Ein Bauarbeiter mit orangem Helm und gelber Weste geht auf einem Baugerüst.
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Die Bauelektrik und die Bauplanung sind zwei der Berufsgruppen, die bereits jetzt unter einem Fachkräfteengpass leiden.

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#Faktenfuchs: Fachkräftemangel lindern - nur mit Zuwanderung?

Noch gibt es keinen flächendeckenden Fachkräftemangel in Deutschland, doch schon heute können viele Stellen nicht besetzt werden. Wie kann man darauf reagieren - und könnten wir es uns leisten, auf Zuwanderung zu verzichten? Ein #Faktenfuchs.

Dieser #Faktenfuchs ist erstmals am 11. August 2023 auf BR24 erschienen. Das Thema ist weiterhin aktuell. Daher haben wir diesen Artikel erneut publiziert.

Darum geht’s:

  • Noch gibt es in Deutschland keinen flächendeckenden Fachkräftemangel. Doch bis 2030 fehlen sieben Millionen Arbeitskräfte - weil die Babyboomer-Generation in Rente geht.
  • Wenn Frauen und Ältere verstärkt in den Arbeitsmarkt integriert werden und die Zahl der Arbeitslosen sinkt, könnte das den Fachkräftemangel bis zu einem gewissen Grad abfedern.
  • Trotzdem bleibt die Zuwanderung laut Experten ein zentraler Teil der Lösung. Um langfristig genügend Fachkräfte zu haben, müssten jedes Jahr 400.000 Zuwanderer nach Deutschland kommen - und bleiben.

Die Zahl offener Stellen ist auf einem historischen Hoch und Arbeitgeber beklagen wiederholt fehlende Fachkräfte. Das Schlagwort "Fachkräftemangel" wird von Politikern, Journalisten und Firmen häufig verwendet. Eine Fachkraft ist jemand, der oder die mindestens eine zweijährige Berufsausbildung abgeschlossen hat.

Internetnutzer suchen derweil die Begriffskombination "Fachkräftemangel" und "Lüge" verstärkt auf Google:

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Google Trends Übersicht zu den Suchanfragen für den Suchbegriff "Fachkräftemangel Lüge".

Auch auf Telegram wird der Fachkräftemangel infrage gestellt. Dort ist in verschiedenen Kanälen vom "Märchen" des "angeblichen Fachkräftemangels" die Rede. Vor allem die Forderung etwa der Wirtschaftsweisen Monika Schnitzer oder des IfW-Chefs Moritz Schularick nach mehr Zuwanderung nach Deutschland, um dem Fachkräftemangel zu begegnen, stellen Nutzer infrage. Manche schlagen vor, einfach alle deutschen Arbeitslosen zu den benötigten Fachkräften auszubilden. Ist die Lösung so "einfach"? Und wie steht es um den Fachkräftemangel in Deutschland?

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Telegram-Posts zum Fachkräftemangel.

Gibt es einen Fachkräftemangel in Deutschland?

Im Jahr 2022 gab es mehr als 1,3 Millionen offene Stellen für qualifizierte Fachkräfte, heißt es vom Kompetenzzentrum Fachkräftesicherung (KOFA), einem Projekt des Bundeswirtschaftsministeriums. Gleichzeitig gibt es deutlich weniger qualifizierte Arbeitslose, die diese Stellen besetzen könnten. 2022 waren es nur etwas mehr als 967.000 qualifizierte Arbeitslose. Konträr zur Anzahl offener Stellen für Qualifizierte, die im letzten Jahrzehnt "nahezu stetig" anstieg, sinkt die Zahl der qualifizierten Arbeitslosen seit zehn Jahren fast durchgängig, mit Ausnahme der Corona-Jahre.

