Eine historische Aufnahme des Gebäudes aus dem Jahr 1945
Bildrechte: United States Holocaust Memorial Museum

Die Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren

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Patientenmorde in Kaufbeuren: Ein Kunstwerk gegen das Vergessen

Mehr als 2.500 geistig und körperlich behinderte Menschen wurden in der Nazizeit in der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren ermordet. Gemeinsam mit einem Künstler wollen Kaufbeurer Schüler ein Kunstwerk gestalten, das an die Gräueltaten erinnert.

Über dieses Thema berichtet: Mittags in Schwaben am .

Der große schwarze Topf steht auf einer Elektro-Herdplatte direkt draußen vor dem Bezirkskrankenhaus. Pflegeschülerin Rebecca schneidet daneben Kohl. Auf dem Seminarplan für die 13 Gymnasiastinnen, Gymnasiasten und Pflegeschülerinnen steht heute: Hungerkost. Gemeinsam mit dem Künstler Andreas Knitz kochen die Jugendlichen und jungen Erwachsenen am Ort des Geschehens nach, was viele Patienten in der Heil- und Pflegeanstalt täglich als "Mahlzeit" vorgesetzt bekamen - als Teil ihres Kunstprojekts.

Patienten starben einen qualvollen Hungertod

"Die Gedanken, die man haben muss, um das zu erfinden und das durchzuführen, kann ich nicht verstehen", sagt Pflegeschülerin Rebekka. Die "Hungerkost" wurde in der Zeit des Nationalsozialismus in der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren entwickelt: Patienten, die nicht arbeiten konnten, bekamen nur noch diese fett- und eiweißlose Wasserkost. Binnen weniger Monate starben sie völlig entkräftet einen qualvollen Tod. 1942 wurde die Hungerkost per Erlass des Innenministeriums auch für andere Heil- und Pflegeanstalten in Bayern angeordnet.

In dem schwarzen Topf vor dem heutigen Bezirkskrankenhaus köchelt die Suppe vor sich hin: nur heißes Wasser und etwas Kohl. Andreas nimmt ein Löffel und probiert vorsichtig von der heißen Flüssigkeit. "Wahnsinn! Also wenn man das jeden Tag essen muss – das kann ich mir gar nicht vorstellen", ist die erste Reaktion des Gymnasiasten. "Dass Leute sowas tun - dass sie so über das Schicksal anderer Leute entscheiden und solche Suppen kochen, um andere Leute verhungern zu lassen ... Das ist unglaublich!"

Eine historische Aufnahme des Gebäudes aus dem Jahr 1945
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Die Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren

Mord als "schöner Tod"

Mehr als 2.500 geistig und körperlich behinderte Menschen fanden in der Nazizeit in der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren und ihrer Außenstelle in Irsee einen gewaltsamen Tod. Sie wurden bewusst vernachlässigt, ausgehungert, totgespritzt oder in Vernichtungsanstalten deportiert und dort vergast. "Euthanasie" - einen schönen Tod - nannten die Nationalsozialisten dieses gezielte Töten von Menschen mit Behinderung.

Das Grauen ist exakt dokumentiert

Im Historischen Archiv des heutigen Bezirkskrankenhauses ist das Leiden der Opfer aus Kaufbeuren exakt dokumentiert. Die Elftklässlerinnen Katharina und Mila sitzen mit den anderen Seminarteilnehmern um den großen Tisch zwischen den Regalen mit den grauen Kartons und blättern in einer der alten, vergilbten Patientenakten: Gewichtsabnahme, Gesundheitszustand, Todesdatum - das Grauen haben die Täter akribisch festgehalten. Die Akten zu lesen und die Fotos der Opfer zu sehen - das lässt die Schülerinnen und Schüler nicht kalt.

"Dass das genau hier stattgefunden hat, vor nicht allzu langer Zeit - das finde ich sehr erschreckend", sagt Katharina. Und Mila stellt sich beim Lesen der Akten immer wieder die Frage, wie es überhaupt so weit kommen konnte. "Dass Menschen zu sowas in der Lage sind und dass Menschen sowas ertragen mussten – das beschäftigt mich schon sehr."

Ein Kunstwerk gegen das Vergessen

Die gemeinsamen Besuche an den Tatorten sind dem Künstler Andreas Knitz wichtig für das Kunstprojekt mit den Schülern des Jakob-Brucker-Gymnasiums und der Pflegeschule des Kaufbeurer Bezirkskrankenhauses. Beim Kochen der Hungerkost, beim Lesen der Akten im Archiv oder beim Besuch auf dem früheren Patientenfriedhof sollen die Jugendlichen und jungen Erwachsenen erspüren können, welche Grausamkeiten sich in ihrer Nachbarschaft vor rund 80 Jahren ereignet haben. Knitz will den Schülerinnen und Schülern vermitteln: "Kuckt mal her: Hier gibt es an eurem Ort diese Geschichte! Wie gehen wir jetzt damit um? Was habt ihr für eine Idee für einen Beitrag?"

In zahlreichen Projekten hat sich Andreas Knitz schon mit den Verbrechen der Nationalsozialisten auseinandergesetzt. Gemeinsam mit den 13 Schülerinnen und Schülern aus Kaufbeuren will er in den nächsten Monaten ein Kunstwerk erarbeiten, das an die Patientenmorde in Kaufbeuren erinnern soll. Das Vorhaben ist Teil des bundesweiten Projekts "NS-'Euthanasie' ERINNERN – inklusive Gesellschaft GESTALTEN" der Zeitbild-Stiftung und wird von den Bezirkskliniken Schwaben maßgeblich unterstützt. An fünf Orten in Deutschland arbeiten Schulklassen derzeit an ähnlichen Projekten.

Den Opfern Würde zurückgeben

Wie das Kunstwerk in Kaufbeuren am Ende aussehen wird, ist noch völlig offen. Es soll voraussichtlich in die neue Gedenkstätte auf dem Gelände des Bezirkskrankenhauses integriert und am 2. Juli – dem Gedenktag zur Befreiung der Heil- und Pflegeanstalt 1945 durch amerikanische Soldaten – enthüllt werden.

Für Isabel, eine der Seminarteilnehmerinnen, ist aber klar: Das Kunstwerk soll für jeden sichtbar sein als Erinnerung an die Opfer und als Zeichen gegen das Vergessen. "Es ist unsere Vergangenheit und es hat auch mit unserer Gegenwart zu tun." Die Elftklässlerin findet es deshalb wichtig, sich mit diesem schweren Thema auseinanderzusetzen. "Man kann die Leute ja nicht einfach so vergessen. Und ich finde: Man muss ihnen auch Würde zurückgeben."

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