Archivbild, 20.03.2024: Finanzminister Lindner im Gespräch mit Bundeskanzler Scholz
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Wenige Tage vor ihrem 75. Bundesparteitag sorgt die FDP für massiven Krach in der Ampelkoalition.

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Provoziert die FDP den Kanzlerwechsel?

Mit dem Zwölf-Punkte-Papier der FDP zur Wirtschafts- und Sozialpolitik kommt die Frage auf: Wiederholt sich die Geschichte? Bedeuten die Forderungen nach Einschnitten ähnlich wie das "Lambsdorff-Papier" 1982 nun das Ende der Koalition?

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Jobverweigerern das Bürgergeld sofort um 30 Prozent kürzen, die abschlagsfreie Rente mit 63 abschaffen: Wenige Tage vor ihrem 75. Bundesparteitag in Berlin und sieben Wochen vor den Wahlen zum EU-Parlament sorgt die FDP mit ihrer Forderung für massiven Krach in der Ampel-Koalition. Wieder einmal. Ist das also nur eine weitere Episode in einem schon lange währenden Beziehungsdrama oder könnte die Trennung tatsächlich kurz bevorstehen?

"FDP will Kernklientel bei der Stange halten"

Zunächst sei auch das Zwölf-Punkte-Papier der FDP als weitere Taktik zu werten, meint Professor Wolfgang Schroeder, Politologe und Parteienforscher an der Universität Kassel, gegenüber dem BR. "Sie will damit unbedingt ein Momentum schaffen, um wenigstens noch ihre Kernklientel bei der Stange zu halten und als Wähler zu binden."

Schaut man auf die Umfragewerte, dann erschließt sich, dass sich die FDP im "freien Fall befindet", wie der Verleger und Publizist Wolfram Weimer bei Focus online erklärt. Alle in der Ampel-Regierung eingebundenen Parteien sind seit der Bundestagswahl 2021 in den Umfragen abgerutscht, bei der FDP aber geht es um die Existenz im Bundestag. Sie pendelt zwischen vier und fünf Prozent, das ist ein Tanz auf der politischen Rasierklinge.

Im Video: Politikwissenschaftler Albrecht von Lucke

Politikwissenschaftler Albrecht von Lucke
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Politikwissenschaftler Albrecht von Lucke

Schicksal der Westerwelle-FDP ist der Horror für Lindner

Offenbar aber ist FDP-Chef Christian Lindner für seine FDP entschlossen, nicht das gleiche Schicksal wie die Westerwelle-FDP zu erleiden. Die war nach einem Rekordergebnis von 2009 vier Jahre später an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert und musste in die außerparlamentarische Opposition. Dass sie sich dort mühsam regenerierte, ist zweifelsohne Lindners Verdienst. Laut Publizist und Verleger Weimar mache in internen Zirkeln immer häufiger das Wort von der "Genscher-Wende" die Runde. Will heißen, ähnlich wie der damalige Bundesaußenminister und FDP-Chef, Hans-Dietrich Genscher, würde Lindner im Falle, dass es zu einem Misstrauensvotum gegen SPD-Kanzler Olaf Scholz käme, seine Fraktion zusammen mit der Unions-Fraktion gegen Scholz und damit den Fortbestand der Ampel-Regierung abstimmen lassen.

"Regierungswechsel momentan nicht real"

Doch wie realistisch ist dieses Szenario? "Momentan ist so ein Regierungswechsel nicht real", meint der Politologe Schroeder. FDP und Union verfügen im Bundestag über zu wenige Mandate, um gemeinsam eine Regierung bilden zu können. Aber es gibt auffallend viele Parallelen zwischen 2024 und 1982. Das letzte Jahr der sozialliberalen Regierung unter Kanzler Helmut Schmidt mit der FDP war von Haushaltslöchern, Wachstumsschwäche und ständigem Zoff geprägt. Wolfgang Schroeder sagt: "Die SPD war zudem im Inneren erschöpft, Kanzler Schmidt wurde von seiner Partei nicht mehr getragen." Am 9. September 1982 legte Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff von der FDP dann umfangreiche Vorschläge zur Dynamisierung der Wirtschaft vor.

Im Video: Bayerns FDP-Chef Hagen im Gespräch

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Parallelen zum Regierungswechsel von 1982

Gleichzeitig empfahl er, Abstriche beim Arbeitslosen- und Wohngeld sowie bei der Sozialhilfe zu machen. Für die SPD war das damals das "Scheidungspapier", für die Liberalen dagegen eine "Vorwärtsstrategie". Damals grassierte eine Arbeitslosigkeit von fast sieben Prozent, Tendenz steigend.

Am 1. Oktober fand dann das Misstrauensvotum stand, was das Ende der sozialliberalen Koalition und den Beginn der Ära Helmut Kohl bedeutete. Auch heute ist der wirtschaftliche Hintergrund, vor dem sich die Zerwürfnisse zwischen FDP, SPD und Grünen abspielen, grau eingetrübt. Laut der Prognose des Internationalen Währungsfonds wird das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in Deutschland 2024 gerade mal um 0,2 Prozent wachsen. Es herrscht also Stagnation. Während andere Industrienationen deutlich wachsen, sogar boomen.

Inhaltlich legt FDP den Finger in eine Wunde

In Deutschland ist der Arbeitskräftemangel ein eklatantes Problem, das die Leistungsfähigkeit der Industrie hemmt. Deshalb sei, so Professor Schroeder, es durchaus richtig, dass die FDP den Finger in die Wunde lege. "Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass SPD und Grüne beim Sozialstaat durchaus überdrehen." Sein Kollege Constantin Wurthmann von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg argumentiert, dass "Leistungsgerechtigkeit eine zentrale Idee der liberalen Erzählung sei". Der Professor für Vergleichende Politikwissenschaft hebt gegenüber dem BR auch hervor, dass die FDP-Führung innerparteilich unter großem Druck stünde: "Während die CDU ein wirtschaftspolitisches Programm beschlossen hat, welches im Wesentlichen viel des Geistes der FDP trägt."

FDP und CDU wetteifern um Wirtschaftskompetenz

Es spielt sich derzeit ein scharfer Wettbewerb zwischen Liberalen und CDU darum ab, wer sich den Wählerinnen und Wählern mit der besseren Wirtschaftskompetenz präsentiere. Erst vorletzte Woche brachte die Fraktion unter Führung von Friedrich Merz einen Antrag mit vielen Vorschlägen zur Belebung der Wirtschaft in den Bundestag ein. Denn die Themen, die die Deutschen politisch umtreiben, sind neben der Migration vor allem die schlechte Wirtschaftslage.

Alles also nur wieder ein Sturm im Wasserglas? Der Publizist Weimer glaubt, dass es Lindner diesmal ernst meine und einen Bruch der Ampel provoziere. "Es ist der einzige Weg, den die FDP noch hat." Ganz anders analysiert Professor Schroeder die Lage und Lindners Vorgehen. "Bei den Liberalen innerhalb der Koalition ist inzwischen alles zum Spiel geworden. Die haben kein Limit mehr und schießen auf alles."

Im Video: Die FDP will die deutsche Wirtschaft ankurbeln und dafür bei Sozialleistungen sparen

Die FDP will die deutsche Wirtschaft ankurbeln und dafür bei Sozialleistungen sparen. In einem Zwölf-Punkte-Papier hat die Parteispitze die abschlagsfreie Rente ab 63 und das Bürgergeld im Visier.
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Die FDP will die deutsche Wirtschaft ankurbeln und dafür bei Sozialleistungen sparen.

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