Felsmassen bedrohen Brienz
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Felsmassen bedrohen Brienz

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Felsmassen bedrohen Brienz: Ist so etwas auch in Bayern möglich?

Bis zu zwei Millionen Kubikmeter Fels sind oberhalb des Schweizer Bergdorfs Brienz in Bewegung, Regen verschärft die Lage. Deshalb mussten die Einwohner bereits ihre Häuser verlassen. Auch in Bayern drohen Felsstürze, vor allem ein Berg bröckelt.

Oberhalb von Brienz sind riesige Gesteinsmassen in Bewegung, Felsen donnern den Hang hinab. Das Schweizer Bergdorf im Kanton Graubünden wurde deshalb evakuiert. Ob Geröll und Steine vor dem Dorf liegen bleiben, daran vorbeirutschen oder tatsächlich Kirche und Häuser mitreißen, kann niemand vorhersagen. Die Einwohner wissen zwar schon lange, dass eine Räumung droht. Dass die Entscheidung jetzt fiel, habe auch mit dem Wetter zu tun, sagte Simon Löw, emeritierter Professor für Ingenieurgeologie an der Universität ETH Zürich, im Schweizer Fernsehen. Häufige Niederschläge könnten die Rutschgeschwindigkeit schließlich erhöhen.

Auch in Deutschland überwachen Wissenschaftler an mehreren Stellen alpine Gipfel. Allen voran den 2.592 Meter hohen Hochvogel, der zur einen Hälfte im Allgäu, zur anderen in Österreich liegt. Im Gipfel klafft ein Spalt, der immer tiefer wird.

Halber Gipfel könnte wegbrechen

Dass der Berg bricht, ist seit weit über 100 Jahren bekannt – der Riss im Gipfel ist über die Jahrzehnte zur Attraktion geworden. Auch, weil sich in jüngster Zeit viel im Fels bewegt. Forscherteams der TU München und des Geoforschungsinstituts Potsdam beobachten den Gipfel minutiös, Sensoren registrieren und melden jede Bewegung. "Der Hochvogel hat gerade einen besonders großen Felssturz in Vorbereitung", sagt Prof. Michael Krautblatter, der das Forschungsprojekt für die TU München betreut. An der Zugspitze würden zwar auch ständig kleinere Stücke brechen, aber die Forscher gehen davon aus, dass am Hochvogel 260.000 Kubikmeter Fels abbrechen werden. "Das ist der halbe Gipfel, der sozusagen wegbricht, das ist nicht so alltäglich", sagt Krautblatter.

Die österreichische Seite ist diejenige, die zunächst abbrechen wird. Ob am Stück oder peu à peu, kann trotz der Messungen noch keiner sagen. Noch liegt oben Schnee, aber Starkregenfälle setzen auch hier dem Berg enorm zu. "Dieser Fels ruckelt sich frei", sagt Krautblatter. Das bedeutet, dass immer wieder Felsen so groß wie Kleinbusse herabstürzen und zwar direkt in den Bereich des Bäumenheimer Weges, also den Anstieg, der auf österreichischer Seite hoch zum Gipfel des Hochvogel führt. Dieser Weg ist deshalb auch schon seit 2014 gesperrt.

Keine Gefahr für Orte im Tal

Das enorme Tempo, das der Berg bei seinem Verfall an den Tag legt, ist für die Forscher eine seltene wissenschaftliche Gelegenheit, Michael Krautblatter spricht gar von einem "Geschenk" und einer "Gnade", dabei zu sein. Es sei nur noch eine Frage der Zeit, bis es im wahrsten Sinn des Wortes knallt. Vieles deutet darauf hin, dass zumindest ein großes Stück möglicherweise noch in diesem Jahr abbrechen wird. Wann genau, lässt sich nicht sicher sagen. Der Berg wird zwar vermessen, aber die Wissenschaft ist noch nicht so weit, exakte Vorhersagen zu treffen. Doch auch der Bereich um das Gipfelkreuz herum werde bald gesperrt werden müssen, sagt Krautblatter.

Auf Allgäuer Seite wird man vom Felssturz vermutlich nur einen ohrenbetäubenden Lärm und eine enorme Staubwolke mitbekommen – der instabile Teil des Gipfels wird nach Süden, nach Österreich, kippen. Im Gegensatz zu Brienz ist dort der nächstliegende Ort, Hinterhornbach im Tiroler Lechtal, nicht gefährdet.

