Ein Verkäufer hält einen Stapel des Sozialmagazins Straßenkreuzer in der Hand.
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2,70 Euro kostet das Nürnberger Sozialmagazin Straßenkreuzer, Trinkgeld ist erwünscht. Denn damit verdienen die Verkäufer ihr Geld.

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Wie der Straßenkreuzer Menschen in Not ihre Würde zurückgibt

Wer arm oder obdachlos ist, steht oft am Rand der Gesellschaft. Mit dem Verkauf des Sozialmagazins "Straßenkreuzer" gewinnen Betroffene im Raum Nürnberg ihre Würde zurück, denn sie verdienen ihr eigenes Geld – und sie bauen Vorurteile ab.

Über dieses Thema berichtet: Frankenschau am .

Freitagmorgen in Nürnberg, Wochenmarkt auf dem Koberger Platz. Zwischen den Gemüse-, Obst- und Blumenständen steht Steve Zeuner. Er arbeitet hier als Straßenkreuzer-Verkäufer. Nach kurzer Zeit erscheinen die ersten Stammkundinnen. Viele warten schon auf die neue Ausgabe des Sozialmagazins. Sie kaufen es immer bei Steve Zeuner, weil sie ihn schon lange kennen und wissen, dass sie ihn damit unterstützen können.

Jule Nebel-Linnenbaum ist eine der Stammkundinnen. Sie kauft den Straßenkreuzer aus Überzeugung. "Jeder von uns könnte unter der Brücke landen, mich eingeschlossen", sagt sie. "Ich finde es immer toll, wenn Leute sich wieder aufrappeln."

Kein guter Start ins Leben

Als Steve Zeuner noch klein ist, lassen sich seine Eltern scheiden. Der Stiefvater ist gewalttätig, der Junge landet im Heim. Mit 18 strandet er am Nürnberger Hauptbahnhof. Ohne Geld, ohne Schulabschluss, ohne Dach über dem Kopf. Steve Zeuner konsumiert Alkohol und Drogen. Durch Zufall erfährt er vom Sozialmagazin Straßenkreuzer – mit dem Verkauf könne man sich ein bisschen was dazuverdienen, heißt es. 26 Jahre ist das her. Steve Zeuner ist immer noch dabei. Die Arbeit beim Straßenkreuzer gibt ihm Halt.

"Der Straßenkreuzer, kann ich sagen, ist mein Leben. Vielleicht auch mein Baby. […] Ohne den Straßenkreuzer wäre Nürnberg nicht mein Nürnberg." Steve Zeuner, Straßenkreuzer-Verkäufer

Hochwertiges Magazin von Journalisten

Ein Heft, das auf die Sorgen von Menschen hinweist, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen, schwebte den Gründerinnen und Gründern damals vor knapp 30 Jahren vor. Hilfe zur Selbsthilfe ist der Grundgedanke: Zwei Mark fünfzig kostet der Straßenkreuzer damals. Eine Mark fünfzig gehen an die bedürftigen Frauen und Männer.

Heute zahlen die Kundinnen und Kunden zwei Euro siebzig. Viele geben zusätzlich Trinkgeld – und bekommen dafür ein hochwertiges Magazin mit interessanten Beiträgen und guten Fotos. Die Artikel werden von ausgebildeten Journalisten geschrieben, darauf legt die Redaktion schon Anfang der 1990er Jahre großen Wert.

"Straßenkreuzer"-Verkauf gibt Selbstbewusstsein

Walter Grzesiek ist Gründungsmitglied und Vorstandsvorsitzender des Straßenkreuzer-Vereins. Anfangs waren die Verkäuferinnen und Verkäufer noch recht schüchtern, mussten im Umgang mit der Kundschaft geschult werden, erinnert er sich. Heute stünden sie viel selbstbewusster da. Das liege nicht zuletzt an den Gesprächen mit den Kundinnen und Kunden, die merkten, dass das Gegenüber ein Mensch sei wie sie selbst. Ein Mensch, der es nicht leicht im Leben hatte, den man auch mal mit anderen Dingen unterstützen könne als nur durch den Kauf des Magazins. "Es sind Leute, die sich nicht verstecken, sondern in der Öffentlichkeit für ihr Produkt stehen", sagt Walter Grzesiek. Das sei in gewisser Weise ihr Lebensschicksal.

