Einnahme von Tabletten
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Im Falle eines "Nuklearen Notfalls" sollen bestimmte Bevölkerungsgruppen hochdosierte Kaliumoidid-Tabletten einnehmen.

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#Faktenfuchs: Warum man keine Jodtabletten kaufen muss

Angesichts des Kriegs in der Ukraine sorgen sich viele Menschen vor radioaktiver Strahlung und decken sich deshalb mit Jodtabletten ein. Warum das nicht nötig ist, klärt der #Faktenfuchs.

Im Zuge ihres Kriegs in der Ukraine werden immer wieder Sorgen laut, es könnte zu einem "Nuklearen Notfall" kommen. So kontrolliert die russische Armee seit Ende Februar das Gelände des 1986 havarierten Atomkraftwerks Tschernobyl.

Etwa zur gleichen Zeit haben die Menschen angefangen, im Internet den Begriff "Jodtabletten" zu suchen. Auch die russische Ankündigung, Atomsprengköpfe in Alarmbereitschaft zu versetzen, hat das Interesse weiter verstärkt. Im August wird das ukrainische AKW Saporischschja mehrfach beschossen, es ist ebenfalls von der russischen Armee besetzt. In den sozialen Medien wird ebenfalls darüber diskutiert.

Dies gleich vorweg: Nein, es ist nicht nötig, sich jetzt aus Sorge vor einem Nuklearen Notfall mit Jodtabletten einzudecken.

  • Bund und Länder halten 189 Millionen hochdosierte Kaliumiodid-Tabletten bereit
  • Im "Ereignisfall" werden diese an die Bevölkerung verteilt
  • Herkömmliche Jodtabletten aus der Apotheke sind nicht geeignet
  • Das erhöhte Risiko für Schilddrüsenkrebs betrifft vor allem Kinder und Jugendliche

Dieser #Faktenfuchs erklärt, warum hochdosierte Kaliumiodid-Tabletten im Falle eines sogenannten nuklearen Notfalls überhaupt eingenommen werden sollen und wie die Behörden sich auf derartige Fälle vorbereiten.

Schutz der Schilddrüse vor radioaktivem Jod

Bei einem "Nuklearen Notfall", wie die Behörden derartige Fälle nennen, geraten verschiedene Stoffe in die Umwelt, beispielsweise unter anderem das Uran-Spaltprodukt Jod-131. Das passiert zum Beispiel bei einem Reaktorunfall. Matthias Zähringer ist Physiker, er leitete bis Frühsommer 2022 beim Bundesamt für Strahlenschutz die Abteilung radiologischer Notfallschutz. Er sagt: "Jod-131 ist das langlebigste. Es gibt auch noch kurzlebigere. Jod-131 hat eine Halbwertszeit von acht Tagen." Das bedeutet, innerhalb weniger Wochen ist es fast vollständig abgebaut.

Dieses Jod stellt eine Gefahr dar für den Menschen. Die Schilddrüse kann es als einziges Organ im menschlichen Körper aufnehmen und in verschiedene Hormone umwandeln. Die Schilddrüse kann das radioaktive Jod-131 genauso gut einbauen wie nicht-radioaktives Jod, sagt die Endokrinologin Petra-Maria Schumm-Draeger, Professorin und ärztliche Direktorin im Zentrum Innere Medizin Fünf Höfe in München: "Nur im Falle, dass es radioaktives Jod ist, ist die Gefahr für die Entstehung von Schilddrüsenkrebs vor allem bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen sehr stark erhöht."

Der Schilddrüsenkrebs entwickelt sich mit einigen Jahrzehnten Verzögerung. Dieser Zusammenhang zwischen radioaktivem Jod und einer Krebserkrankung ist schon lange bekannt und es gibt auch eine Möglichkeit, dem vorzubeugen: Zum richtigen Zeitpunkt soll die Schilddrüse mit hochdosiertem Jod geflutet werden, damit das Organ so gesättigt ist, dass es kein radioaktives Jod mehr aufnehmen kann. Die dafür benötigten Mengen sind genau festgelegt, sagt Schumm-Draeger: "Für Jugendliche und junge Erwachsene 65 Milligramm Kaliumiodid wenigstens zweimal genommen, für jüngere Personen, also Kinder, ist es nur einmal 65 Milligramm."

