreml hätte nur von seinem Olymp herabsteigen müssen, hingehen und mit ihnen reden müssen", so der Privatarmee-Chef, dessen Truppen sich gerade in einem "Fronturlaub" erholen.

Den Einmarsch in die Ukraine bezeichnete Prigoschin als "ungeheuerliche Schande", die durch die "Selbstisolation" von Putin noch verschärft worden sei: "Jetzt versucht das [russische] Verteidigungsministerium, die Öffentlichkeit zu täuschen, versucht den Präsidenten zu täuschen und die Geschichte zu erzählen, dass es wahnsinnige Aggressionen seitens der Ukraine gegeben habe und uns die NATO zusammen mit der Ukraine angreifen wollte." Der Krieg sei jedoch "aus ganz anderen Gründen" begonnen worden.

"Sie wollten noch mehr"

Prigoschin behauptet, das ostukrainische Donbass-Gebiet sei seit der russischen Besetzung im Jahr 2014 systematisch von Kreml-Günstlingen "ausgeplündert" worden: "Einige von ihnen stammten aus der Präsidialverwaltung, einige vom [Geheimdienst] FSB, einige waren engagierte Oligarchen, wie Sergej Kurchenko. Sie stahlen Geld von den Bewohnern des Donbass, die sich in den nicht anerkannten 'Republiken' befanden." Die Generäle hätten ebenso abkassiert, auf Kosten der öffentlichen Haushalte. Im Übrigen habe der Kreml davon geträumt, den Günstling Wiktor Medwedtschuk zum ukrainischen Präsidenten zu machen, um anschließend das ganze Land auszubeuten und gefügig zu machen: "Das Ziel waren rein materielle Vermögenswerte, die anschließend aufgeteilt und unter Kontrolle gebracht werden sollten. Im Donbass wurde massenhaft abgezweigt, aber sie wollten noch mehr."

Der Krieg sei zu einer "Schlägerei" verkommen, so Prigoschin, der auch von einer "Ratten-Haltung" sprach, die "zur nationalen Ideologie erhoben" worden sei. Verteidigungsminister Schoigu sei auch deshalb an einem Krieg interessiert gewesen, um sein persönliches Ansehen aufzubessern: "Der Krieg musste von einer Reihe von Kreaturen gefeiert und gefördert werden, um zu zeigen, was für eine starke Armee wir haben. Damit Schoigu den Rang eines Marschalls erhalten konnte, lag der entsprechende Befehl bereits vor. Und er bekam seine zweite 'Helden'-Medaille. Er wollte unbedingt als der große tuwanische Militärführer, der schon in Friedenszeiten zweimal Held und Marschall wurde, in die Geschichte eingehen." Schoigu wurde in der südsibirischen Region Tuwa geboren.

"So eine Armee kann keine Einsätze bestreiten"

Letztlich sei der Krieg für einen "Stern mit Stickerei" vom Zaun gebrochen worden: "Damit ein psychisch kranker Mensch, wenn er denn einst in seinem Sarg liegt, einen Stern auf sein Kissen gelegt bekommt." Am Frontgeschehen zwischen 2014 und 2022 könne es jedenfalls nicht gelegen haben, dass die Lage eskaliert sei: "Sie beschossen uns, wir beschossen sie, all die langen acht Jahre. Manchmal nahm der Beschuss zu, manchmal ab, der 24. Februar 2022 [Tag des Kriegsbeginns] machte da keine Ausnahme." Schoigu habe durch mangelhafte Planung "tausende von russischen Soldaten" auf dem Gewissen: "Eine solche Armee kann keine groß angelegten Militäreinsätze bestreiten." Im Grund habe Moskau nur noch "auf ein Wunder gehofft", allerdings vergeblich.

Prigoschin forderte ein "Ende der Doppelmoral", schimpfte auf die "Erpressung" von Unternehmen und behauptete, Russen hätten das Wort "Gerechtigkeit" längst vergessen. Weil der Privatarmee-Betreiber nur den "ersten Teil" seines Statements online stellte, muss sich Putin womöglich noch auf weitere unliebsame Äußerungen einstellen. Vorerst bekamen die staatlich gelenkten Medien die Anweisung, Prigoschin möglichst zu ignorieren, was mal besser, mal schlechter gelingt, denn seine Anhängerschaft war unter den Nationalisten jedenfalls bisher sehr zahlreich.

