Passanten betrachten Zerstörungen
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Von einem ukrainischen Angriff beschädigte Brücke zur Krim

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"Eine Lüge muss monströs sein": Wie schlimm ist Russlands Lage?

Söldnerführer Jewgeni Prigoschin verbreitet Untergangsszenarien, Propagandisten erwarten eine "Zeit der Wirren", nur Putin ist optimistisch "wie nie": Die militärischen und politischen Aussichten werden in Moskau höchst unterschiedlich beurteilt.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

"So viel Optimismus und zugleich Empathie verriet Wladimir Putins Stimme schon lange nicht mehr", meinte der russische Journalist Andrej Kolesnikow von der Wirtschaftszeitung "Kommersant" kürzlich in einem Bericht aus dem Kreml, aber das war ironisch gemeint. Die ehrwürdigen Wände des prächtigen Alexander-Saals in der russischen Regierungszentrale hätten überhaupt noch nie so viel "Poesie" zu Hören bekommen, wie beim Treffen von Putin mit verdienstvollen Offizieren, ergänzte der Reporter und zitierte dabei aus einem Gedicht, das bei diesem Anlass von einem offenbar lyrisch vorbelasteten Oberst vorgetragen wurde: "Brechen Sie das Rückgrat der faschistischen Bastarde." Putin hörte sich die Verse unbewegt an und durfte sich auch noch über eine Fliegeruhr mit Stoppfunktion freuen, die ihm von einem der Soldaten überreicht wurde.

Um sich ein "objektives Bild" zu machen, ließ sich Putin vom Sicherheitsrat auf den neuesten Stand der militärischen Lage bringen. Sein Fazit wirkte etwas unentschlossen: "Wir müssen davon ausgehen, dass das Angriffspotential des Feindes noch nicht ausgeschöpft ist, eine Reihe strategischer Reserven noch nicht genutzt wurden, und ich bitte Sie, dies bei der Organisation der Kampfarbeit zu berücksichtigen. Sie müssen von der Realität ausgehen." Ungewöhnlich genug, dass der Kreml neuerdings Treffen des Sicherheitsrats propagandistisch verwertet und dabei "vorläufige Daten" über angebliche ukrainische Verluste herausposaunt. Welche "Realität" Putin dabei im Auge hat, blieb offen.

"Sie führen das Volk in die Irre"

Während die Welt im Kreml also halbwegs "in Ordnung" zu sein scheint und die offizielle Propaganda täglich neue militärische "Erfolge" verkündet, goss Söldnerführer Jewgeni Prigoschin jetzt ordentlich Essig in den Wein: Er beschrieb die Lage als katastrophal, sprach von "gewaltigen Problemen", schweren Verlusten und attackierte einmal mehr das Verteidigungsministerium: "[Minister] Schoigu und [Armeechef] Gerassimow verfolgen einen einfachen Ansatz: Eine Lüge muss monströs sein, um geglaubt zu werden. Das ist es, was sie tun." Alles, was offiziell verkündet werde, sei "leeres Gerede". An der Front fehle es an allem, sogar an Trinkwasser für die Männer in den Schützengräben. Ukrainische Soldaten seien sehr viel weiter durchgebrochen, als der Kreml zugebe.

"Wenn es so weitergeht, stehen wir bald ohne Russland da", zeterte Prigoschin und schlug Alarm: "Russland wird eines Tages aufwachen und feststellen, dass die Krim bereits an die Ukrainer übergeben wurde. Es liegt ein direkter Verrat an den Interessen der Russischen Föderation vor. Und das alles vor dem Hintergrund von Verlusten. Die Truppen müssen wieder aufgefüllt werden, ein Soldat kann nicht ganz alleine kämpfen. Er kann nicht kämpfen, wenn in den Einheiten ein Personalmangel von 50 bis 60 % herrscht. Er kann nicht allein an der Grenze stehen, wo zwei oder drei stehen müssten. Alle diese Daten werden sorgfältig versteckt. Alles, was die Führung der Sonderoperation heute tut, ist, mit den Fakten zu jonglieren, um schöne Berichte nach Moskau zu schicken. Und Gott segne sie, dass sie es bereits gewohnt sind, den Oberbefehlshaber zu täuschen, sie führen das russische Volk in die Irre."