Normale Jodtabletten sind zu niedrig dosiert

Die Sorge vor radioaktiver Strahlung führt dazu, dass sich nun anscheinend viele Menschen in Apotheken mit Jodtabletten eindecken. Auch ein Apotheker und Autor, der seine Bücher unter dem Pseudonym “#DerApotheker” veröffentlicht und anonym bleiben möchte, berichtete im Februar 2022 auf Twitter davon.

Schriftlich erklärt er damals dem #Faktenfuchs: "Ich stehe jetzt seit rund 10 Jahren in der Apotheke und habe das bisher noch nicht erlebt." In einigen Online-Apotheken waren verschiedene Jodpräparate Anfang März bereits vergriffen oder ausverkauft. Doch herkömmliche Jodtabletten, die etwa Menschen mit Schilddrüsenerkrankungen einnehmen, sind viel zu niedrig dosiert, um in einem “Nuklearen Notfall” helfen zu können.

#DerApotheker: "Ich verstehe, dass die Menschen jetzt Angst haben, aber diese niedrigen Dosierungen, 100 Mikrogramm Kaliumiodid, die sie bei mir gekauft haben, würden im Ernstfall keinen Schutz bieten, es sei denn, sie würden 1.000 Stück davon schlucken. Was natürlich auch nicht geht."

Auf den richtigen Zeitpunkt kommt es an

Darüber hinaus bringe es nichts, die hochdosierten Tabletten vorbeugend einzunehmen, sagt die Endokrinologin Schumm-Draeger: "Es ist sehr, sehr wichtig, den genau richtigen Zeitpunkt der Einnahme zu haben, weder zu früh noch zu spät, um wirklich die Schilddrüse zu schützen. Wenn Sie es zu früh nehmen, ist der Effekt schon weg bis vielleicht, hoffentlich wird es nie geschehen, etwas notwendig ist zur Einnahme. Nimmt man es zu spät, so können ja schon radioaktive Jodteile in die Schilddrüse gelangt sein und Unheil anrichten."

Bundesländer haben ausreichend Jodtabletten eingelagert

Sollte eine Einnahme notwendig sein, muss sich die Bevölkerung nicht selbst um die Versorgung mit den entsprechend dosierten Jodtabletten kümmern. Die Bundesländer lagern und verteilen sie. Nach dem Reaktorunfall 2011 im japanischen Fukushima sind die Vorräte in Deutschland nochmal erhöht worden.

Das Bundesamt für Strahlenschutz schreibt auf seiner Internetseite, dass mehr als 189 Millionen Jodtabletten vorrätig seien: "Im Ereignisfall werden sie an Feuerwehrwachen, Rathäusern, Apotheken oder bekannten Wahllokalen an die Bevölkerung abgegeben."

In Bayern werden davon laut bayerischem Innenministerium derzeit 36 Millionen Kaliumiodid-Tabletten vorgehalten. Unter anderem über die Medien werden im konkreten Fall die Informationen verbreitet, dass Kaliumiodid-Tabletten ausgegeben werden und wie man sie einnehmen muss.

Bundesamt für Strahlenschutz misst Radioaktivität

Um den richtigen Zeitpunkt zu bestimmen, wann die Bevölkerung Jodtabletten einnehmen soll, betreibt das Bundesamt für Strahlenschutz deutschlandweit 1.700 Messstationen, die die Radioaktivität in der Atmosphäre bestimmen.

Anhand der Messungen erstellt das Bundesamt Vorhersagen. Matthias Zähringer, der die entsprechende Abteilung im Bundesamt leitet, sagte dem #Faktenfuchs: "Da gibt es festgelegte Referenzwerte, die dann mit bestimmten Schutzmaßnahmen verbunden sind. Und überall dort, wo diese Werte drohen, überschritten zu werden, würden wir dann sagen, es ist aus radiologischer Sicht angezeigt, Jodtabletten auszugeben."

