Junge Männer in den russisch besetzten Gebieten mit blauen Fahnen
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"Patriotische" russische Jugend marschiert

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"Seien wir realistisch": Kreml greift die eigenen "Patrioten" an

Putin werden die russischen Fanatiker offenbar unheimlich, er ändert die Taktik. Ein Kommentar der kremlnahen Nachrichtenagentur RIA Nowosti geht hart mit allen Nationalisten ins Gericht: " Ich möchte nicht zu einem solchen Preis gewinnen."

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Das wird die Hurra-Patrioten wohl noch mehr gegen den Kreml aufbringen: Die Zeichen mehren sich, dass Putin seine Tonlage dämpft und deutlich "versöhnlicher" wirken will, warum auch immer. Mag sein, dass militärische Probleme der Grund sind, die sich abzeichnende Haushaltskrise oder auch die im kommenden Jahr bevorstehende Präsidentenwahl, jedenfalls kommen in jüngster Zeit höchst merkwürdige Signale aus dem Dunstkreis der Regierungszentrale. So machte sich Kremlsprecher Dmitri Peskow mit dem Hinweis lächerlich, eigentlich habe Russland eines seiner Hauptziele ja bereits "weitgehend" erreicht, nämlich die "Entmilitarisierung" der Ukraine. Das wunderte angesichts der Hochrüstung des Landes durch den Westen nicht wenige Patrioten, die es sich nicht nehmen ließen, alle Waffensysteme aufzulisten, über die die Ukraine mittlerweile verfügt.

"Sie können den Krieg jederzeit beenden"

Dabei hatte sich Peskow nur an seinem Vorgesetzten Putin orientiert, der bei einem Wirtschaftsforum in St. Petersburg ebenfalls nahegelegt hatte, Russland habe die "Spezialoperation" ja eigentlich so gut wie gewonnen: "Was die Entmilitarisierung betrifft. Schauen Sie doch mal, die Ukraine wird bald ganz aufhören, ihre eigene Ausrüstung zu verwenden, es bleibt nichts übrig." Gegenüber Journalisten behauptete Putin, die russische Armee habe seit Beginn der ukrainischen Offensive 245 gegnerische Panzer und 678 gepanzerte Fahrzeuge ausgeschaltet - Zahlen, die unter Militärfachleuten für höchstes Befremden sorgten und nicht gerade zur Glaubwürdigkeit des Präsidenten beitrugen. Es "scheine" ihm, so Putin, dass die Ukraine "keine Chance" habe, zumal sie gar keine "aktiven" Offensivaktionen durchgeführt habe.

Kein Wunder, dass sich Nationalisten dieser Sichtweise nicht anschließen wollten, sondern argwöhnten, der Kreml bereite den Boden für ein baldiges Ende des Konflikts: "Nun, im Allgemeinen bedeuten solche Aussagen des Kremls nur eines: Sie können die Spezialoperation jederzeit beenden und die Erledigung ihrer Aufgaben behaupten, und niemand wird sich trauen, irgendwas dagegen zu sagen", so ein Blogger hämisch.

Einen Regimewechsel in Kiew hatte der Kreml schon länger zu den Akten gelegt, ebenso wie die Aufteilung der Ukraine unter den Nachbarstaaten. Putin versuche gleichzeitig den "guten und den bösen Polizisten" zu spielen, so die Kolumnistin Ekaterina Winokurowa. Damit habe der Präsident allerdings das naheliegende Problem, das keiner mehr wisse, welcher Charakter sein "authentischer" sei. Außerdem sorge er im eigenen Stab für Durcheinander, weil sowohl die Friedens-, als auch die Kriegspartei überzeugt sei, in aller höchster Gunst zu stehen - und angesichts der neuen Tonart mittlerweile beide Seiten ihr Schicksal "verfluchten".

"Unsere Patrioten fordern endlosen Kampf"

Jetzt ging die kremlnahe Nachrichtenagentur RIA Nowosti, die für ihre propagandistischen Meldungen bekannt ist, in einem Kommentar frontal auf alle "Patrioten" los, die Putin von rechts unter Druck setzen. Dazu gehören Leute wie der populäre Blogger Igor Strelkow (800.000 Fans), aber auch Söldnerführer Jewgeni Prigoschin und der extremistische "Hausphilosoph" Alexander Dugin. Ihnen warf Kommentatorin Viktoria Nikoforowa vor, gegen jede Art von Vereinbarung mit der Ukraine zu sein: "Unsere Feinde versuchen, den Ukraine-Konflikt so lange wie möglich in die Länge zu ziehen, um Russland auszubluten und zu quälen, denn der Große Vaterländische Krieg hat uns auch ruiniert und eine demografische Katastrophe für die kommenden Generationen beschert. Unsere Patrioten fordern ungefähr dasselbe: endlosen Kampf, Lemberg und die Grenze zu Polen zu erreichen."

