Viele Ukrainer besuchen mittlerweile in Deutschland/Bayern einen Sprach- und Integrationskurs
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Viele Ukrainer besuchen mittlerweile in Deutschland/Bayern einen Sprach- und Integrationskurs

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Sechs Monate Ukraine-Krieg: So geht es Geflüchteten in Bayern

Vor sechs Monaten ist der Krieg in der Ukraine ausgebrochen, 175.000 Ukrainer sind nach Bayern geflohen – mehr als vorgesehen waren, so das Innenministerium. Viele wollen hier in Sicherheit bleiben, einige sind schon in die Heimat zurückgekehrt.

Über dieses Thema berichtet: Abendschau - Der Süden am .

Das Deggendorfer Baseball-Vereinsheim vor einem halben Jahr: Stockbetten in jeder Kabine, Brettspiele und Malstifte am Boden, aus der Küche tönt Lärm, Lachen, Weinen. Die Sportstätte, sie wurde zum Zufluchtsort für rund 300 Geflüchtete aus der Ukraine. Heute ist das Vereinsheim wieder leer, wie viele andere Notunterkünfte in Bayern auch.

Ukrainische Geflüchtete: Selbstständig in neuer Heimat

Nach einem halben Jahr sind die meisten Geflüchteten aus der Ukraine registriert und haben Wohnungen gefunden. Und das dank ehrenamtlichen Helfern wie Viktorija Schüssler vom Deggendorfer Baseball-Vereinsheim: "Ich bin sehr froh, dass alle untergebracht sind – ich hatte unfassbar viel Hilfe, ansonsten wäre das nicht zu bewältigen gewesen. Nichtsdestotrotz sind meine Kräfte am Ende." Sie hat alles für ihre Landsleute gegeben. Jetzt versuchen die Ukrainer selbstständig in ihrer neuen Heimat Bayern zu leben.

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Vor sechs Monaten war die Notunterkunft im Deggendorfer Baseball-Vereinsheim voll - mittlerweile haben viele der Ukrainer eine Wohnung gefunden.

175.000 Ukrainer in Bayern registriert

Seit Kriegsbeginn vor genau einem halben Jahr sind knapp 970.000 Menschen, die im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine geflohen sind, in Deutschland eingereist. Wie das Bundesministerium für Migration und Flüchtlinge (BAMF) dem BR mitteilt, kann ein Teil davon bereits weitergereist oder wieder zurückgekehrt sein.

In Bayern haben sich seit Kriegsbeginn 175.000 ukrainische Geflüchtete registriert, wie Bayerns Innenminister Joachim Hermann (CSU) im BR-Interview sagt: "durchgereist sind deutlich mehr". Derzeit gebe es weniger Neuzugänge. Dennoch: Der Krieg ist noch nicht vorbei, immer noch fliehen Menschen aus der Ukraine. Alleine im August sind über 3.000 Ukrainer in Bayern aufgenommen worden – viele werden aber auch in andere Bundesländer weitergeleitet.

Bayern hat mehr Geflüchtete aufgenommen als vorgesehen

Das Verteilverfahren der ankommenden Ukrainer orientiert sich am sogenannten Königsteiner Schlüssel, der Bundesländer nach Einwohnern und Steueraufkommen aufteilt. Bayerns Innenminister weist im BR-Interview darauf hin, dass Bayern über 5.000 Geflüchtete aus der Ukraine mehr aufgenommen hat als vorgesehen war. "Das pendelt sich aber ein".

Dennoch werden viele weitergeleitet: Sollten Neuzugänge zum Beispiel in den Landkreis Deggendorf kommen, "müssen sie leider weiterverteilt werden", wie Christian Lorenz vom Landratsamt Deggendorf sagt. "Auch andere Bundesländer müssen helfen." Mit knapp 1.000 ukrainischen Geflüchteten habe man die Aufnahmekapazität im Landkreis Deggendorf erfüllt. Familiennachzüge würden aber weiterhin im Landkreis untergebracht, so Lorenz.