LfU: "Bedingungen für tiefreichende Rutschungen derzeit nicht gegeben"

Der anhaltende Regen der vergangenen Wochen verschärft die Lage am Hochvogel und in Brienz zwar, der Auslöser für die Gesteinsbewegungen ist er aber nicht. Das Bergdorf Brienz rutscht seit 20 Jahren mit rund einem Meter pro Jahr Richtung Tal. Das betroffene Gebiet ist seit Jahrhunderten in Bewegung. Am Hochvogel ist auch schon lange bekannt, dass er brechen wird.

Anders verhält es sich laut Bayerischem Landesamt für Umwelt (LfU) bei Extremereignissen wie der Schlammlawine in Oberstdorf 2015 oder der im Jahr 2021 durch Geröll zerstörten Bob- und Rodelbahn am Königssee. Die seien in Folge von extremen Starkniederschlägen entstanden. Solche sind laut Deutschem Wetterdienst (DWD) aktuell (Stand: 16.05.23) nicht zu erwarten. Zudem seien die "Bedingungen für tiefreichende Rutschungen nach unserem Kenntnisstand gegenwärtig nicht gegeben", schreibt das LfU. Bei solchen Rutschungen würden ganze Hänge abgehen, also nicht nur an der Oberfläche, sondern großflächige Erdrutsche. Solche würden in der Regel nach der Schneeschmelze und lang anhaltenden Niederschlägen mit einer starken Durchfeuchtung in Kombination mit einem Anstieg des Grundwassers erfolgen. Auch diese Bedingungen seien aktuell in Bayern nicht gegeben. Menge und Stärke des Niederschlags seien zwar wichtige Faktoren beim Auslösen oder Beschleunigung von Massenbewegungen, also etwa Hangrutschen oder Felsstürzen, aber "es handelt sich bei jedem einzelnen Ereignis um eine Kombination von einer Vielzahl weiterer Faktoren", schreibt das LfU. Die Behörde weist im Freistaat Bereiche aus, die potentiell durch Steinschläge, Felsstürze, Hang- und Erdrutsche gefährdet sind.

Unterscheidung: Steinschlag, Felssturz, Muren, Hangrutsch

Dabei gibt es große Unterschiede zwischen den einzelnen Begriffen. Das schweizerische Institut für Schnee- und Lawinenforschung (SLF) hat ein Dossier zu den verschiedenen Begriffen zusammengestellt.

Darin wird etwa erklärt, dass man bei einzelnen Steinen mit einem Durchmesser von weniger als 50 Zentimetern von Steinschlag spricht. Stürzen Gestein und Felsen mit einem Gesamtvolumen von mindestens 100 Kubikmetern – das entspricht im Durchschnitt dem Fassungsvermögen von 500 bis 600 Badewannen – ins Tal, so handelt es sich um einen sogenannten Felssturz. Ab einer Millionen Kubikmeter Gestein wird aus dem Felssturz ein Bergsturz. Das entspricht dem Volumen von 1.000 bis 2.000 Einfamilienhäusern.

Muren sind ein Gemisch von Wasser mit festem Material wie Gestein und Holz. Diese können vergleichsweise hohe Geschwindigkeiten erreichen und kilometerweit vorstoßen. Wenn festes Material wie Fels und Gestein auf einer festen Unterlage ins Tal gleitet, heißt das Hangrutschung. Das kann ein jahrhundertelanger Prozess sein, kann aber auch spontan und schnell ablaufen.

Im Dossier wird außerdem die Frage beantwortet, warum es – analog zum Lawinenwarndienst – nicht etwa auch einen Felssturzwarndienst gibt. Die Antwort: Natürliche Lawinen sind meist die direkte Folge von meteorologischen Ereignissen wie Schneefall oder Sonneneinstrahlung. Die Lawinengefahr ist daher grundsätzlich prognostizierbar und regional ist sie oft vergleichbar groß. Im Gegensatz dazu handelt es sich bei Muren, Felsstürzen und Ähnlichem um lokale Ereignisse. Ein Hang oder Fels kann instabil sein, der benachbarte stabil. Eine allgemeine Lage anzugeben, ist laut SLF schlicht unmöglich.

12.05.2023: Blick auf das Dorf Brienz und den "Brienzer Rutsch".
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Felsmassen bedrohen Schweizer Dorf

Dieser Artikel ist erstmals am 18. Mai 2023 auf BR24 erschienen. Das Thema ist weiterhin aktuell. Daher haben wir diesen Artikel erneut publiziert.

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