Der Goldene Löwe der Filmfestspiele Venedig geht an "Poor Things" des griechischen Filmregisseurs Yorgos Lanthimos.
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Der Goldene Löwe der Filmfestspiele Venedig geht an "Poor Things" des griechischen Filmregisseurs Yorgos Lanthimos.

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Filmfestspiele Venedig: Das war's – war's das?

Der Goldene Löwe der 80ten Filmfestspiele von Venedig geht an die wilde Frankensteinvariation "Poor Things" des griechischen Filmregisseurs Yorgos Lanthimos. Die US-Stars Cailee Spaeny und Peter Sarsgaard werden als beste Schauspieler ausgezeichnet.

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Jeder gute Film reflektiert unseren Blick auf die Welt. Bella Baxter, die Hauptfigur von "Poor Things“, eine junge Frau um die 30, muss das Leben erst wieder ganz neu lernen. Wie ein Kleinkind, mit unbeholfenen Bewegungen, unsicher und wackelig, läuft sie sich durch das Haus in London, in dem sie wohnt. Sie ist anfangs eher ein Geschöpf als ein Mensch. Befremdlich und irritierend. Der Grieche Yorgos Lanthimos erzählt von einer Frau, die Selbstmord begangen hat und die ein Wissenschaftler reanimiert. Er pflanzt ihr das Gehirn ihres ungeborenen Baby ein.

Vorurteilsfreie, sexuell freizügige Hauptfigur

Mit Elementen des Horrorfilms schafft Yorgos Lanthimos eine feministische Frankensteinversion, eine berauschende wilde Emanzipationsgeschichte, die sich als überraschend vielschichtig erweist. Bella Baxter durchschreitet die Entwicklungsstufen einer Heranwachsenden im Körper einer Erwachsenen mit Siebenmeilenstiefeln. Anale Phase, Trotzphase, Pubertät, beginnende Empathie, Selbstreflexion, wachsende Urteilskraft. Da Bella die Welt nicht kennt, stellt sie Fragen. Etwa beim Blick von einem erhöhten Luxushotel hinunter in einen Slum. Sie ist entsetzt, dass arme Menschen arm sind und niemand ihnen hilft.

Lanthimos greift nach "The Lobster" und dem royalen Drama "The Favourite" wieder das Motiv des physisch und sozial eingesperrten Menschen auf. Ein visuell faszinierender, im besten Sinne verstörender Bildertrip hat in Venedig den Goldenen Löwen gewonnen – "Poor Things".

Auszeichnung für die besten Akteure

Die US-amerikanische Schauspielerin Emma Stone gilt nun mit ihrer umwerfenden Darstellung der Bella Baxter als Oscarfavoritin – wie auch der Film "Poor Things" überhaupt, übrigens eine britische Produktion. Die Schauspielpreise gingen in Venedig aber an Andere. Die junge Cailee Spaeny gewann die Copa Volpi für ihre Darstellung der Priscilla Presley in der gelungenen Filmbiografie von Sofia Coppola über die Frau an Elvis Seite. Und Peter Sarsgaard wurde für seine Rolle als dementer Mann in dem Beziehungsdrama "Memory" von Michel Franco ausgezeichnet. Er erinnerte bei seiner Dankesrede daran, warum die Schauspielerinnen und Schauspieler in Hollywood streiken: Es gehe nur in zweiter Linie um Honorare – wichtig sei ihnen allen vor allem der zukünftige Umgang mit künstlicher Intelligenz in der Filmbranche. Da brauche es klare Regeln. Schauspieler und Komparsen könnten bald durch digitale Avatare ersetzt werden, durch Maschinen, mit denen ein paar reiche Menschen auf dieser Erde noch reicher werden würden …

Rechtsruck bei der Biennale?

Bedroht ist auch die Biennale von Venedig selbst in all ihren Sektionen – von der Bildenden Kunst über die Architektur bis zum Kino. Trotz großer Erfolge vor allem auch bei einem jüngeren Publikum wird Roberto Cicutto, der aktuelle Präsident der Biennale, wohl demnächst durch Pietrangelo Buttafuoco ersetzt, einen ultrarechten Postfaschisten aus dem Umkreis der italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni. Er war auch schon für das Amt des Kulturministers gehandelt worden – jetzt wird er wohl Leiter der Biennale. Was das im Einzelnen bedeutet, inwieweit er das Programm etwa auch der Mostra del Cinema prägen wird, lässt sich noch nicht sagen. Aber dass erschütternde kritische Filme über die weltweiten Migrationsbewegungen und europäische Verfehlungen wie "Green Border" von Agnieszka Holland oder "Io Capitano" von Matteo Garrone in den Wettbewerb eingeladen werden und dort auch Silberne Löwen gewinnen, wie gestern Abend passiert, kann bezweifelt werden.

Weitere Preise

Den großen Preis der Jury erhielt der japanische Regisseur Ryusuke Hamaguchi für seinen Film "Evil Does Not Exist" (japanisch: "Aku wa sonzai shinai"). Den Preis für das beste Drehbuch erhielten Pablo Larraín und Guillermo Calderón für "El Conde". Der Marcello-Mastroianni-Preis für den besten Jungdarsteller ging an Seydou Sarr im Film "iIo capitano".

Heftige Diskussionen und Debatten um die Filme

Die Filmfestspiele Venedig, die am 30. August begonnen hatten, zählen neben den Filmfestspielen in Cannes und der Berlinale zu den drei bedeutendsten in Europa. Im diesjährigen Wettbewerb hatten 23 Werke um die Preise konkurriert.

Der Vorsitzende der Jury, der US-amerikanische Regisseur Damien Chazelle, erklärte, alle in der Jury seien beeindruckt gewesen "von der Bandbreite der Filme, und wir waren auch beeindruckt von der Bandbreite der Reaktionen", so der 38-Jährige. Er habe daraus die Erfahrung mitgenommen, "wie leidenschaftlich, unterschiedlich und manchmal sogar heftig die Diskussionen und Debatten sein konnten, die durch diese Filme angeregt wurden."

Überschattet wurde das berühmte Festival vom anhaltenden Streik der Schauspieler und Schauspielerinnen in Hollywood, viele Stars blieben deshalb der italienischen Lagunenstadt fern. So fanden die Premieren der Frankenstein-Variation "Poor Things" und der Leonard-Bernstein-Biografie "Maestro" ohne ihre Hauptdarsteller Emma Stone und Bradley Cooper statt.

Mit Material von dpa und AFP.

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