"Sie kritisieren als Zaungäste alle Vorschläge"

Russland müsse jedoch "realistisch" bleiben, so die Autorin: "Während des Großen Vaterländischen Krieges, bei der Befreiung der Ukraine von den Nazi-Invasoren, starben etwa drei Millionen sowjetische Soldaten. Ich möchte heute nicht zu einem solchen Preis gewinnen." Nikoforowa fragte sich, woher Russland denn all die Soldaten nehmen wolle, die nötig seien, um die gesamte Ukraine zu besetzen: "Maximale Gebietseroberungen sollten mit minimalen menschlichen Verlusten einhergehen, das ist von jeher unser Stil." Sie sprach von "selbst ernannten Patrioten", denen kein Vertrag recht sei, schließlich hätten sie auch schon die Gespräche in Istanbul am Beginn des Krieges als "zweites Chassawjurt" bezeichnet, eine Anspielung auf den für Russland verlorenen Ersten Tschetschenien-Krieg in den Jahren 1994/96.

Die Patrioten reagierten schon auf das Wort "Vertrag" allergisch, behauptete Nikoforowa, es sei für sie gleichbedeutend mit "Verrat": "Unsere Patrioten sind sich sicher, dass jedes Friedensabkommen nur eine 'Überlistung' sein kann. Und auch im Vorfeld, als Zaungäste, kritisieren sie alle Vorschläge." RIA Nowosti ließ es nicht nehmen, eine seltsame historische Parallele zu ziehen: 1667 habe Russland die Region Kiew erst mal auf zwei Jahre von Polen gepachtet und schließlich käuflich erworben. Hundert Jahre später sei Polen durch Teilungen von der Landkarte verschwunden.

"Es bedarf einer Pause"

Bei den Bloggern wird die neue Gangart des Kremls rege diskutiert. Offenbar habe Putin gemerkt, dass der Krieg kein "Sprint", sondern ein "Marathonlauf" sei, urteilte einer der Beobachter: "Da sich herausstellte, dass das Rennen noch lange währen wird, müssen Strategie und Taktik angepasst werden." Putin habe wohl nicht mit einem Kampf dieser Intensität und einem solchen Durchhaltevermögen des Westens gerechnet: "Es bedarf einer Pause". Schon vor dem Angriff auf die Ukraine habe Putin gegenüber Schülern mal auf den Nordischen Krieg verwiesen, der von 1700 bis 1721 dauerte und äußerst wechselvoll verlief, um auf das russische Stehvermögen hinzuweisen.

Russische Soziologen seien "zuversichtlich", dass die Masse der Gesellschaft das "Einfrieren" des Konflikts entlang der erreichten Front begrüßen würde, heißt es in einer ausführlichen Analyse eines kremlnahen Blogs: "Wie die Fokusgruppendiskussionen zeigen, würde dieses Ergebnis als kostbar anerkannt, andererseits liegt sein größter Vorteil darin, dass damit weitere Mobilisierungsmaßnahmen überflüssig wären. Das liegt größtenteils im öffentlichen Interesse." Umfragen zeigten, dass die Mehrheit den "Ausnahmezustand und den zwanghaften Diskurs, der von einigen Abgeordneten der Staatsduma und Fernsehpropagandisten aktiv betrieben wird, emotional satt" habe: "Solche Mobilisierungsbotschaften wirken bei einem schmalen Segment der Ultra-Nationalisten, doch auch bei ihnen ist der Erschöpfungseffekt offensichtlich."

"Mehrheit will Druck nicht verstärkt sehen"

Die meisten wollten einfach wieder ihren Alltag zurück: "Mit Beginn der Spezialoperation hat der Staat die patriotischen Stimmen in der öffentlichen Debatte deutlich gestärkt. Nun, der öffentlichen Meinung nach zu urteilen, akzeptiert die Gesellschaft diesen Ansatz zwar, möchte aber den ideologischen und anderen Druck seitens der Behörden nicht verstärkt sehen." Es gehe deshalb dem Kreml darum, die Lage zu "stabilisieren" und wieder die Wirtschaft- und Sozialpolitik in den Vordergrund zu rücken. Entsprechend waren nach Informationen von Insidern auch staatlich gesteuerte Massenmedien angewiesen worden.

Dazu passt, dass selbst propagandistische Scharfmacher wie der russische Parlamentspräsident Wolodin neuerdings geflüchtete Russen auffordern, doch bitte zurück zu kommen. Es soll sich um mehrere hunderttausend Bürger handeln. Der besonders rabiate Kriegsbefürworter wurde schon spöttisch als "Friedenstaube" bezeichnet. Blogger hielten Wolodins Aufforderung an Exilanten für eine Art "Psychotherapie"-Versuch: "Es ist wichtig, die Rückkehr von Geflüchteten zu erleichtern, um den verbleibenden Andersdenkenden zu zeigen, dass 'es nicht so schlimm ist', die Leute wieder einreisen, die Wirtschaft sich erholt und man sich nicht so viele Sorgen machen sollte."

Dagegen hofft der Philosoph Dugin immer noch auf einen Sieg der Extremisten. Die "liberale" Elite habe keine Möglichkeiten mehr, an der Macht zu bleiben, denn die bewaffneten Kräfte seien allesamt an der Front und auch eine weitere denkbare Methode scheide aus: "Es wäre möglich, die Bevölkerung mit materiellem Komfort zu kaufen, aber dafür fehlen die Ressourcen und die hypnotische Faszination des Westens funktioniert nicht mehr."

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