Illustration: Silhouette eines Kopfes, Gehirn ist angedeutet. Über dem Kopf sind Regenwolken, die auf die Person herabregnen.
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Viele Menschen bekommen Antidepressiva gegen Depressionen. Den meisten aber helfen die Medikamente gar nicht.

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Bei Depressionen helfen Antidepressiva oft nicht

Jeder achte Mensch in Deutschland hat im Laufe seines Lebens einmal eine Depression oder eine depressive Episode. Oft sollen Antidepressiva dann den Gehirnstoffwechsel wieder ins Lot bringen. Es gibt aber Zweifel, ob diese tatsächlich wirken.

Über dieses Thema berichtet: IQ - Wissenschaft und Forschung am .

Die meisten Antidepressiva wirken auf den Hirnstoffwechsel, konkret: auf die Produktion des Botenstoffs Serotonin. Daher kommt auch der Name einer weit verbreiteten Hypothese, die erklären soll, wie Depressionen entstehen: die Serotonin-Hypothese.

Ursprünglich war das Ganze ein Zufallsfund, sagt der psychologische Psychotherapeut Torsten Padberg aus Berlin, und hatte zunächst gar nichts mit depressiven Menschen zu tun. Im Jahr 1952 testeten Forschende das Medikament Iproniazid bei Tuberkulose-Patienten aus. Diese wurden nach der Einnahme "ausgesprochen gut gelaunt. Es gibt bis heute Fotos, wie die Walzer tanzen in den Krankenhausgängen."

Antidepressiva greifen in den Serotonin-Haushalt ein

Die Schlussfolgerung damals: Weil die Medikamente den Pegel des Hirnbotenstoffs Serotonin beeinflussen, könnte es also sein, dass depressive Menschen zu wenig Serotonin in ihrem Gehirn vorliegen hätten. "So kam die Serotonin-Mangel-Hypothese in die Welt", sagt Torsten Padberg.

Die Annahme, dass bei Depressionen zu wenig Serotonin im Gehirn vorliegt, wurde also über einen Umweg geschlossen. Immerhin: Aus Tierversuchen weiß man, dass die Antidepressiva die Konzentration im Gehirn tatsächlich erhöhen können. "Aber ob das auch der Effekt ist, worüber die Antidepressiva ihre positive Wirkung auf die depressive Stimmung und die anderen depressiven Symptome entfalten, das ist zweifelhaft", sagt Professor Tom Bschor, Psychiater und Psychotherapeut aus Berlin. Er ist Mitautor der ärztlichen Leitlinie für Depression.

Serotonin-Mangel-Hypothese wackelt

Die Annahme, dass Depressionen durch einen gestörten Botenstoff-Haushalt im Gehirn hervorgerufen werden, wird unter Fachleuten schon lange bezweifelt. Nun hat eine aktuelle Untersuchung aus Großbritannien mehrere Meta-Analysen dazu neu ausgewertet. Der klinische Forscher Mark Horowitz am University College London und der Nationalen Gesundheitsbehörde in England (NHS) ist einer der Autoren der Auswertung. Sein ernüchterndes Fazit: "Wir fanden keine überzeugenden Beweise, dass niedrige Konzentrationen von Serotonin mit Depressionen einhergehen."

So seien beispielsweise im Blut oder in der Gehirnflüssigkeit von depressiven Menschen keine verringerten Konzentrationen - im Gegenteil, manchmal waren sie sogar erhöht. "Das liegt vermutlich daran, dass sie Antidepressiva einnehmen", so Mark Horowitz. Auch genetische Studien zeigten keinen Zusammenhang. Und auch Medikamente, die die Serotonin-Konzentration im Gehirn verringern, führten laut der Analyse nicht zu mehr Depressionen, was sie aber nach der Serotonin-Mangel-Hypothese tun müssten.

Etwas anderes aber konnten die Forschenden zeigen. Und zwar, dass über alle Studien hinweg der Faktor "belastendes Lebensereignis" das Risiko für Depressionen erhöhte, also ein Todesfall in der Familie oder Arbeitsplatzverlust.