Im Fokus steht die Menschlichkeit

Die Themen im Straßenkreuzer sind oft alles andere als leicht verdaulich: Es geht unter anderem um Armut, Obdachlosigkeit, Arbeitslosigkeit. Und trotzdem will Redakteurin Alisa Müller die Leserinnen und Leser gut unterhalten. Dabei helfen ihr oft die Lebensgeschichten der Verkäuferinnen und Verkäufer weiter. Durch ihre Erzählungen könne man ihre menschliche Seite zeigen und müsse sie nicht auf ihre Armut reduzieren. "Das sind Menschen mit vielen Fähigkeiten. Und das wollen wir auch so beleuchten", erklärt Alisa Müller.

Führungen zur armen Seite Nürnbergs

Seit 15 Jahren bietet der Verein auch Stadtführungen an. Straßenkreuzer-Verkäufer Steve Zeuner ist dafür fest beim Straßenkreuzer-Verein angestellt. Touristen-Hotspots spielen auf seiner Route keine Rolle. Der 44-Jährige steuert Anlaufpunkte für Arme, Süchtige und Wohnungslose an, zeigt die andere, die arme Seite Nürnbergs. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sollen bei der Stadtführung Berührungsängste abbauen und Verständnis für Menschen in Not entwickeln.

Straßenkreuzer-Uni: Bildung für alle

Seit 2010 gibt es auch noch eine Straßenkreuzer-Uni. Zu den Vorträgen und Workshops darf jeder kommen, der wissbegierig ist auf Neues – völlig unabhängig von Einkommen oder Schulabschluss. Obdachlose, Unternehmer, Hochschulprofessoren, Menschen mit Behinderung, Menschen in Armut, Medienschaffende – sie alle sitzen nebeneinander im Publikum oder halten Vorträge.

Die Straßenkreuzer-Uni bietet Themen an, die jeden interessieren, kostenfrei und niederschwellig. Im laufenden Wintersemester geht es unter anderem um Künstliche Intelligenz. Dies alles macht dieses Bildungsangebot aus Sicht von Severine Wahl, der Verantwortlichen der Straßenkreuzer-Uni, gerade für Obdachlose oder arme Menschen so besonders. "Sie empfinden keine Scham, wenn sie das Angebot nutzen."

Nicht nur Unternehmen, sondern auch Familie

Dass er damals beim Straßenkreuzer "gelandet" ist, nennt Steve Zeuner heute ein großes Glück. Viele Menschen im Verein hätten an ihn geglaubt, ihm eine zweite Chance gegeben, ihn auf seinem langen Weg begleitet. Für Steve Zeuner ist der Straßenkreuzer wie eine Familie. Ob als Magazin-Verkäufer, Stadtführer oder als Student – der 44-Jährige hat wieder einen Platz in der Mitte der Gesellschaft gefunden.

Kalender und Ausstellung zum "Dreißigsten"

Im Jahr 2024 wird der Straßenkreuzer 30. Das Straßenmagazin hat deshalb einen Kunstkalender mit dem Titel "Raum-Teiler" herausgebracht. Das Thema dabei ist der öffentliche Raum und wie Menschen ihn erleben bzw. wie er ihnen angeboten wird. Eine Ausstellung im Foyer des Neuen Museum Nürnberg mit dem Titel "Raum-Teiler – 30 Jahre Straßenkreuzer" präsentiert derzeit die Hintergründe zu den Motiven des Kalenders und gibt Einblicke in die Geschichte des Straßenkreuzer-Vereins. Die Ausstellung ist kostenfrei und läuft noch bis zum 21. Januar 2024.

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