Der viel größere Teil der Arbeitslosen ist an- oder ungelernt und kann Helfertätigkeiten ausführen, für die der Bedarf aber im Vergleich sehr gering ist. Diese Situation führe dazu, dass alleine rechnerisch nicht alle offenen Stellen für qualifizierte Fachkräfte mit Arbeitslosen besetzt werden können. Einen Arbeitskräftemangel gebe es in Deutschland nicht, doch die Fachkräftesituation sei "angespannter denn je", heißt es vom KOFA.

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Entwicklung der offenen Stellen und Arbeitslosenzahlen im Jahresdurchschnitt

Einen flächendeckenden oder branchenübergreifenden Fachkräftemangel gibt es in Deutschland laut Bundeswirtschaftsministerium und dem Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) nicht.

Wohl aber einen Fachkräfteengpass in einzelnen Branchen und Regionen. Tobias Maier, der sich beim BIBB mit langfristigen Projektionen des Arbeitsangebotes beschäftigt, sagt im Interview mit dem #Faktenfuchs: "Das sind etwa IT-Tätigkeiten oder pflegerische Tätigkeiten im Gesundheitsbereich, wo es für die Arbeitgeber einfach schwierig ist, Leute zu finden." Ähnlich sei das im Handwerk. Diese Entwicklung werde sich in Zukunft fortsetzen.

Und: Viele Firmen sehen sich schon jetzt vom Fachkräftemangel betroffen, wie das KfW-ifo-Fachkräftebarometer, eine Umfrage unter Unternehmen, im Juni 2023 zeigt. 42 Prozent der befragten Unternehmen gaben an, ihre Geschäftstätigkeit werde durch den Fachkräftemangel behindert.

So viele Erwerbstätige wie nie in Deutschland

Dabei gibt es so viele Erwerbstätige in Deutschland wie noch nie, sagt die Volkswirtschaftlerin Manuela Barišić vom Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit, das von der Deutschen Post Stiftung finanziert wird. "Wir haben knapp 46 Millionen Menschen, die in Beschäftigung sind, das ist ein historischer Höchststand." Maier vom BIBB sagt außerdem: "Wir sehen, dass das Angebot an entsprechend qualifizierten Personen auch kontinuierlich wächst. Aber es wächst sowohl in der Vergangenheit als auch in Zukunft nicht so stark wie die Nachfrage."

Ein Minus von sieben Millionen Personen auf dem Arbeitsmarkt bis 2035

Denn was auch einen historischen Höchststand erreicht hat: die Zahl der sogenannten "Engpassberufe". Sie liegt bei 200 von 1.200 untersuchten Berufsgattungen in Deutschland. Als Engpassberufe definiert die Bundesagentur für Arbeit Berufe, in denen nicht genügend Fachkräfte vorhanden sind, um die verfügbaren Stellen zu besetzen - also, in anderen Worten, Berufsgruppen, in denen sich ein Fachkräftemangel abzeichnet. Dazu gehören etwa Pflegeberufe, Berufe in der Kindererziehung, Berufe im Metallbau oder auch Berufe in der Softwareentwicklung.

Die Situation wird sich in Zukunft weiter verschärfen: Bedingt durch demografische Prozesse werde es weitere Engpässe geben, sagt Enzo Weber vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB): "Wenn jetzt die Babyboomer-Generation in Rente geht und die kleineren Generationen nachkommen aus der Schule, aus den Universitäten, dann wird der Arbeitsmarkt deutlich schrumpfen. Bis 2035 verzeichnen wir durch den Alterungseffekt ein Minus von sieben Millionen Personen, wenn es keinen Ausgleich gibt."

  • Wo in Bayern die meisten Arbeitskräfte fehlen werden, können Sie hier nachlesen.

Wie reagiert man auf den Fachkräftemangel?

Doch wie reagiert man darauf? Funktioniert ein Ausgleich der fehlenden Fachkräfte nur mit Zuwanderung? Oder reicht es, auf Arbeitslose zu setzen? Die vom #Faktenfuchs befragten Experten sagen einstimmig: Es muss eine Mischung aus vielen Maßnahmen sein. Laut Matthias Kleindienst, Sprecher der Bundesagentur für Arbeit, geht es darum, das Arbeitskräfteangebot zu erhöhen, aus dem in der Folge dann Fachkräfte erwachsen können. Zu den Maßnahmen gehört unter anderem auch, dass Ältere länger und Frauen häufiger in Vollzeit arbeiten. Das würde den Arbeitsmarkt entlasten - aber nur bis zu einem gewissen Grad.

