Eine Teilnehmerin an Dr. Edward Changs Studie über Sprachneuroprothesen versucht am Montag, 22. Mai 2023, in El Cerrito, Kalifornien, einen Satz lautlos zu sprechen, während das Sprachprothesensystem ihre Gehirnsignale in synthetisierte Sprache und die Gesichtsbewegungen eines Avatars übersetzt.
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Gehirn-Computer-Schnittstellen sollen Gelähmten das Sprechen ermöglichen

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Gehirn, Computer und KI: So können Gelähmte wieder sprechen

Gelähmte Patienten können per Sprachsoftware und Avatar wieder sprechen. Das haben zwei US-Forscherteams jetzt in Versuchen gezeigt. Über implantierte Elektroden haben sie Signale des Gehirns ausgelesen und damit eine Software trainiert. Mit Erfolg.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Rund 100.000 Menschen in Deutschland können aufgrund einer Lähmung, etwa nach einem Schlaganfall oder aufgrund einer fortschreitenden Muskelerkrankung, nicht mehr sprechen. Bislang ist Kommunikation mit Hilfsmitteln noch sehr umständlich für Betroffene und ihr Umfeld. Zwar können sie mithilfe von Software, die sich per Finger oder per Augenbewegungen steuern lässt, Worte formulieren, doch das nur begrenzt und langsam. Jetzt haben US-Forscher demonstriert, wie sogenannte Gehirn-Computer-Schnittstellen und KI dabei helfen können, Betroffenen ihre Sprache zurückzugeben.

Sprachunfähig nach Schlaganfall - Abhilfe mittels Elektroden

In zwei unterschiedlichen Versuchen haben Neurowissenschaftler Methoden entwickelt, wie Patienten per Elektrode eine Sprachsoftware mit ihren Gedanken steuern. Ein Forscherteam der University of San Francisco hat mit einer 46-jährigen Patientin gearbeitet, die nach einem schweren Schlaganfall viele Jahre lang sprachunfähig war. Ein Video aus dem Labor zeigt, wie sie sich mittels KI und Avatar wieder mit ihrem Mann unterhält. Ihr Haar ist kurzgeschoren, an ihrer Schädeldecke ist ein Hirnimplantat angebracht und verkabelt. 253 Elektroden nehmen Signale ihrer Großhirnrinde auf, künstliche Intelligenz leitet aus diesen Signalen Worte und Sätze ab.

Die eigene Stimme aus dem Computer - KI macht's möglich

87 Wörter pro Minute konnte die Patientin im Versuch erreichen. Ein Rekordwert. Den Klang ihrer Computer-Stimme haben die Forscher aus Tonaufnahmen von ihrem Hochzeitsvideo abgeleitet. "Wir glauben, diese Ergebnisse öffnen die Tür zu neuen Anwendungen," formuliert Studienleiter Edward Chang. Für ihn ist die Entwicklung ein Durchbruch, der vielen Patienten helfen könnte: "Unsere Stimme und Mimik sind Teil unserer Identität und wir wollten eine digitale Sprache entwickeln, die natürlicher, fließender und ausdrucksvoller ist."

Im Video: Versuch einer Gehirn-Computer-Schnittstelle bei Patientin, die nach Schlaganfall nicht mehr sprechen konnte

Elektroden am Gehirn und KI-gesteuerte Software

Einen ähnlichen Versuch stellen gleichzeitig Forscher aus Kalifornien vor. Sie wollten zeigen, dass mittels Elektroden am Gehirn und KI-gesteuerter Software Kommunikation auch bei einer fortschreitenden Muskellähmung möglich wird. Neurowissenschaftler der Stanford University forschten mit einer 68-jährigen Patientin, die an Amyotropher Lateralsklerose ALS erkrankt ist und nur noch unbestimmte Laute artikulieren kann. Sie übte in 25 halbtägigen Trainingsstunden mit einem Programm, das 125.000 Wörter umfasste. Die Fehlerrate lag zuletzt bei knapp 24 Prozent.

Gehirn-Computer-Schnittstelle bei Prothesen bereits erprobt

Die Methode der Gehirn-Computer-Schnittstelle ist bereits in therapeutischen Bereichen wie bei Prothesen erprobt, die sich per Gedanken steuern lassen, sagt Neurologe Surjo Soekadar. Er forscht an der Charite Berlin an Methoden der Neurorehabilitation. An den US-Versuchen war er nicht beteiligt, aber auch er bezeichnet die beiden Entwicklungen als Meilenstein. "Weil es bisher nicht möglich war, mit einer so hohen Geschwindigkeit Informationen aus dem Gehirn auszulesen. Da gab es eine ganz hohe Fehlerquote. Und deswegen ist der klinische Einsatz dieser Gehirn-Computer-Schnittstellen zum Beispiel zur Wiederherstellung der Kommunikation bisher nicht wirklich klinisch in der Breite erfolgt."

Fast ein normales Gespräch ganz ohne Mund

Die neuen US-Verfahren schaffen es in großer Geschwindigkeit, die Signale auszulesen und in Sprache umzusetzen, sodass beinahe ein normales Gespräch möglich wird. Vor allem für Betroffen mit großem Leidensdruck, mit fortschreitenden Lähmungen im sogenannten Locked-In-Zustand, bietet das Verfahren Chancen, meint Soekadar: "Wenn man bei vollem Bewusstsein ist und dann aufgrund eines Schlaganfalls oder einer anderen Erkrankung nicht mehr mit dem Mund kommunizieren kann“. Bei ganz schweren Fällen sind selbst Augenbewegungen nicht mehr möglich, in dieser Situation gebe es bisher keine anderen Ansätze als diese Hirnimplantate. "Diese Technologie, die jetzt vorgestellt wurde, gibt Hoffnung," so Soekadar.

Noch ein weiter Weg bis zum klinischen Alltag für die neuen Verfahren

Allerdings sind die Methoden weit davon entfernt, im klinischen Alltag eingesetzt zu werden. Noch fehlen Studien mit mehreren Teilnehmern. Außerdem muss die KI monatelang trainiert werden, bis sie aus den Signalen des Gehirns Sprachmuster und sinnvolle Worte auslesen kann. Ein großes Problem: Die Methode erfordert eine riskante Gehirn-OP. In den zwei Studien handelt es sich eben um Mikroelektroden, die in den Schädel hineinoperiert werden. "Das sieht dann aus wie so eine Folie, die man auf das Gehirn direkt aufbringt," erklärt Soekadar, "und dann eben von der Oberfläche des Gehirns misst. Das Problem ist, dass sie nach dem Stand jetzt den Schädel öffnen müssen, das birgt das Risiko von Infektionen und Blutungen."

Noch viel Potential bei Gehirn-Computer-Schnittstellen

Eine weitere Einschränkung: In den Studien waren Großhirn und -rinde beider Patientinnen intakt, doch nach Schlaganfällen ist die Hirnschädigung in der Regel umfassend und oft so großflächig, dass noch völlig unklar ist, was die Technologie dann bewirken könnte. Noch sind also viele Fragen ungeklärt, trotzdem sind die Neurologen überzeugt: Die Kombination von Hirnstrommessung und KI dürfte sich in den nächsten Jahren weiterentwickeln. In speziellen Fällen, schätzen die Forscher, könnten Betroffene davon in etwa zehn Jahren profitieren.

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