Ein internationales Forscher-Team unter Führung des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK) hat zahlreiche Expertenvorschläge analysiert, wie man einen echten Wandel beim Klimaschutz erzielen könnte, und präsentiert nun mögliche gesellschaftliche Trendwenden. Zu den Bereichen gehören: Energieerzeugung, Städte, Finanzwelt, gesellschaftliche Normen, Bildung und Verbraucherinformation. Es müsse mehr Geld in alternative Energien fließen und Klimaschutz müsse eine soziale Norm werden. Die Studie des Teams um den ehemaligen PIK-Direktor Hans Joachim Schellnhuber ist in den "Proceedings" der US-Nationalen Akademie der Wissenschaften erschienen. Die Studie vom Januar 2020 enthält unter anderem folgende Vorschläge:
Weg von fossilen Brennstoffen hin zu erneuerbaren Energien
Bei der Energieerzeugung sollte der Weg sein, fossile Brennstoffe durch erneuerbare Energien abzulösen. Hier ist vor allem die Politik gefragt, denn 2015 waren die Subventionen für Kohle, Erdöl und Erdgas noch mehr als doppelt so hoch wie die Subventionen für erneuerbare Energien. Die Forscher empfehlen darüber hinaus, die Energieversorgung von zentralen Kraftwerken hin zu einer dezentralen Energiegewinnung umzubauen - etwa durch Solar- und Windkraft.
Nachhaltiges Bauen
In den Städten summieren sich direkte und indirekte Emissionen von Gebäuden weltweit zu 20 Prozent des Treibhausgasausstoßes. Die Wissenschaftler wollen Projekte initiieren, in denen umweltbewusstes Bauen präsentiert wird. So könne ein großes Gebäude, das zu 80 Prozent aus laminiertem Holz errichtet werde, Tausende Tonnen Kohlendioxid (CO2) vermeiden. Auch in der öffentlichen Infrastruktur von Städten besteht den Forschern zufolge ein großes CO2-Einsparpotenzial.
Veränderungen bei der Unterstützung von Kohleprojekten
Stichwort Finanzsystem: Wenn Investoren befürchten müssten, dass sich ihr Engagement bei fossilen Brennstoffen nicht mehr rentiert, könnten sie ihre Gelder aus dieser Branche abziehen. "Simulationen zeigen, dass nur neun Prozent der Investoren das System kippen könnten, was andere Investoren dazu veranlasst, dem zu folgen", schreiben die Forscher. Es gebe bereits Anzeichen für einen Wendepunkt, nämlich Kürzungen bei der finanziellen und versicherungstechnischen Unterstützung von Kohleprojekten.
Klimaschutz muss "soziale Norm" werden
Fossile Brennstoffe zu gewinnen und zu verwenden sei "wohl unmoralisch", so die Forscher. Denn das stehe nicht im Einklang mit dem Ziel des Pariser Klimaabkommens und verursache schwerwiegende und unnötige Schäden. "Das Bewusstsein für die globale Erwärmung ist hoch, aber die gesellschaftlichen Normen zur grundlegenden Veränderung des Verhaltens sind es nicht", meint Co-Autor und PIK-Direktor Johan Rockström. Normen und Werte gelte es zu ändern. "... längerfristig ist wohl ein neues soziales Gleichgewicht erforderlich, in dem der Klimaschutz als soziale Norm anerkannt wird."
Nachhaltigkeit muss gelernt werden
"Nachhaltigkeit kann nicht auferlegt werden, sie muss gelernt werden", so die Studienautoren. Deshalb ist das Bildungssystem gefragt. Der Schulunterricht müsse deutlich mehr als bisher eine umwelt- und klimabewusste Lebensweise einbeziehen. Denn so könnten die Normen und Werte des Einzelnen geändert werden und zu Verhaltensänderungen führen.
Die Verbraucher müssen informiert werden
Wie viel Treibhausgas wird bei der Herstellung eines Produktes ausgestoßen? Solche Angaben sollen auf Verpackungen von Lebensmitteln oder Konsumgütern stehen, damit der Verbraucher über die Umweltbilanz informiert wird. Diese Informationen können den Konsumenten einen klimaneutraleren Lebensstil erleichtern, so die Studienmacher.
Was meinen andere Forscher zu den Vorschlägen?
Andreas Ernst von der Universität Kassel war selbst nicht an der Studie beteiligt, ist aber der Ansicht, dass sogenannte Social Tipping Interventions ein sehr guter Weg sind, den Blick auf die gesellschaftlichen Möglichkeiten des Umsteuerns zu richten. Mit Geschick an der richtigen Stelle platzierte Maßnahmen könnten umfassende Erfolge bei der Bewältigung der Klimaerwärmung haben. "Wie etwa ein einzelner Skifahrer eine gewaltige Lawine auslösen kann", sagte der Professor für Umweltsystemanalyse/Umweltpsychologie und Stellvertretender Geschäftsführender Direktor des Center for Environmental Systems Research.
Wirtschaftliche Machtfragen seien ausgeblendet
Der Fokus auf die (positive) soziale Dynamik beim Klimawandel sei eine gute, neue Entwicklung. "Die in der Studie vorgestellten Ansatzpunkte – Technologie, Finanzsystem und so weiter – sind an sich keineswegs neu", erklärte Ernst. "Neu ist die Hypothese, dass es mit bestimmten, eleganten Interventionen gelingt, großflächige Veränderungen auszulösen." Die in der Studie besprochenen Eingriffe blendeten allerdings noch politische und wirtschaftliche Machtfragen als wesentliche Beharrungsfaktoren völlig aus.
Ein interdisziplinärer Ansatz sei nötig
Maria Daskalakis vom Institut für Volkswirtschaftslehre der Universität Kassel gibt aber zu bedenken, dass es eines fachübergreifenden Ansatzes bedürfe, um der Komplexität der Themenstellung gerecht zu werden. "Die Idee, es gäbe einige wenige soziale Kippelemente beziehungsweise -interventionen, mit denen das Ruder herumgerissen werden könnte, scheint mir hier nicht zielführend."
Zu wenige Teilnehmer an der Expertenbefragung?
Sie empfiehlt zudem einen sehr vorsichtigen Umgang mit den Ergebnissen beziehungsweise deren Generalisierung und der Ableitung von Maßnahmen. Der Rücklauf bei der Expertenbefragung sei sehr niedrig gewesen, zudem habe es vor allem Antworten europäischer Experten gegeben, so Daskalakis. Zudem mangele es an einer Spezifizierung der Fachdisziplinen der Antwortenden und weiteren Parametern. "Zudem ist noch festzustellen, dass die Antworten der Befragten wohl sehr unterschiedlich waren. Dies führt dazu, dass die identifizierten Maßnahmen dann teilweise von nur relativ wenigen Personen empfohlen wurden."