Menschen über 45 Jahre brauchen keine Tabletten einnehmen

Die Schutzwirkung des hochdosierten Kaliumiodids ist in erster Linie für jüngere Menschen wichtig, vor allem für Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. Für Menschen über 45 Jahre werde diese Vorbeugung nicht empfohlen, sagt Endokrinologin Schumm-Draeger. Grund sei die Furcht, "dass man eine Schilddrüsenüberfunktion durch diese hohe Einnahme zum Entgleisen bringt und eine schwere Funktionsstörung auslöst."

Das Risiko für Schilddrüsenkrebs sinkt mit höherem Lebensalter, aber das Risiko für eine Schilddrüsenüberfunktion steigt. "Das ist die Abwägung", so Endokrinologin Schumm-Draeger. "Wir haben bei dem Reaktorunfall Tschernobyl gesehen, das hier vor allem Kinder und Jugendliche betroffen waren, auch tatsächlich mit der Entwicklung von Schilddrüsenkrebs, und behandelt werden mussten, aber in einem nur ganz schwindenden Maß die Erwachsenen."

Menschen, denen die Schilddrüse zum Beispiel operativ entnommen wurde, müssen übrigens auch im "Nuklearen Notfall" keine hochdosierten Jodtabletten schlucken: Die Schilddrüse ist das einzige Organ des Körpers, das Jod aufnehmen kann. Wenn sie fehlt, kann der Körper Jod nicht speichern. Wer dagegen an der Schilddrüse erkrankt ist, zum Beispiel eine Überfunktion hat, soll sich vor der Einnahme von hochdosiertem Jod mit seinem behandelnden Arzt oder seiner Ärztin besprechen, rät die Endokrinologin Schumm-Draeger.

In Tschernobyl gibt es kein radioaktives Jod-131 mehr

Der Physiker Martin Zähringer betont darüber hinaus, dass sich 36 Jahre nach dem Reaktorunglück von Tschernobyl niemand mehr wegen radioaktiver Jodbelastung Sorgen machen müsse. Die Halbwertszeit von Jod-131 betrage acht Tage; alles radioaktive Jod, das damals entstand, sei mittlerweile zerfallen.

Ein Wundermittel ist das hochdosierte Kaliumiodid bei einem "Nuklearen Notfall" aber nicht, das bestätigt auch Zähringer. Es schütze nur davor, dass radioaktives Jod in die Schilddrüse aufgenommen wird. Im Notfall müsse sich die Bevölkerung auch anderweitig vor radioaktiver Strahlung und Spaltprodukten schützen, zum Beispiel, indem sie in Gebäuden bleibe. Das ist in den Zivilschutz- und Notfallplänen der Länder geregelt.

Fazit

Hochdosierte Kaliumjodid-Tabletten sind in Deutschland ausreichend vorhanden, allein in Bayern sind es 36 Millionen Tabletten. Da der Zeitpunkt, wann sie im "Nuklearen Notfall" eingenommen werden sollen, entscheidend ist, misst das Bundesamt für Strahlenschutz die radioaktive Belastung in der Atmosphäre und benennt im Notfall den entsprechenden Zeitpunkt. In den Kommunen werden dann die Tabletten verteilt, zum Beispiel in Rathäusern. Kein Bundesbürger muss sich selbstständig mit hochdosiertem Kaliumiodid eindecken.

Update vom 10. August 2022: Der Artikel wurde anlässlich des Beschusses des AKW Saporischschja aktualisiert.

Korrektur vom 9. März 2022: #DerApotheker hat sich verrechnet, man müsste "nur" 1.000 herkömmliche Tabletten schlucken, um die ausreichend große Menge Jod aufzunehmen, um eine Jodblockade herbeizuführen, nicht 1.300 Tabletten. Wir haben den Rechenfehler nach seinem Hinweis im Text korrigiert.

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