"Chor besingt den Helden"

Der russische Politikberater Sergej Starowoitow bezeichnete Prigoschin als "interessantes Medienphänomen". Dessen Methode beschrieb er so: "Eine immer stärkere Systemkritik bei ständiger Erweiterung der Grenzen des Erlaubten. Darin liegt eine offensichtliche Gefahr, aber bisher hat er offenbar die wirklichen roten Linien nicht überschritten." Diese Taktik sei wohl nur machbar, wenn es von ganz oben "Sicherheitsgarantien" gebe: "Na ja, oder wenn Sie 50.000 bewaffnete Freunde haben." Die wichtigsten Blogger Russlands adelten den Söldnerführer mit ihren Kommentaren: "In der Poetik des Aristoteles wird diese dramatische Technik 'Der Chor besingt den Helden' genannt." Hilfreich sei allerdings auch Prigoschins eigenes Medien-Netzwerk.

"Bevor Prigoschin Zeit hatte, den zweiten Teil des Interviews zu veröffentlichen, wurde ihm bereits ein Staatsstreich vorgeworfen. Wir wissen nicht einmal, wie wir es interpretieren sollen, wir sind ratlos", meldete sich ein Blogger zu Wort. Der "Vorschlaghammer", Symbol der Wagner-Söldner, werde "toxisch", meinte ein anderer, der sich verwirrt darüber zeigte, ob der bisher so martialische Prigoschin der Friedens- oder Kriegspartei im Lande angehöre. "Wie kam es dazu, dass Prigoschin neuerdings wie der wichtigste Pazifist, der wichtigste Oppositionelle und die kundigste Person aussieht?" wollte ein entgeisterter Telegram-Fan wissen.

Weitere Blogger behaupteten, der Konflikt zwischen Prigoschin und dem Kreml sei "nur die Spitze des Eisbergs" im Überlebenskampf der rein finanziell orientierten Eliten. Eine Revolution wie im Februar 1917 sei wohl unvermeidlich: "Präsident Putin, der in den letzten 23 Jahren als starker Anführer dargestellt wurde, erwies sich, gelinde gesagt, als nicht so stark und nicht besonders talentierter Anführer." Putin habe eigentlich die Ereignisse seit Kriegsbeginn mehr kommentiert als geprägt.

"Dann erwartet uns nichts Gutes"

Es sei offenbar ein innerrussischer "Krieg" ausgebrochen, hieß es in einem Blog mit 20.000 Fans: Prigoschin und weitere "Schutzbefohlene" von Putins Bankier und Berater Juri Kowaltschuk (die sogenannten "Kowaltschuken") hätten offenbar enttäuscht von der militärischen Lage nicht nur der eigenen Armeeführung, sondern auch der "Familie" der Oligarchen den Kampf angesagt - eine Anspielung auf Mafia-Gewohnheiten. Trotz der geäußerten massiven Kritik am Krieg glaubt der kremlnahe Politologe Sergej Markow, dass Prigoschin Putin gegenüber "völlig loyal" sei: "Er beteiligt sich an der öffentlichen Debatte darüber, welche Fehler wir gemacht haben und was korrigiert werden muss, um zu gewinnen. Er äußerte diesbezüglich eine Reihe scharfer, kontroverser Ideen."

Das "Misstrauen gegenüber der politischen Führung" wachse täglich, schrieb Blogger Pawel Gubarew, gleichzeitig Sprecher der "wütenden Patrioten": "Die Gesellschaft hat alles durchschaut." Die Kreml-Schickeria beschwöre "Fragmente der sowjetischen Ideologie" und schicke ihre Kinder gleichzeitig nach London, Paris oder in die Emirate. Wörtlich sagte Gubarew in einem Interview mit dem Portal RTVI: "Wenn sich die Politik nicht ändert, wenn es keine Mobilisierung der Wirtschaft, Mobilisierung der Gesellschaft, Mobilisierung der Menschen gibt, die Mobilisierten nicht ausreichend auf Übungsplätzen ausgebildet werden, mit Koordination, mit Ausrüstung, mit Waffen, dann erwartet uns nichts Gutes in der die Zukunft."

"Wahrscheinlich ist er nur ein Feind"

Rechts-Extremist Igor Strelkow, der mit Prigoschin verfeindet ist, hielt dessen Ausführungen für "unverschämte Lügen", die durch "Arroganz" bestächen: "Für die überwiegende Mehrheit der russischen Oligarchen war und ist der Krieg zur Wiedervereinigung des Donbass und der Krim (ganz zu schweigen von ganz Neu- und Kleinrussland) – um es deutlich auszudrücken – ein Griff in die Eier." Prigoschin wolle offenbar die "Behörden und die Bevölkerung zur Kapitulation bewegen". Eigentlich hätte der Söldner-Chef schon längst "wegen vieler Vorkommnisse" vor ein Kriegsgericht gehört, so Strelkow, jetzt sei ein Verfahren "wegen Verrats" fällig: "Natürlich nur, wenn es zulässig ist, einen ethnisch und geistig nichtrussischen Verbrecher als Verräter Russlands zu betrachten. Wahrscheinlich ist er nur ein Feind."

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