"Unser Fazit: Diese Hypothese, die in den 1960er-Jahren das erste Mal aufkam, lässt sich seit 50 Jahren nicht durch die Forschung bestätigen. Patienten sollte man nicht länger sagen, ihre Depression hätte etwas mit einem niedrigen Serotonin-Gehalt zu tun." Dr. Mark Horowitz, University College London

Dazu kommt: Eine aktuelle Untersuchung aus dem Jahr 2022 der US-Gesundheits-Behörde FDA zeigt: Antidepressiva wirken nur bei rund 15 Prozent der behandelten Patienten erheblich besser als ein Placebo. Bei 85 Prozent ist das nicht der Fall. Sie haben aber zum Teil schwere Nebenwirkungen wie Kreislaufprobleme, innere Unruhe oder Störungen der Sexualität.

Und: Es gibt sogar Antidepressiva, die die Konzentration des Serotonins im Gehirn verringern - und trotzdem wirken. Ein Paradox, denn eigentlich müsste es dabei doch zu "zu tiefen Depression kommen, weswegen schon vor einiger Zeit aus der Mangel-Hypothese die Hypothese des Ungleichgewichts geworden ist", sagt Torsten Padberg. Es gehe dann darum, etwas zu "stabilisieren, was darauf hindeutet, dass keiner wirklich weiß, wie."

Pharmaindustrie maßgeblich an Erfolg der Antidepressiva beteiligt

Dennoch hat sich die Serotonin-Hypothese weit verbreitet, auch unter der allgemeinen Bevölkerung. Torsten Padberg sieht hier auch die Pharmaindustrie in der Verantwortung: "Die Pharmaindustrie ist massiv daran beteiligt gewesen, die genau dieses Modell in immer wieder neuen Werbekampagnen in den USA an die Öffentlichkeit gebracht hat."

Auch für Mediziner ist die Annahme, dass ein chemisches Ungleichgewicht für Depressionen verantwortlich sei, im Alltag praktisch, sagt Tom Bschor, weil es eine zunächst eingängige und leicht erklärbare Ursache sei, mit der auch begründet werden kann, warum ein Patient nun ein Medikament einnehmen soll.

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Depression ist eine komplexe Erkrankung

Doch es scheint eher so zu sein: Die Depression ist eine komplexe Erkrankung, die nicht mit nur einer Maßnahme behandelt werden kann und sollte. "Es ist eben nicht wie bei der Tuberkulose, wo man ein passendes Antibiotikum gibt, was das Tuberkelbakterium abtötet", sagt Tom Bschor. "Das kann man sich wirklich wie so ein Lego-Modell vorstellen. Man braucht die verschiedenen Steine, damit das entsteht. Aber ein Stein alleine macht eben noch nicht das ganze Lego-Modell."

Der Psychiater empfiehlt einen sorgsamen Umgang mit Antidepressiva. Vor allem bei schweren Fällen könne das Medikament hilfreich sein, das zeigten auch Studien. Aber bei leichter und mittlerer Depression wirkten Antidepressiva kaum oder gar nicht.

Mark Horowitz sagt: Belastende Lebensereignisse sind der Hauptrisikofaktor für Depressionen. Und möglicherweise seien Depressionen dann auch eine natürliche Reaktion auf äußere Umstände: "Depressionen sind eine Reaktion auf Gefahr und Überwältigung." Damit könne man als Therapeut aber arbeiten, indem man herausfinde, welchen Problemen der Patient ausgesetzt ist und wie man sie bewältigen könne.

Wie Antidepressiva eingesetzt werden sollten

Für die behandelnden Psychotherapeuten bedeutet all das, dass Depressionen vielschichtig behandelt werden müssen, sagt Tom Bschor: "Da soll man sich auch ehrlich machen. Die Therapie der Depression mit Medikamenten besteht letztlich ein Stück weit in einer Versuchs- und Irrtumsstrategie."