Maßnahme 1: Arbeitslose einsetzen

Eine Maßnahme, um den Fachkräftemangel auszugleichen, ist es, die Arbeitslosenquote zu senken und bisher erwerbslose Menschen in Arbeit zu bringen. Das Problem dabei: Von den qualifizierten Arbeitslosen haben laut Bundesagentur für Arbeit viele häufig keinen Engpassberuf. Hinzukommt: Ein Kostümbildner kann nicht einfach als Pfleger eingesetzt werden und die Bühnentechnikerin nicht als IT-Ingenieurin. Es kann zudem sein, dass sich die arbeitsuchende Person mit der richtigen Qualifikation nicht in der Region befindet, in der die entsprechende Stelle besetzt werden soll.

Außerdem gibt es regionale Unterschiede, was die Zahl der Arbeitslosen betrifft. Bayern hat im deutschlandweiten Vergleich die niedrigste Arbeitslosenquote: 3,2 Prozent. In vielen Regionen Bayerns seien es sogar circa zwei Prozent, sagt Kleindienst. "Das ist im Grunde Vollbeschäftigung."

Aus der Arbeitslosigkeit könnten bei einer niedrigen Arbeitslosenquote nicht mehr allzu viele Fachkräfte "geschöpft" werden, so Kleindienst.

Die "Stille Reserve" aktivieren

Neben erwerbslosen Personen gibt es auch die sogenannte "Stille Reserve", sie taucht in der Arbeitslosenstatistik nicht auf, stünde aber prinzipiell auch für Arbeit zur Verfügung. Die Schätzungen zur Größe der Stillen Reserve unterscheiden sich. Die jüngsten Schätzungen hat das IAB veröffentlicht: Danach umfasst die Stille Reserve 2023 knapp eine Million Personen. Das IAB unterscheidet zwischen der Stillen Reserve im engeren Sinne und der Stillen Reserve im weiteren Sinne.

Zur Stillen Reserve im engeren Sinne zählen laut IAB Personen, die nicht aktiv nach einer Arbeit suchen, aber bei besserer Arbeitsmarktlage oder geeigneteren persönlichen Umständen eine Arbeit aufnehmen würden.

Laut Statistischem Bundesamt gab mehr als ein Drittel der 25- bis 59-jährigen Frauen in der Stillen Reserve im Mikrozensus 2021 Betreuungspflichten als Grund dafür an, dass sie derzeit keine Arbeit aufnehmen können. "Hier liegt natürlich sehr, sehr großes Potenzial", sagt Manuela Barišić.

Zur Stillen Reserve im weiteren Sinne zählt das IAB Personen, die an arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen teilnehmen, aber nicht erwerbstätig sind. Das sind etwa Maßnahmen zur Förderung der beruflichen Weiterbildung, zur beruflichen Eingliederung oder Sprach- und Integrationskurse. Laut IAB-Schätzung ist der Großteil der Personen in der Stillen Reserve in dieser Gruppe zu verorten.

Maßnahme 2: (Teilzeitbeschäftigte) Frauen arbeiten mehr

Eine weitere Maßnahme, die Experten anführen: Die Frauenerwerbsquote erhöhen. Im Jahr 2022 waren 73,1 Prozent der Frauen zwischen 15 und 64 erwerbstätig. Zum Vergleich: Bei den Männern waren es 80,6 Prozent. Im europäischen Vergleich steht Deutschland damit gut da. Spitzenreiter in Europa sind laut dem Statistischen Amt der Europäischen Union (Eurostat) die Niederlande mit einer Frauenerwerbsquote von 78,1 Prozent.

