Patrick auf dem Gelände des Bezirkskrankenhauses in Lohr am Main.
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Patrick auf dem Gelände des Bezirkskrankenhauses in Lohr am Main.

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Drohende Obdachlosigkeit: Wenn Menschen aus dem System fallen

Kinder und Jugendliche, die wegen Entwicklungsstörungen oder geistigen Behinderungen gewalttätig werden, brauchen intensive Betreuung in speziellen Einrichtungen. Doch wegen des Personalmangels fehlt es an Wohn-Gruppen – mit schwerwiegenden Folgen.

Über dieses Thema berichtet: Der Funkstreifzug am .

Patrick eckt immer wieder an, weil er seine Wut nicht kontrollieren kann. Er kommt mit Veränderungen nicht zurecht und reagiert darauf teilweise extrem. Der 20-Jährige hat eine diagnostizierte Entwicklungsstörung und eine geistige Behinderung.

Aktuell ist er im Bezirkskrankenhaus für psychische Erkrankungen in Lohr untergebracht. Seine Behandlung dort wird allerdings bald abgeschlossen sein. Wo er im Anschluss leben kann, ist unklar. Ende August musste er seine Jugend-Wohngruppe verlassen, weil er mit 20 Jahren zu alt dafür ist. Die Akutpsychiatrie ist eine Zwischenlösung, aber auch eine Notlösung. Denn Patrick weiß nicht, wohin.

Mutter schafft die Betreuung körperlich und psychisch nicht

Bei seiner Mutter Sabine und dem Stiefvater wieder einzuziehen, ist unmöglich. Seit Jahren kämpft sie für ihren Sohn – heute fühlt sie sich ohnmächtig: "Das tut mir furchtbar leid für ihn. Selbst kann man es nicht richtig steuern. Es wird einem so schwer gemacht. Aber man muss irgendwie weitermachen."

Trotz monatelanger Suche findet sich für den 20-Jährigen kein Platz in einer Wohngruppe für Erwachsene. Das Angebot ist knapp, es fehlt an Personal. Vor allem in der Intensivpflege, wie Patrick sie bräuchte. Dort muss der Betreuungsschlüssel hoch sein – wegen des teils aggressiven Verhaltens der jungen Erwachsenen.

Bedarf offensichtlich nicht bekannt

Für Patrick ist der Bezirk Oberbayern zuständig. Denn seine Mutter Sabine, die auch seine gesetzliche Betreuerin ist, lebt in München. Der Bezirk erklärt auf Nachfrage, man habe der Mutter eine Liste mit geeigneten Einrichtungen zugesandt, mit der Bitte, dort anzurufen und auf die Dringlichkeit eines Betreuungsplatzes für Patrick hinzuweisen. Im Bezirk Oberbayern gebe es 130 Plätze in Intensivpflege-Einrichtungen für Erwachsene.

Allerdings wisse man nicht, wie groß der Bedarf ist: Daten zu Wartelisten liegen nicht vor. Auch das Bayerische Sozialministerium kann auf Anfrage hierzu keine Zahlen nennen: Die Gruppe der Betroffenen sei, "nicht eingrenzbar und sehr heterogen". Der Bedarf an Plätzen – und damit an Personal – ist offensichtlich nicht bekannt.

Fehlende Betreuungsplätze belasten Akutkliniken

Der Mangel an Betreuungsplätzen schlägt sich auch in der Psychiatrischen Klinik in Lohr am Main nieder: Allein auf Patricks Station leben derzeit drei weitere Personen, deren Behandlung eigentlich abgeschlossen ist, die gehen müssten, aber keinen Platz in einer Anschlusseinrichtung bekommen.

Ein massives Problem, sagt der ärztliche Direktor Professor Dominikus Bönsch: "Wir haben einen Rückstau von bis zu 20 Personen, die auf solche Plätze warten. Unser Spitzenreiter wartet seit sieben Jahren auf einen geeigneten Platz. Das ist unvorstellbar und unmenschlich. Aber das wird sich noch weiter zuspitzen", befürchtet er.

