Porträt des Söldnerführers
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Jewgeni Prigoschin

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"Aufruf zum Bürgerkrieg": Prigoschin rebelliert gegen Kreml

Dem Kreml ist der Umgang mit dem eigenwilligen Privatarmee-Betreiber völlig entglitten: Der Geheimdienst will ihn festnehmen, Generäle flehen um Einigkeit, Blogger sind entsetzt, Putin ist völlig blamiert. Von einer "ernsten Eskalation" ist die Rede.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

"Das ist kein Militärputsch, das ist ein Marsch für Gerechtigkeit. Unsere Aktionen beeinträchtigen die Truppe in keiner Weise", versprach der russische Söldnerchef Jewgeni Prigoschin, doch das glaubt ihm in Moskau offenbar kaum noch jemand. "In der Präsidialverwaltung herrscht Panik, sie schließt das Szenario eines Bürgerkriegs nicht aus", meldeten in der Nacht russischsprachige Medien mit Verweis auf Gewährsleute im Kreml. Demnach prüfen Putins Spitzenbeamte bereits, in welche Länder sie kurzfristig ausreisen könnten: "Eine der wenigen Optionen ist Uruguay." Putin steht vor einer beispiellosen Herausforderung, muss womöglich um die Macht fürchten.

Geheimdienst warnt vor "irreparablen Fehlern"

Laut Nachrichtenagentur TASS wurden die "wichtigsten Objekte Moskaus unter verstärkten Schutz gestellt", die Sicherheitsmaßnahmen in der Hauptstadt verstärkt. Prigoschin verhandelte am frühen Morgen im Hauptquartier des südlichen Militärbezirks in Rostow am Don mit dem stellvertretenden russischen Verteidigungsminister Jewkurow und General Alexejew. Er forderte ein Treffen mit Generalstabschef Gerassimow und Verteidigungsminister Schoigu, mit denen er seit Monaten zerstritten ist. Rostow sei unter seiner "vollen Kontrolle", behauptete Prigoschin, der auch darauf verwies, dass seine Leute drei Hubschrauber abgeschossen habe, die auf die Söldner geschossen hätten.

Vom Geheimdienst FSB hieß es laut Agentur Interfax: "Wir fordern die Söldner auf, keinen irreparablen Fehler zu begehen, alle gewaltsamen Aktionen gegen das russische Volk einzustellen, die kriminellen und verräterischen Befehle von Prigoschin nicht auszuführen und Maßnahmen zu ergreifen, um ihn festzuhalten."

Der streitbare Privatarmee-Betreiber hatte in seinem Telegram-Blog behauptet, auf die Unterkünfte seiner Leute sei ein "Raketenangriff" mit "vielen Opfern" erfolgt: "Augenzeugen zufolge erfolgte der Angriff von hinten, also vom Militär des russischen Verteidigungsministeriums." Prigoschin will seine Kommandeure zusammengerufen haben, diese hätten Vergeltungsmaßnahmen beschlossen: Alle "Straßensperren und Flugzeuge" des russischen Verteidigungsministeriums, die ihnen in die Quere kämen, würden zerstört.

"Das Übel wird gestoppt"

Der Unternehmer empfahl allen Soldaten, sich seiner "Wagner"-Truppe nicht in den Weg zu stellen: "Das Übel, das mit der militärischen Führung des Landes verbunden ist, wird gestoppt. Ich fordere alle dazu auf, keinen Widerstand zu leisten. Ich bitte alle, Ruhe zu bewahren. Die Gerechtigkeit in den Truppen wird wiederhergestellt."

Damit ist der Kampf zwischen Prigoschin und Verteidigungsminister Sergej Schoigu völlig außer Kontrolle geraten. Kremlsprecher Dmitri Peskow teilte mit, Präsident Putin sei über die Lage informiert: "Die nötigen Maßnahmen werden ergriffen." Zuvor hatte Prigoschin in einem halbstündigen Video-Monolog den Kreml frontal angegriffen und behauptet, der Krieg sei ausschließlich vom Zaun gebrochen worden, um die Ukraine wirtschaftlich auszubeuten. Militärische Gründe habe es nicht gegeben, Selenskyj sei jederzeit zu Verhandlungen bereit gewesen. Das löste ein riesiges Echo in den russischen Telegram-Kanälen aus, während die staatlich gesteuerten Medien weitgehend schwiegen.