"Wem man glauben soll, ist unklar"

Prigoschin nannte zahlreiche Details, wo angeblich bereits die Front überrannt worden sei. Damit irritierte er Freund und Feind, hatte Putin persönlich doch eher von einer "Flaute" gesprochen und auch der ukrainische Präsident Selenskyj Probleme bei der Offensive eingeräumt. Rechtsaußen Igor Strelkow schrieb: "Ich bin ratlos. Vorher dachte ich, dass unsere Gruppierung die Gegenoffensive der Streitkräfte der Ukraine recht erfolgreich abwehren würde, und sie ins Stocken geriet. Aber ich habe mir heute Prigoschins Aussage angehört, und er behauptet, dass die Situation da draußen schlecht ist und alles sehr schlimm für uns enden kann. Wem man glauben soll, ist unklar."

Ähnlich verunsichert zeigte sich der kremlnahe Politologe Sergej Markow: "Ich würde mir sehr wünschen, dass diese Aussage nur den gefühlsgeladenen Streit zwischen [Prigoschins Truppe] Wagner und dem Verteidigungsministerium widerspiegelt und nicht die Realität. Bisher genoss die Informationspolitik von Wagner und Prigoschin informell großes Vertrauen im aktiven Teil der Gesellschaft. Die Militärblogger unterstützten seine Position. Jetzt schweigen die Soldaten. Weil sie jetzt näher an der Position des Verteidigungsministeriums sind? Oder weil sie ihre Meinung lieber für sich behalten? Oder weil Prigoschins Informationen zu neu sind und es Zeit braucht, sich dazu zu äußern?"

"Das ist eine gefährliche Täuschung"

Blogger Alexander Sladkow, der kürzlich mit mehreren Kollegen bei Putin zu Gast war, zeigte sich unwirsch: "Ich verstehe nicht, welchen Sinn es hat, ukrainische Sender mit solchen Aussagen zu versorgen? Die Informationen sind, gelinde gesagt, widersprüchlich. Welchen Sinn hat es, sie den Menschen zugänglich zu machen?" Er selbst wollte sich nicht anmaßen, die Lage zu beurteilen, formulierte Sladkow ungewohnt vorsichtig und zitierte stattdessen Frontsoldaten, die ihm angeblich beruhigende Berichte gesandt hätten: "Tatsächlich gehen die Kämpfe weiter. Niemand sagt, dass der Sieg bereits in unserer Tasche ist."

Das mit 1,1 Millionen Fans besonders reichweitenstarke Portal Rybar meinte, sowohl Prigoschin, als auch Verteidigungsminister Schoigu polarisierten auf skurrile Weise: "Bei ihnen ist entweder alles schlecht oder alles gut. Die Wahrheit liegt wie immer irgendwo in der Mitte. Die Kämpfe entlang der Front gehen weiter. Es werden dort Menschen benötigt: Aufgrund der natürlichen Fluktuation während intensiver Feindseligkeiten ist es notwendig, deren Zahl wieder aufzufüllen."

Das russische Portal RTVI machte eine Umfrage unter den prominentesten Bloggern. Ergebnis: Alle wichen der Frage aus, ob Prigoschins Untergangsszenario begründet ist oder nicht: "Ich möchte betonen, dass die Situation schwierig ist, trotz der enormen Verluste des Feindes haben wir auch Verluste – das ist ein Krieg", wird einer der interviewten Frontberichterstatter zitiert. "Ich weiß nicht, warum Jewgeni Wiktorowitsch solche Aussagen macht", antwortete Propagandist Alexander Kots.