Versorgungslücke durch Personalmangel

Beate Otte-Frank vom Verein "Erleben, Arbeiten und Lernen", der zur evangelischen Jugendhilfe gehört, kritisiert das mangelnde politische Interesse. Betroffene wie Patrick seien keine Einzelfälle, aber sie stellten auch keine so große Gruppe dar, dass Handlungsdruck entstehe. Die Psychologin hat Patrick während seiner Zeit in einer Würzburger Wohngruppe für Jugendliche betreut. Zu ändern sei die aktuelle Situation nur mit mehr Personal, ist sie sich sicher.

Der Bezirk Oberbayern erklärt auf Anfrage, man sei dauerhaft bemüht, weitere Angebote zu schaffen. Aber: "Viele interessierte Leistungsanbieter ziehen leider ihre Angebote zurück oder legen ihre Planungen auf Eis, da sie wegen des aktuellen Fachkräfte- und Personalmangels die Versorgung der betroffenen Menschen nicht gewährleisten können. Wir bedauern dies sehr." Zugleich betont der Bezirk, dass er für die Personalgewinnung nicht zuständig ist. Er weise dennoch auf Landesebene immer wieder auf die Problematik hin.

Psychiatrie-Direktor: "Bald mehr Lücke als System"

Patrick hat ein Recht darauf, in seinem Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben unterstützt zu werden. Dazu gehören auch seine Bedürfnisse, wenn es ums Wohnen geht. So ist es im Bundesteilhabegesetz festgelegt. Das Bayerische Sozialministerium räumt ein, dass es angesichts des Personalmangels derzeit eine Herausforderung sei, das sicherzustellen. Gleichzeitig sieht das Ministerium hier aber wiederum die Bezirke in der Verantwortung.

Es zeigt sich: Es gibt viele unterschiedliche Zuständigkeiten, auch zwischen Sozial- und Gesundheitsministerium, während gleichzeitig der Bedarf wächst. Denn die Zahl und die Komplexität der psychischen Erkrankungen steigt, berichtet Professor Dominikus Bönsch vom Bezirkskrankenhaus Lohr am Main. Die Folge könnte sein, dass immer mehr Menschen durch die Lücken im System rutschen, warnt er. Die Ursache dafür sieht der Psychiatrie-Direktor vor allem in der starren Bürokratie: "Jeder ist nur für einen Teilbereich zuständig. Dass es aber viele Vermischungen gibt, die Fälle nie nur in eine Schublade passen, ist gar nicht mitgedacht."

Wohnungslosenhilfe als letzte Option

Patrick könnte deshalb nicht der erste sein, der aus einer Psychiatrie in die Obdachlosigkeit entlassen wird, bestätigt Michael Thiergärtner von der Wohnungslosenhilfe in Würzburg. Das komme immer wieder vor. Denn im bestehenden Hilfesystem gebe es zu wenig Spontanplätze. "Es ist oft so, dass die Wohnungsnotfallhilfe das letzte Netz ist, das noch gespannt ist." Hier bekommen die Menschen ein Dach über dem Kopf – zumindest für eine Nacht.

Der heute 20-Jährige wird schon sein ganzes Leben von Einrichtung zu Einrichtung gereicht. Dabei sind neue Situationen für ihn besonders schwer auszuhalten. Für Betroffene wie ihn ist das tragisch. Aber es hat auch Konsequenzen für die Gesellschaft, sagt Beate Otte-Frank vom Verein „Erleben, Arbeiten und Lernen“ in Würzburg. Denn wenn Menschen wie Patrick in der Obdachlosigkeit landen, könne das auch zu einem Sicherheitsproblem werden.

Folgen für die Gesellschaft

"So ein Mensch wird auffällig in der Obdachlosigkeit. Da werden sich Menschen bedroht fühlen. Die können kriminell und gewalttätig werden, sich selbst und anderen gegenüber", so Psychologin Beate Otte-Frank. Am Ende würden Menschen wie Patrick irgendwann weggesperrt und verwahrt. "Aber das sind ja keine Lösungen. Das ist eine moralische Frage: Ob wir bereit sind, uns auch für diese Menschen auf den Weg zu machen."

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