"Westen wird begeistert sein"

Das Verteidigungsministerium behauptete, Prigoschins Vorwürfe entsprächen "nicht der Realität" und stellten eine "informative Provokation" dar, was auch einer nächtlichen TV-Sondersendung zu entnehmen war. Der Geheimdienst FSB leitete ein Ermittlungsverfahren wegen der Forderung "nach einem bewaffneten Aufstand“ ein. Von "kriminellen Befehlen" des Söldnerchefs war die Rede: "Wir fordern eine sofortige Einstellung illegaler Handlungen", heißt es in einer Erklärung, die von den russischen Medien verbreitet wurde. Das ist bemerkenswert, hatten sie doch bisher die klare Anweisung, Prigoschin zu ignorieren. Offenbar kann der Kreml diese Linie nicht mehr durchhalten, seit der innerrussische Kampf eine neue Stufe erreicht hat.

Der Erste Stellvertretende Chef der Hauptdirektion des Generalstabs der Streitkräfte der Russischen Föderation, Wladimir Alexejew, zeigte sich völlig entgeistert: "Was jetzt passiert, ist eine eklatante Tatsache, die ich nur mit Wahnsinn erklären kann. Jetzt befindet sich unser Land in der schwierigsten Situation. Ähnliche Dinge, die Sie gerade erst umgesetzt haben, werden zu enormen Verlusten führen, vor allem zu politischen. Stellen Sie sich vor, wie begeistert der Westen über das sein wird, was Sie jetzt vorhaben."

Dazu hieß es im Blog "Rybar" mit 1,1 Millionen Fans: "Allein die Tatsache eines solchen Appells von einer der prominenten Persönlichkeiten der zeitgenössischen Konflikte des letzten Jahrzehnts spricht Bände. Zum Beispiel über den Wunsch des Generalstabs, sich im Falle einer weiteren Eskalation der Lage auf die Seite der Friedenstruppen zu stellen." Es fiel auf, dass keiner der bekannten Blogger Putin und den Kreml unterstützte: Alle erklärten sich für "neutral" und flehten die Frontkämpfer an, ihre Stellungen zu behaupten.

"Dann bricht alles zusammen"

Quer durch die russischen Blogs begann eine lautstarke Debatte, nachdem der Geheimdienst vor einem "Aufruf zum Bürgerkrieg" warnte, die Situation sei "untragbar". "Die Hauptsache ist, den Zusammenbruch und die Niederlage zu verhindern" flehte einer der populärsten Kriegskorrespondenten: "Geschieht das nicht, verwandeln wir uns in Ameisen, die von einer riesigen sodomitischen Walze, die auf uns zurollt, zerquetscht werden. Jeder hat viele Fragen. Nicht alles läuft so, wie wir es gerne hätten. Aber damit müssen wir uns später befassen. Ruhig und konsequent. Aber nicht, wenn auf der anderen Seite der Front die blutunterlaufenen Augen eines kollektiven Dämons auf uns alle blicken und jeden Russen vernichten wollen, unabhängig von seiner Einstellung zur Spezialoperation und seiner Beteiligung daran. Dieser Dämon wartet nur auf den Moment, in dem wir unsere Waffen gegeneinander richten. Und dann bricht alles zusammen. Endgültig und unumkehrbar."

"Ich glaube nicht, was ich schreibe"

Der kremlnahe Politologe Sergej Markow meldete sich im Minutentakt. "Die russische Macht hat sich gefestigt und beginnt zu handeln. Sicherlich wurde diese Entscheidung mit dem Wissen Putins getroffen", schrieb er tief in der Nacht, nachdem er vom Ermittlungsverfahren wegen Rebellion erfuhr: "Es ist sehr wahrscheinlich, dass Prigoschin nun versucht, Kontakt zur Führung des Landes aufzunehmen, um zu sagen, dass er es nicht böse gemeint hat und dass er der Führung Russlands und Präsident Putin persönlich gegenüber absolut loyal ist. Ich möchte Sie daran erinnern, dass derzeit nirgendwo Kolonnen von Wagner-Truppen unterwegs sind und es keine Scharmützel gibt."

