Eine junge Frau schaut mit einer alten Frau ein Fotoalbum durch.
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Das digitale Demenzregister "digiDEM" will mit seinen digitalen Angeboten vor allem Betroffene im ländlichen Raum erreichen. (Symbolfoto)

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Das größte Demenzregister der EU – made in Erlangen

Es ist das nach eigener Aussage größte Demenzregister in der EU: das Digitale Demenzregister Bayern – kurz digiDEM. 1.600 Erkrankte, Zu- und Angehörige umfasst es. Ziel ist es, ihre Lebensbedingungen zu verbessern. Vor allem mit digitalen Angeboten.

Über dieses Thema berichtet: Das Gesundheitsmagazin am .

"Test starten? Na dann starten wir," sagt Renate Fischer und blickt auf ihren Laptop, sie liest die Frage: "Nutzen Sie das Angebot aktuell?" vor. Es geht um ambulante Pflege eines Angehörigen mit Demenz. Renate Fischer, die anonym bleiben möchte und eigentlich anders heißt, klickt auf "Ja". Sie pflegt seit mehr als 20 Jahren ihren 89-jährigen Onkel und ihren 92 Jahre alten Vater. Die 65-Jährige klickt sich durch den Online-Fragebogen, der ihr Hilfestellung geben soll. Der ihr helfen soll, herauszufinden, wie sie das Leben ihrer Angehörigen erleichtern und auch sich selbst den Stress nehmen kann. "War das Angebot für Sie ausreichend?", heißt es weiter. So geht es weiter, durch 16 ausgewählte Angebotskomplexe.

Digitale Ersthilfe: der Online-Fragebogen DEMAND

Für Menschen wie sie haben Forschende der Universität in Erlangen, der Uniklinik Erlangen und von Medical Valley diesen speziellen Fragebogen entwickelt – mit Namen DEMAND, kurz für Dementia Assessment of Service Needs. Er soll schnell, einfach und niederschwellig einen ersten Überblick über Hilfsangebote bei Demenzerkrankungen geben. Der Anspruch: "Die eigenen Bedarfe erkennen und sich Hilfe suchen", so die Forschenden auf der Website des Fragebogens. Der Fragebogen ist der neueste Baustein des digitalen Demenzregisters digiDEM.

Volkskrankheit Demenz

Demenz gilt heute mittlerweile als Volkskrankheit. Epidemiologischen Studien zufolge leiden in Deutschland etwa 1,8 Millionen Menschen an der Krankheit, die Nervenzellen im Gehirn schädigt. Allein in Bayern sind es rund 270.000 Erkrankte. Im Frühstadium einer Demenz wird die Versorgung oft von pflegenden Angehörigen übernommen. Und obwohl die Zahl so hoch ist, seien Demenzen unterdiagnostiziert, es gebe viel mehr Demenzen als bekannt sind, sagt einer der Projektleiter von digiDEM, Prof. Peter Kolominsky-Rabas. Auch dauere die Diagnosestellung oft sehr lange.

Aus dieser Problemlage sei die Idee zum digitalen Demenzregister Bayern entstanden, so der Neurologe. "Wir möchten möglichst viele Menschen in Bayern, aber vor allem im ländlichen Raum auf unser Projekt aufmerksam machen, dass sie sich testen lassen, dass wir sie in unser Register einschließen und dass wir sie begleiten, mit Rat und Tat zur Seite stehen." Das Projekt ziele darauf ab, die Lebensbedingungen von Menschen mit Demenz und deren pflegenden An- und Zugehörigen in Bayern, insbesondere in den ländlichen Regionen, zu verbessern sowie die klinische Komplexität und den Langzeitverlauf demenzieller Erkrankungen besser zu verstehen.

"Datenspende" von wenigen hilft allen

Das Register ist nach Angaben der Erlanger Forscher mittlerweile das größte seiner Art in der Europäischen Union. Zum August dieses Jahres zählte digiDEM 1.600 Teilnehmende. Eine solch einzigartige Menge an Daten sorgt laut Kolominsky-Rabas für eine Verbesserung der Situation Demenzerkrankter und deren Angehörigen. Diese Datenspende sei extrem wichtig, denn mit dieser könne die Staatsregierung, die das Projekt finanziell unterstützt, aber auch das Gesundheitssystem im Allgemeinen den Bedarf an Unterstützungsangeboten je nach Region verbessern oder aufbauen. "Wenn Sie pflegender Angehöriger sind, dann haben Sie oft einen betroffenen Menschen, der 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche Unterstützung und Hilfe braucht. Das ist eine immense körperliche und psychische Anstrengung", so Kolominsky-Rabas. Passgenaue Hilfe sei da das beste Mittel.

Demenzregister als Medikamenten-Monitor

Mit der freiwilligen Datenspende und dem Aufbau als Langzeitregister bietet digiDEM noch eine weitere Chance für Erkrankte, so der Neurologe mit Blick auf zukünftige Behandlungsoptionen: Drei neue Medikamente haben zuletzt für eine leichte Verbesserung der Gedächtnisleistung gesorgt, in den USA sind sie sogar bereits zugelassen, in der EU noch nicht. Das Problem: Sie haben Nebenwirkungen.