Er rät, im ersten Schritt überhaupt abzuwägen, ob ein Medikament sinnvoll ist. Nur bei schwerer Depression oder bei phasenhafter Depression gäbe es einigermaßen belastbare Beweise für die Wirksamkeit. Denn die meisten Antidepressiva wirken ähnlich auf den Serotonin-Haushalt. Schlägt eines nicht an, könne man zwar ein anderes ausprobieren, aber: "wenn zwei, drei, vier Antidepressiva schon versagt haben, ist es in aller Regel nicht erfolgsversprechend, aufs fünfte, auf sechste oder aufs siebte zu setzen."

Der Psychiater wünscht sich, dass Antidepressiva nur mit einem durchdachten Behandlungskonzept eingesetzt werden. Schnell müsse man auf eine entsprechend hohe Standarddosis kommen und nach vier bis sechs Wochen überprüfen: Geht es dem Patienten nun wirklich besser? Falls nicht, dann können die Medikamente auch wieder abgesetzt werden. "Eine Therapie, die nicht hilft, muss man ja auch nicht fortsetzen."

Man könnte Antidepressiva in so einem Fall auch mit anderen Medikamenten wie Lithium kombinieren, die einen völlig anderen Mechanismus haben und die Wirkung von Antidepressiva verstärken können.

Behandlung ohne Medikamente auch wirksam

Darüber hinaus gibt es vier weitere Behandlungsmaßnahmen, die ganz ohne Medikamente auskommen oder die Gabe von Antidepressiva ergänzen können.

  • Erstens: Schon allein die Aufklärung darüber, was Depressionen sind, wie viele Menschen betroffen sind und dass es Behandlungskonzepte dafür gibt, verringert die Depression, sagt Tom Bschor.
  • Zweitens: Patienten sollten ihren Tag strukturieren, so der Psychiater. "Wenn man gesund ist, macht man das von ganz alleine richtig." Dann erledige man über den Tag verteilt Pflichten, etwas Schönes, manchmal gar nichts und erhole sich. "Aber wenn man eine Depression hat, kann man das nicht mehr." Das heißt: Selbst wenn einem nicht danach zumute ist, solle man eine positive Aktivität einplanen, etwas das einem vielleicht früher Spaß gemacht hat. Und eine bewältigbare Pflicht jeden Tag. Darüber hinaus wirken Sport und Bewegung antidepressiv.
  • Drittens: ein ausgewogener Tag-Nacht-Rhythmus. "Wenn man gesund ist, kann man die Nacht zum Tag machen und umgekehrt. Aber wenn man depressiv ist, muss man wach sein in der hellen Tageszeit und schlafen in der dunklen Tageszeit", sagt Tom Bschor.
  • Viertens: psychotherapeutische Techniken. Dabei können Online-Tools und digitale Anwendungen helfen, die man sich sogar von der Krankenkasse verschreiben lassen kann. Das ersetze zwar keine komplette Psychotherapie, aber sei für viele Betroffene hilfreich.

Stellenwert der Antidepressiva geht zurück

Dass Antidepressiva nicht bedenkenlos eingesetzt werden sollen, sei mittlerweile bei Psychiaterinnen und Psychiatern bekannt, so Tom Bschor. Vor allem wegen der Nebenwirkungen und weil sie nicht immer problemlos wieder abgesetzt werden können, muss immer gut abgewogen sein, ob sie verschrieben werden sollen oder nicht. Dennoch nehmen die Verschreibungen in den letzten Jahren immer weiter zu, auch durch Hausärzte.

In den neuen ärztlichen Leitlinien, an denen Tom Bschor mitgeschrieben hat, bekommen die nicht-medikamentösen Behandlungsmethoden einen größeren Fokus als noch in früheren Versionen.

Mark Horowitz aber warnt: Es stehe schon die nächste Hypothese für ein mögliches chemisches Ungleichgewicht im Gehirn bei Depressionen im Raum, die von der Pharmaindustrie unterstützt wird, inklusive neuer Medikamente. Demnach soll ein zu geringer Gehalt von Glutamat im Gehirn verantwortlich sein. Dafür gebe es aber genauso wenig Belege wie für die Serotonin-Mangel-Hypothese.

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