Diejenigen, die schon seit Monaten in Bayern leben, erzählen ihre ganz eigenen Geschichten: Ihnen allen ist jedoch gemein, dass sie ihre Heimat vermissen – doch mit dem Schmerz, der Wut und dem Heimweh gehen sie ganz unterschiedlich um.

Natalia: Vom Krieg gezeichnet – Krankenversorgung in Bayern

Natalia und ihre Familie sind im Juni nach Deggendorf gekommen – ihr Mann, ein Rechtsanwalt, hatte in der Ukraine gekämpft, ein Bein verloren, seine Hand wurde zertrümmert. Weil es in der Ukraine keine Möglichkeit für eine Behandlung gab, kam er nach Bayern, wurde in der Fachklinik in Osterhofen im Landkreis Deggendorf behandelt. Jetzt lernt er mit einer Prothese zu gehen.

Auf ihren Mann ist die 35-jährige Natalia Umrysch stolz – sie nimmt das Schicksal an, denn sie weiß: ihre Familie ist nicht die einzige, der es so ergangen ist. Die Familie ist auch dankbar: Das Ehepaar hat verzweifelt nach einer Wohnung gesucht und dank der Hilfe von Flüchtlingshelferin Schüssler eine gefunden. Jetzt gehen sie die nächsten Schritte: Registrierung, Jobsuche und vor allem Krankenversicherung. Sie wollen hier bleiben, in Sicherheit.

Natalia mit ihren beiden Kindern
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Natalia ist mit ihren beiden Kindern nach Deutschland geflohen - ihr Mann wurde im Krieg schwer verletzt und in Bayern behandelt.

Mariana: Wenn die Arbeit kurz vom Krieg ablenkt

Einen Schritt weiter ist die 45-jährige Mariana Vlasiuk: Sie hat bereits eine Arbeit in einem Plattlinger Supermarkt im Landkreis Deggendorf gefunden: "Wenn ich in der Arbeit bin, denke ich weniger an die Ukraine und den Krieg. Die Arbeit tut mir gut, sie lenkt mich ab, bringt mich auf andere Gedanken."

Dennoch hat sie täglich Kontakt mit ihren Eltern und den Daheimgebliebenen in der Ukraine. Am Telefon hört sie die Sirenen, die Angst, den Krieg. Das ist der Grund für Mariana, warum sie mit ihrer Familie in Deutschland bleiben will. Die 45-Jährige beginnt im Herbst einen Sprach- und Integrationskurs. Bis jetzt haben mehr als 12.000 Ukrainer in Bayern einen derartigen Integrationskurs begonnen, in ganz Deutschland über 82.000 Ukrainer, wie es vom BAMF heißt.

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Mariana (links) hat in einem Plattlinger Supermarkt bereits Arbeit gefunden und ist dankbar dafür - die Arbeit lenkt sie vom Krieg ab.

Anastasiia: Erdrückendes Heimweh – Rückreise in die Ukraine

Zurück in die Ukraine – das war der einzige Wunsch von Anastasiia. Im März kam die 28-Jährige in einer Notunterkunft im Landkreis Straubing-Bogen unter. Am 23. Juli kehrte sie wieder in die Ukraine nach Kamianske zurück – wegen der Liebe. Ihr Freund durfte die Ukraine nicht verlassen und sie konnte nicht getrennt von ihm leben. "Als ich nach Hause kam, hat er mir einen Heiratsantrag gemacht", so Anastasiia.

In Chat-Nachrichten beschreibt sie, wie sie den Krieg jetzt erlebt: "Oft fliegen Raketen über die Stadt, wo ich wohne und lebe. Ständig hört man die Sirenen." Aber sie kann arbeiten, in ihrer eigenen Musikschule, die ihr und anderen Ukrainern Momente des Friedens beschert: "Die Menschen brauchen die Musik, um nicht ständig an den Krieg und die Probleme zu denken, mit denen wir täglich konfrontiert sind."

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Anastasiia hat es nicht mehr alleine in Deutschland ausgehalten - und ist zurück in ihre Heimat Ukraine, um ihren Freund zu heiraten.