Markow zeigte sich völlig entgeistert von der Lage, machte sich selbst jedoch Mut, so würden keine "Militärputsche" in Russland durchgeführt. Allerdings verbreitete er das Gerücht, Prigoschin habe versucht, den russischen Verteidigungsminister in Rostow am Don zu stellen, doch der Politiker sei rechtzeitig mit dem Flugzeug geflüchtet: "Ich schreibe und ich selbst glaube nicht, was ich schreibe." Womöglich habe der britische Geheimdienst die Wagner-Kasernen beschossen, um in Russland Unfrieden zu säen, meinte Markow, der diese These wohl selbst absonderlich fand.

"Provokation, Desinformation, Alarmismus"

Russische Blogger hatten Angst, dass Soldaten ihre Schützengräben verlassen, weil viele von ihnen Prigoschin bewunderten. Einer der Netzaktivisten beschränkte sich darauf, das Finale von Richard Wagners "Götterdämmerung" nachzuerzählen: "Das Feuer lodert auf und verschlingt die Burg Walhall." Im rechtsextremistischen Portal "Tsargrad" meldeten sich Militärexperten zu Wort, etwa Wladislaw Schurigin: "Es herrscht Krieg, wir haben einen Feind. Wir müssen diesen Feind besiegen und gewinnen! Alles, was dagegen spricht, das alles muss entsorgt und zerstört werden! Und der Konflikt, den wir jetzt erleben, ist äußerst gefährlich für den Kampf, den wir jetzt alle gemeinsam führen. Alles andere ist Beteiligung an Provokation, Desinformation und Alarmismus! Das ist meine Position."

"Panik und Hilflosigkeit"

Rechtsaußen Igor Strelkow schrieb: "Die Appelle der Generäle, mit dem Aufstand aufzuhören, zerstreuten schließlich den geringsten Zweifel daran, dass Prigoschins Rebellion (ich habe nicht 'Wagners' geschrieben) real ist. Und sie zeigen ein gewisses Maß an Panik. Und völlige Hilflosigkeit." Der russische General Surowikin hatte sich mit einem Blog an die Söldner-Truppe gewandt: "Wir haben gemeinsam gewonnen. Wir sind vom gleichen Blut. Der Feind wartet nur darauf, dass die innenpolitische Situation in unserem Land eskaliert. In dieser für das Land schwierigen Zeit kann man dem Feind nicht in die Hände spielen. Es ist noch nicht zu spät. Es ist notwendig, gehorchen Sie dem Willen und der Anordnung des Präsidenten der Russischen Föderation."

"So beginnen Staatsstreiche"

Der im Exil lebende Politologe Abbas Galljamow sagte der "Novaya Gazeta Europe": "Genau so beginnen Putsche und Staatsstreiche: Jemand beginnt zu handeln und wenn er den Eindruck erweckt, dass er zu entschlossenem Handeln fähig ist, dann schließen sich ihm die Zögernden an. Und in einem autoritären System sind die Schwankenden in der Mehrheit. Die meisten Beamten sind Opportunisten." Das gelte auch für das Militär. Mit einem Bürgerkrieg im traditionellen Sinne rechnet Galljamow allerdings nicht. Wichtig sei, wie das russische Parlament reagiere. Die "Einheitsfront" der Patrioten sei jedenfalls zerbrochen.

Prigoschin hatte angekündigt, dass seine Leute, die derzeit im Fronturlaub sind, am 5. August wieder ins Kriegsgeschehen eingreifen würden. Ob es dazu kommt, ist jetzt natürlich höchst fraglich. Die Position des Kremls ist jedenfalls erschüttert, möglicherweise auch die von Putin persönlich: Im Sicherheitsrat war ihm mehrmals vorgeworfen worden, Prigoschin zu viele Freiheiten durchgehen zu lassen. Andererseits hieß es, der Söldnerführer sei der Mann des Geheimdienstes und absichtlich gegen die Armeeführung in Stellung gebracht worden. Einer der genannten Gründe: Der Geheimdienst wolle sein eigenes Versagen im Krieg auf die Generäle abwälzen.