Erlegtes Wildschwein: Eine neue Studie zeigt, dass radioaktives Cäsium-137, das bei den Atomwaffentests der 1950er- und 1960er-Jahre frei wurde, die Wildschweine immer noch belastet.
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Wildschweine, die in jüngst in Bayern geschossen wurden, weisen teilweise hohe radioaktive Belastung auf. Nicht nur durch Tschernobyl.

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Warum Wildschweine in Bayern radioaktiv so belastet sind

Wildschweine sind immer noch stark radioaktiv belastet, während anderes Wild kaum noch Spuren von Tschernobyl zeigt. Eine neue Studie sagt: Das radioaktive Material bei Wildschweinen stammt zum Teil noch von Atomwaffentests aus den 1950er-Jahren.

Über dieses Thema berichtet: Abendschau - Der Süden am .

Nach der Reaktorkatastrophe des Kernkraftwerks Tschernobyl im Jahr 1986 ging eine Wolke radioaktiven Materials nieder und sorgte insbesondere auch in Bayern für eine hohe Strahlenbelastung durch radioaktives Cäsium-137. Bis heute bekommen wir diese erhöhte Radioaktivität zu spüren, denn vor allem Wildpilze und Wildfleisch sind nach wie vor belastet.

Während aber die radioaktive Belastung beim Fleisch von Hirschen und Rehen längst wieder gesunken ist, bleiben die Messwerte bei Wildschweinen so hoch, dass der EU-Grenzwert von 600 Becquerel pro Kilogramm Fleisch oft weit überschritten wird. Forschende der Technischen Universität Wien haben jetzt offenbar eine Quelle entdeckt, die zur hohen Strahlenbelastung der Wildschweine beiträgt.

Hohe Cäsium-Werte in bayerischen Wildschweinen festgestellt

Eine Studiengruppe um den Radioökologen Georg Steinhauser untersuchte 48 Wildschweine, die von 2019 bis 2021 in Bayern erlegt wurden, auf im Fleisch nachweisbares Cäsium-137. Das ist ein radioaktives Isotop von Cäsium, das in der Natur so nicht vorkommt. Es entsteht bei Kernspaltung – in Atomkraftwerken oder bei der Explosion von Atomwaffen.

Die Studie, die jetzt im Fachmagazin Environmental Science & Technology veröffentlicht wurde, stellte dabei teilweise Strahlenwerte bis zu 15.000 Becquerel pro Kilogramm Wildschweinfleisch fest - 25-mal höher als der EU-Grenzwert. Im Durchschnitt wiesen die untersuchten Fleischproben 1.700 Becquerel auf, fast dreimal so viel wie erlaubt.

Atomwaffen-Cäsium statt Tschernobyl-Cäsium

Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wollten mit ihrer Studie aber nicht die Höhe der radioaktiven Belastung von Wildschweinen feststellen, sondern herausfinden, woher das radioaktive Material stammt. Das Ergebnis ihrer Studie: Ein beachtlicher Anteil des Cäsium-137 in den Wildschweinen stammt nicht vom Tschernobyl-Unglück, sondern ist deutlich älter.

Das radioaktive Material wurde nach Aussage der Studienautoren bei den US-amerikanischen und sowjetischen Atomwaffentests frei, die vor allem von 1950 bis 1963 überirdisch stattfanden. Der Fallout fand weltweit statt. Auch in Bayern.

Der radioaktive Fingerabdruck der Kernkraft

Am Cäsium-137 alleine hätten die Forschenden das nicht feststellen können: "Das Waffen-Cäsium-137 unterscheidet sich nicht vom Reaktor-Cäsium-137", heißt es in der Studie.

Doch die Mischung mit einem anderem Cäsium-Isotop macht's: In beiden Fällen wird auch Cäsium-135 frei, das nur wenig radioaktiv ist, aber sehr lange hält. Nach mehr als zwei Millionen Jahren hat sich seine Menge erst halbiert. Die Halbwertszeit bei Cäsium-137 beträgt dagegen 30 Jahre.

Das Verhältnis von Cäsium-135 zu Cäsium-137 ist bei Atomwaffentests etwa 2 zu 1, beim Reaktorunglück von Tschernobyl dagegen etwa 1 zu 2. Damit ergibt sich ein spezifischer radioaktiver Fingerabdruck, an dem sich ablesen lässt, wo das radioaktive Material entstanden ist, heißt es in der Studie.

Wildschwein-Fleisch von älterem Cäsium belastet

In unserer Umgebung macht das Cäsium-137, das bei den Atomwaffentests frei wurde, nur noch etwa ein Zehntel der Gesamtbelastung aus, neunzig Prozent des Cäsium-137 stammen vom GAU in Tschernobyl.

Doch bei den für die Studie untersuchten Wildschweinen sah es anders aus: Die Forschenden fanden hier nicht nur Cäsium-137 mit dem radioaktiven Fingerabdruck von Tschernobyl. Teilweise ließ sich das Cäsium-137 in ihrem Fleisch zu fast zwei Dritteln auf die Atomwaffentests zurückführen. Denn, so die Erklärung der Studie, die Wildschweine nehmen es mit einer ganz speziellen Nahrung auf.

Video: So werden Wildschweine auf Radioaktivität getestet

Wildschweine
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Radioaktivität wandert nur langsam tiefer in den Böden

Das radioaktive Cäsium-137 ist nicht nur langsam, was seinen Zerfall angeht: Es braucht auch sehr lange, um durch die Erdschichten in größere Tiefen zu wandern. Dabei gibt es, das zeigt auch die Studie, große regionale Unterschiede: Je nach Menge der Niederschläge und Zusammensetzung der Böden wird Cäsium-137 schneller oder langsamer im Boden nach unten transportiert. Und trifft im Boden auf "Akkumulatoren": Etwas, das das radioaktive Material lange speichert – wie Pilze.

Je tiefer solche Akkumulatoren im Boden liegen, umso älter ist das gespeicherte Cäsium-137, legt die Studie nahe.

Hirschtrüffel speichert das radioaktive Material

Hirschtrüffel sind längst dafür bekannt, dass sie mit hohen Mengen von Cäsium-137 stark radioaktiv belastet sind. Diese Pilze dienen Wildschweinen regelmäßig als Nahrung. Insbesondere, wenn im Winter andere Nahrungsquellen knapp werden, buddeln die Wildschweine auch tief unter der Erde liegenden Hirschtrüffel aus.

Tschernobyl noch nicht im Hirschtrüffel angekommen

Die Schlussfolgerung der Studie: Den Hirschtrüffel hat bislang offenbar vor allem das radioaktive Material der Atomwaffentests vor 60 bis 70 Jahren erreicht.

Studienleiter Steinhauser erläuterte gegenüber der Nachrichtenagentur dpa: "So erklärt sich, dass das 'alte' Cäsium überproportional im Wildschwein ist – das Tschernobyl-Cäsium ist beim Hirschtrüffel noch gar nicht in vollem Ausmaß angekommen."

Das heißt aber auch: Die radioaktive Belastung der Hirschtrüffel durch Tschernobyl wird erst noch kommen. Und das Fleisch von Wildschweinen wird demnach noch lange stark belastet sein.

Video: Wildschweine im Frühjahr 2022 durch Hirschtrüffel stark verstrahlt

Metzger mit Wildschwein
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Im Frühjahr 2022 mussen besonders viele geschossene Wildschweine wegen zu hoher radioaktiver Belastung entsorgt werden.

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