Ukrainer in Bayern: Sorgen um Preise, Benzin und Heizen

Egal ob Ukrainer mittlerweile in Deutschland leben oder in ihre Heimat zurückgekehrt sind: Die Zukunft für sie alle ist ungewiss. In Bayern stehen sie jetzt, ein halbes Jahr nach Kriegsbeginn, vor weiteren Herausforderungen, wie sie sagen: Wohnungsumzug, Arbeitsbeginn oder Jobsuche, Integration und Sprachkurse oder Krankenversicherungen.

Ebenso beschäftigen sie Themen wie erhöhte Lebensmittelpreise, teures Benzin und Heizen in Bayern. Bei all diesen Themen sind sie weiter auf Behörden wie Jobcenter oder Landratsämter angewiesen, aber auch auf die Hilfe von Ehrenamtlichen und der Bevölkerung.

Sinkende Solidarität nach einem halben Jahr Krieg?

Doch die Solidarität habe in sechs Monaten abgenommen. Wie es von der Deggendorfer Flüchtlingshilfe heißt, war das abzusehen, das sei menschlich. Ähnliche Erfahrungen habe man 2015 schon gesammelt. Christian Lorenz vom Deggendorfer Landratsamt führt die sinkende Solidarität auf die "eigene finanzielle Belastung" durch die Folgen des Kriegs in der deutschen Bevölkerung zurück. "Da werden die Probleme anderer zurückgestellt."

Deutlich wird das seiner Meinung nach am Beispiel des ohnehin angespannten Wohnungsmarkts: Habe man im Deggendorfer Landratsamt zu Beginn des Kriegs unzählige Wohnungsangebote für Ukrainer aus der Bevölkerung erhalten, sei das stark zurückgegangen. Noch immer aber sei man auf der Suche nach Wohnraum für Ukrainer.

Innenminister fordert Klarheit über finanzielle Unterstützung

Lorenz' Beobachtung bestätigt auch Bayerns Innenminister Joachim Hermann: "Es ist schon sehr eng, wir haben mit die höchsten Zahlen von Flüchtlingen und Asylbewerbern seit rund fünf bis sechs Jahren. Es ist extrem. Das höre ich auch aus anderen Bundesländern." Städte und Landkreise wurden gebeten, neue staatliche Unterkünfte zu schaffen – keine Notunterkünfte wie Turnhallen.

Dafür brauche es auch finanzielle Unterstützung vom Bund: "Die Ankündigung der Bundesregierung, dass finanzielle Unterstützung kommt, ist nicht umgesetzt worden", so Herrmann. "Wir decken es im Moment, indem wir von Bayern aus komplett den Kommunen die Kostenübernahme zusagen – es ist völlig ungewiss, wie viel wir vom Bund zurückbekommen." Der Innenminister hofft, dass die neue Bundesregierung dahingehend bald Klarheit schafft.

Sechs Monate Krieg und 31 Jahre Unabhängigkeit

Dass die Solidarität in Bayern aber doch noch vorhanden ist, beweist die Deggendorfer "Kulturmühle" – ein Begegnungszentrum für Einheimische und Ukrainer: Die Räume werden mit Kinderbetreuung, Handarbeitsrunden und Workshops belebt – außerdem hat sich ein ukrainisch-Deggendorfer Chor gebildet, so Kathrin Glasschröder von der Kulturmühle.

Am 24. August denken die in Bayern lebenden Ukrainer nicht nur an ein halbes Jahr Krieg in der Heimat – sondern feiern auch ihren Nationalfeiertag. Denn an diesem Tag erklärte das Land im Jahr 1991 seine Unabhängigkeit von der Sowjetunion. Im Deggendorfer Kulturzentrum wird daher die ganze Woche gefeiert: mit ukrainischen Spezialitäten, Musik, Kunst – und Stolz.

Wie die gebürtige Ukrainerin und Flüchtlingshelferin Viktorija Schüssler sagt, ist der Unabhängigkeitstag dieses Jahr noch intensiver als sonst: "Wir waren unabhängig und wir wollen es bleiben."

  • Zum Artikel: Ukraine-Krieg - Ein halbes Jahr Zeitenwende

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