Der russische TV-Propagandist Poddubny schrieb: "Der Feind rückt zähflüssig vor wie in einem Sumpf im Niemandsland und in umkämpften Zonen üblich. Aber es gab keine Durchbrüche. Ich werde mich nicht mit Prognosen befassen, es ist keine sehr lohnende Sache, aber vorerst stelle ich fest, dass die russische Armee den Plan des Feindes für einen Frühjahr-Sommer-Feldzug vereitelt hat." Ein weiterer Blogger beruhigte die Öffentlichkeit, ein Vorrücken der Ukrainer "um mehrere hundert Meter" sei noch längst nicht gleichbedeutend mit Erfolgen. "Das Fehlen herausragender Erfolge des Gegners könnte nahelegen, dass er grundsätzlich nicht erfolgsfähig ist. Das ist eine gefährliche Täuschung", meinte Blogger Alexander Chodakowski warnend und verwies auf einen ihm bekannten Brigadekommandeur, in dessen Mannschaft nicht "allzu viel" vom ursprünglichen Personal übrig sei.

"Prigoschin würde von ukrainischen Erfolgen profitieren"

Alles, was Prigoschin zum Besten gab, stieß auch in der ukrainischen Öffentlichkeit auf große Skepsis. Es gehe wohl eher um Taktik, hieß es: "Für Prigoschin sind Erfolge der russischen Armee nicht von Vorteil, da in diesem Fall das Verteidigungsministerium der Russischen Föderation demonstrieren würde, dass es auch ohne Wagner zurechtkommt. Und im Gegenteil, Prigoschin würde sogar vom Erfolg der Streitkräfte der Ukraine profitieren, da dies die Richtigkeit seiner Worte über die desolate Lage in der russischen Armee bestätigen und das Gewicht sowohl der Wagner-Truppe als auch von Prigoschin persönlich dramatisch erhöhen würde, der einen Wechsel in der Führung des Verteidigungsministeriums erreichen könnte."

Dass es in Russland generell erhebliche Nachschub-, Finanz- und Versorgungsprobleme gibt, wird aus einer Meldung deutlich, wonach die regionalen Behörden dringend angewiesen wurden, mehr Freiwillige für die Front zu gewinnen: "Angesichts der potenziell langfristigen Natur des militärischen Konflikts und der unvermeidlichen Verluste ist klar, dass der Bedarf zumindest in der Zukunft auf jeden Fall erheblich sein wird." Dazu kommen massive Haushaltsprobleme, die inzwischen spürbare Auswirkungen auf die Bevölkerung haben. So wurden die Subventionen für Regionalflüge in unwegsame Gegenden gekürzt, ganz abgesehen davon, dass sich die Ersatzteilkrise verschärft.

"Krise wird Russland so oder so treffen"

Scherzhaft hatte Propagandist Sergej Markow eine neue "Zeit der Wirren" heraufziehen sehen, eine Anspielung auf eine chaotische Epoche der russischen Geschichte um 1600, als die Machtfrage ungelöst war, Bürgerkriege und Hungersnöte Tausende dahinrafften. Markow wurde mit diesem Hinweis allerdings ernster genommen, als ihm vielleicht selbst recht war. Ein Blogger sah zahlreiche düstere Parallelen zwischen der Gegenwart und der sprichwörtlichen "Zeit der Wirren": Es gebe mit Putin zwar einen "willensstarken Zaren" wie damals Boris Godunow (1552 - 1605), die Nachfolge sei allerdings ebenso wenig geklärt wie im 17. Jahrhundert. Außerdem seien sich die Oligarchen genauso wenig grün wie seinerzeit und es gebe ein feindliches Ausland, das die Nachfolge beeinflussen wolle - das war um 1600 das Königreich Polen.

"Natürlich wird es keine Hungersnot wie in den Jahren 1601 bis 1603 geben, aber die Wirtschaftskrise wird Russland auf die eine oder andere Weise treffen", fasst der Blogger zusammen und empfiehlt dringend den Aufbau eines funktionierenden "Parteiensystems", um die zu erwartenden Wirren in den Griff zu bekommen.

Die EU hat der Ukraine weitere 1,5 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt. Unterdessen wurde ein russischer Nachschubweg getroffen.
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Die EU hat der Ukraine weitere 1,5 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt. Unterdessen wurde ein russischer Nachschubweg getroffen.

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