Bundesgesundheitsminister Jens Spahn
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Beeinflussten Verwandtenbesuche im Ausland die Infektionszahlen?

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn behauptet, die Hälfte der Corona-Infektionen im Sommer 2020 sei auf Verwandtenbesuche in Herkunftsländern von Migranten zurückzuführen. Handfeste Beweise gibt es dafür nicht. Ein #Faktenfuchs.

Jetzt, wo die Inzidenz in Deutschland und anderen Ländern wieder sinkt, buchen viele Deutsche ihren Sommerurlaub. Ähnlich wie im vergangenen Sommer stellt sich deshalb die Frage, welche Gefahr von Urlaubern ausgeht, die sich im Ausland mit dem Coronavirus anstecken und es nach Deutschland "einschleppen".

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn äußerte sich dazu am 23. Mai in der "Bild am Sonntag". In Bezug auf den Sommer 2020 sagte Spahn:

"Damals haben die Auslandsreisen, häufig Verwandtschaftsbesuche in der Türkei und auf dem Balkan, phasenweise rund 50 Prozent der Neuinfektionen bei uns ausgelöst. Das müssen wir in diesem Jahr verhindern."

Auf diese Aussage hin musste Spahn viel Kritik einstecken. Auf Twitter wurde ihm Populismus vorgeworfen. "Spahn hätte schlicht die Reisen als Grund benennen können, dass es zu einem Anstieg im Sommer kam. (...) Die Verwandtenbesuche aber so herauszustellen, ist populistisch", schreibt eine Userin. "Wo sind die klaren Nachweise?", fragt ein anderer User.

Richtig ist: Für Spahns Behauptung gibt es Indizien, aber keine handfesten Beweise. Das hat der #Faktenfuchs recherchiert.

Reiserückkehrer und die "Sommerferienwelle"

Die Quelle für Spahns Aussage war das Robert Koch-Institut (RKI), wie das Bundesgesundheitsministerium dem #Faktenfuchs auf Anfrage mitteilt. In einem Interview mit “RTL/ntv” verteidigte Spahn die Formulierung und verwies auf Lageberichte des RKI.

Im Lagebericht vom 25. August 2020 hat das RKI die 15 Länder zusammengestellt, die bei übermittelten Covid-19-Fällen am häufigsten als Infektionsland genannt wurden. Neben Deutschland waren das laut RKI Ende Juli und Anfang August 2020 am häufigsten Länder des Westbalkans, Kroatien, die Türkei, Bulgarien, Spanien und Rumänien.

Im Bericht wird außerdem das Alter der Corona-Infizierten analysiert. Die Schlussfolgerung: Da bei Fällen mit Angabe "Kosovo" oder "Türkei" eher Kinder und Personen mittleren Alters betroffen waren, sei das ein Hinweis auf mögliche Reisen im Familienverbund. Bei Fällen, wo das wahrscheinliche Infektionsland Spanien, Kroatien oder Bulgarien war, seien eher 20 bis 29-Jährige betroffen gewesen, was auf Vergnügungstourismus hindeute.

Doch Vorsicht: All das sind Theorien. Empirische Belge gibt es nicht. Da der Reisegrund der Infizierten nicht erfasst wird, kann man anhand der Daten nicht unterscheiden, ob sich ein Infizierter bei einer touristischen Reise oder einem Verwandtschaftsbesuch angesteckt hat. Auch die Annäherung über das Alter der Corona-Infizierten ist nur bedingt aussagekräftig, schließlich reisen Eltern mit ihren Kindern auch ins Ausland, um Urlaub zu machen – und nicht nur, um Verwandte zu besuchen.

Unter den beliebtesten Urlaubsländern der Deutschen sind laut einer Auswertung des Deutschen Reiseverbands für 2020 übrigens nicht nur Spanien, Frankreich und Italien, sondern auch Länder wie die Türkei, Kroatien oder Polen.

Haben Verwandtenbesuche 50 Prozent der Infektionen ausgemacht?

Spahn sagt im Interview auch, dass Auslandsreisen "phasenweise rund 50 Prozent der Neuinfektionen" ausgelöst hätten. Blickt man nur auf die Daten, stimmt seine Aussage. In der Woche vom 17. bis zum 23. August - dem Höhepunkt der "Sommerferienwelle" – waren 48 Prozent der Neuinfektionen auf Infektionen im Ausland zurückzuführen, wie eine Analyse des RKI belegt. In diesem Zeitraum hatten die Bundesländer Sommerferien, in denen mehr als 70 Prozent der deutschen Bevölkerung leben.

Aber die 50 Prozent der Neuinfektionen beziehen sich auf eine Zeit, in der es in Deutschland sehr niedrige Fallzahlen gab. Wenn das RKI von einer "Sommerferienwelle" spricht, dann ist damit der phasenweise Anstieg der zu dem Zeitpunkt relativ niedrigen Corona-Fallzahlen während der Sommerferien gemeint.