Laut dem Erlanger Forscher verursachen die Medikamente Mikro-Blutungen im Gehirn und führen zu einer vorübergehenden Hirnschwellung. In Zukunft müssten Menschen, die derartige Medikamente bekämen, besser überwacht werden, so Kolominsky-Rabas. Sonst drohten teils lebensbrdohliche Komplikationen.

"Register sind die ideale Plattform, diese Menschen besser zu monitoren und Nebenwirkungen dann zu erkennen und aufzufangen." Prof. Peter Kolominsky-Rabas, Projektleiter bei digiDEM

Digitale Angebote mit niedrigschwelligem Zugang

Das digiDEM ist dabei nicht nur ein Register. Die Forschenden bieten auf ihrer Website auch mehrere digitale Angebote für Menschen mit kognitiven Einschränkungen. Hörtests, Demenz-Screenings oder eben auch den Fragebogen DEMAND, an dessen Erstellung neben Fachleuten auch Betroffene und Angehörige beteiligt waren. Der Fragebogen zeichne sich durch seinen niedrigschwelligen Zugang aus, ort- und zeitunabhängig, auch das ist im ländlichen Raum entscheidend, so Nikolas Dietzel von digiDEM. Mit dem Fragebogen solle eine Vorstrukturierung erreicht werden.

Es gebe viele gute Unterstützungsangebote vor Ort, so Dietzel weiter. "Aber unsere und auch internationale Forschung zeigt, dass die häufig nicht in Anspruch genommen werden, obwohl Angehörige vielleicht schon hochbelastet sind. Da wollen wir helfen, dass die Nutzungsraten erhöht werden."

Stigma Demenz: Digitale Anonymität als Starthilfe?

Den Betroffenen soll geholfen werden, selbst ihren eigenen Bedarf genauer zu erkennen. Nachdem sich die Angehörigen durch die 16 Angebotsgruppen wie Demenz-WG, ambulante oder stationäre Pflege oder auch praktische Hilfsmittel geklickt haben, erhalten sie eine Übersicht: Welche Angebote helfen können, priorisiert nach den eigenen Wünschen der Nutzerinnen und Nutzer. Für Nikolas Dietzel bietet der niedrigschwellige Zugang einen weiteren Vorteil. Im Digitalen sei man anonym. Und diese Anonymität könne helfen, einen ersten Kontakt mit dem Thema aufzubauen.

Denn "Demenz ist eine Erkrankung, die mit Stigmata zu kämpfen hat", so Nikolas Dietzel. Digital könnten sich die Betroffen geschützt "sozusagen in die Öffentlichkeit begeben" und daraufhin erste Hilfsangebote annehmen.

Beratung vor Ort: "Unersetzbar"

Die finden Erkrankte und Angehörigen im Raum Nürnberg zum Beispiel vor Ort bei der Angehörigenberatung im Nachbarschaftshaus in Nürnberg-Gostenhof bei Barbara Süß. Sie berät Erkrankte und Angehörige, leitet Gesprächsgruppen, nimmt Betroffene an die Hand. Für die Psychogerontologin leistet der Fragebogen DEMAND einen guten Einstieg, auch für das Beratungsgespräch. Eine persönliche Beratung, ein Gespräch von Angesicht zu Angesicht, das ist für Barbara Süß – gerade für ältere Menschen – aber nicht zu ersetzen. Dies sei für Betroffene unmittelbar bereits eine Entlastung, noch bevor sie konkrete Informationen und Hilfe erhalten hätten.

"Allein die Tatsache, dass einer mal zuhört, sich die Ängste anhört, was Sorgen oder Zukunftsängste bereitet, das ist eine Riesenentlastung für die Menschen. Sie fühlen sich gehört, gesehen." Barbara Süß, Angehörigenberatung Nürnberg e.V.

Hand in Hand: Analoge Beratung und digitales Angebot

Es ist wohl das Zusammenspiel aus Digital und Analog. Der Fragebogen DEMAND selbst sieht sich auch nicht in Konkurrenz zu Beratern vor Ort: Im Gegenteil, mit dem Fragebogen sollen die Betroffenen motiviert werden, sich professionelle Hilfe zu suchen. Und die Forschenden um Professor Kolominsky-Rabas wollen ihr Register in der kommenden Zeit noch vergrößern. Immer mit dem Ziel: das Leben der Erkrankten sowie das der pflegenden Angehörigen zu verbessern.

Renate Fischer hat den Fragebogen fertig ausgefüllt, ihr Urteil: Das Angebot von digiDEM ist enorm. Am Ende steht die Übersicht über die Unterstützungsangebote. Daneben: Blaue Buttons mit der Aufschrift "Mehr Information". Wohin man damit als Ratsuchender geführt werde, so Renate Fischer, sei sehr hilfreich.

Welt-Alzheimertag und Bayerische Demenzwoche

In Bayern hat am 15. September die diesjährige Bayerische Demenzwoche des Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege gestartet. Dieses Jahr zählt das Ministerium sowohl analog als auch digital mehr als 1.000 Veranstaltungen, die in Themenschwerpunkte wie Diagnostik, Unterstützungsangebote oder auch Betreuung und Pflege aufgeteilt sind. Die mittlerweile vierte Demenzwoche im Freistaat geht noch bis zum 24. September. Sie findet jedes Jahr in der Woche statt, an der auch der Welt-Alzheimertag stattfindet. Dieses Jahr wird der Tag am Donnerstag, 21. September begangen.

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