Weniger Tests in Ländern, die keine Risikogebiete waren

Einerseits bezieht sich Spahns Aussage also auf eine Zeit, in der es ohnehin verhältnismäßig wenig Corona-Fälle gab. Andererseits haben die Daten, auf die er sich stützt, begrenzte Aussagekraft.

Denn Reiserückkehrer, die aus Risikogebieten wieder nach Deutschland eingereist sind, wurden verstärkt getestet, sagt der Epidemiologe Timo Ulrichs von der Akkon Hochschule für Humanwissenschaften in Berlin. "Bei Nicht-Risikogebieten wurde wenig bis gar nicht getestet und bei Risikogebieten dafür umso mehr", so Ulrichs. Das führe zu einer Verzerrung, weil diejenigen, die von Verwandtenbesuchen aus Risikogebieten wie der Türkei oder Kosovo zurückkehrten, überproportional häufig in der Statistik vertreten seien. Spanien zum Beispiel wurde laut RKI erst im Laufe der Sommerferien als Risikogebiet erklärt - ein Test war bis dahin also möglich, aber nicht vorgeschrieben.

Fokus auf Menschen aus Einwandererfamilien

Kritik erntete Spahn dafür, speziell Verwandtschaftsbesuche von Menschen mit Migrationshintergrund in den Fokus zu stellen – und nicht etwa alle Reiserückkehrer. "Für mich scheint das schon eine willkürliche Zuschreibung zu sein", sagte die Migrationsforscherin Aleksandra Lewicki von der britischen University of Sussex im Gespräch mit dem #Faktenfuchs. Studienergebnisse dazu, ob es bei Verwandtenbesuchen anteilig zu mehr Infektionen kommt als bei touristischen Reisen, gibt es nicht.

Der Kontext des Interviews legt nahe, dass Verwandtschaftsbesuche von Menschen aus Einwandererfamilien in Verbindung mit der zweiten Corona-Welle stehen. Laut Ulrichs gibt es aber keinen Zusammenhang zwischen den leicht erhöhten Corona-Fallzahlen im August und dem Beginn der zweiten Welle im Oktober. "Es ist viel wahrscheinlicher, dass die Menge der Viren einfach zugenommen hat – saisonal bedingt und durch nicht-stringente Eindämmungsmaßnahmen", sagt Ulrichs. "Das hat dann zu der Welle geführt, nicht nur einzelne Reisetätigkeiten aus Risikogebieten." Auch im Bericht des RKI wird zwischen den reisebedingten Corona-Infektionen und der zweiten Welle kein Zusammenhang hergestellt.

Wird es dieses Jahr wieder so kommen?

Nein, die Bedingungen seien andere als im letzten Sommer, sagt Epidemiologe Ulrichs. Saisonal bedingt zirkulieren in den Sommermonaten weniger Viren. Gleichzeitig werde das Infektionsrisiko durch die Durchimpfung der Bevölkerung weiter gesenkt. "Auch wenn wir die Herdenimmunität in unseren Nachbarländern noch nicht erreicht haben – in Deutschland ja auch nicht – ist das Risiko schon stark reduziert", so Ulrichs. Man müsse aber darauf achten, wo welche Virusvarianten besonders stark vertreten sind und zurückgebracht werden könnten.

Über alle Virusvarianten hinweg könne man für den Sommer aber sagen: "Wir haben eine andere Situation, weil wir nicht mehr dieses hohe Weitergaberisiko haben".

Fazit

In einem Interview mit der "Bild am Sonntag" behauptete Jens Spahn, Verwandtenbesuche im Westbalkan und der Türkei wären für 50 Prozent der Infektionen im vergangenen Sommer verantwortlich gewesen. Richtig ist: Insgesamt entfiel laut Zahlen des RKI knapp die Hälfte der Infektionen Mitte August 2020 auf Reiserückkehrer. Die verfügbaren Daten enthalten jedoch keine Hinweise auf den Reisegrund. Eine Unterscheidung in touristische Reisen und Verwandtenbesuche, wie Spahn sie macht, ist also aufgrund der Daten nicht möglich.

Experten sagen aber: Weil Reiserückkehrer aus Risikogebieten wie den Balkanstaaten deutlich häufiger getestet wurden, tauchten sie auch öfter in der Statistik auf – im Gegensatz zum Beispiel zu Reiserückkehrern aus Spanien, für die ein Corona-Test lange nicht verpflichtend war, weil Spanien erst im Laufe der Sommerferien zum Risikogebiet erklärt wurde.

*14.06.2021, 13.00 Uhr: Den Satz: "Neben Deutschland waren das laut RKI Ende Juli und Anfang August 2020 am häufigsten Länder des Westbalkans, die Türkei, Bulgarien, Spanien und Rumänien" haben wir im Text präzisiert und um Kroatien ergänzt. Kroatien wurde vorher unter Länder des Westbalkans gefasst; seit Kroatien 2013 der EU beigetreten ist, wird das Land jedoch meist nicht mehr zum Westbalkan gezählt.

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