Insbesondere Frauen mit ausländischer Staatsbürgerschaft in Deutschland haben jedoch eine deutlich niedrigere Erwerbsquote - um bis zu 20 Prozentpunkte, je nach Altersgruppe. In einem Kurzbericht des IAB aus dem Jahr 2021 heißt es, höhere Erwerbsquoten wären gerade bei dieser Gruppe denkbar.

Viel Luft nach oben sei insgesamt bei der Frauenerwerbsquote allerdings nicht mehr, sagt der Arbeitswissenschaftler Olaf Struck von der Universität Bamberg: "Die Erwerbsquote von Frauen ist schon ziemlich ausgereizt." Man könne vielleicht 80 Prozent erreichen, also eine Quote, die etwa so hoch ist wie die Erwerbsquote bei Männern. Wichtiger sei aber ein anderer Punkt: "Sehr, sehr viele Frauen arbeiten nicht in Vollzeit. Und an den Stellschrauben der Ursachen kann man natürlich schon drehen", sagt Struck. Ähnlich wie bei den Frauen in der Stillen Reserve spielen auch hier Betreuungspflichten eine Rolle.

Viele Frauen in Deutschland arbeiten in Teilzeit

Laut dem Europäischen Statistikamt "Eurostat" arbeiteten im 1. Quartal 2023 48,7 Prozent der 15- bis 64-jährigen Frauen in Deutschland in Teilzeit. Das ist fast die Hälfte.

Aktuell ist es laut Enzo Weber vom IAB so: Berufliche Karrieren von Frauen knickten in der Kinderphase ab - und erholten sich danach oft nicht mehr. "Da lassen wir richtig viel Potenzial liegen", sagt Weber.

Helfen könnten zum Beispiel qualitativ hochwertige Kinderbetreuungsangebote und berufliche Flexibilität für Eltern, sagt Manuela Barišić vom IZA. Sie hält das Potenzial bei Erhöhung des Arbeitszeitvolumens von Frauen für groß.

Maßnahme 3: Ältere arbeiten länger

Die Lebensarbeitszeit zu erhöhen, ist eine weitere Maßnahme, die Ökonomen diskutieren, um den Fachkräftemangel abzumildern. Heißt: Die Fachkräfte, die gerade noch auf dem Markt sind, arbeiten länger. In diesem Bereich hat sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten bereits etwas getan: Der Anteil der Älteren, die arbeiten, ist in diesen Jahrzehnten stark gestiegen. 2002 waren laut Eurostat 22,2 Prozent der 60- bis 64-Jährigen mit deutscher Staatsangehörigkeit erwerbstätig, im Jahr 2022 waren es 63,2 Prozent. Ähnlich ist die Entwicklung bei der Altersgruppe 65 bis 69: 2002 arbeiteten 5,4 Prozent, zwanzig Jahre später waren 19,3 Prozent dieser Altersgruppe erwerbstätig.

Das durchschnittliche Renteneintrittsalter lag laut Deutscher Rentenversicherung 2022 bei 64,4 Jahren.

Grafik: Erwerbstätigenquote nach Alter und Jahr

Zweieinhalb Millionen zusätzliche Arbeitskräfte durch längere Lebensarbeitszeit

Wer wie lange arbeitet, unterscheidet sich laut Enzo Weber vom IAB stark nach Berufen: Akademiker blieben bis 66 oder 67 Jahren mit fast denselben Quoten im Arbeitsmarkt wie Jüngere. In körperlich belastenden Berufen sei das nicht so, sagt Weber. Da müsse man genauer hinschauen und überlegen, welche Tätigkeiten Menschen, die älter sind als 60 Jahre, noch gut wahrnehmen könnten.

Viele Personen ab etwa 63 Jahren, die aus gesundheitlichen bzw. sozialen Gründen vor dem regulären Renteneintrittsalter aufhören zu arbeiten, wollen unter bestimmten Bedingungen gerne weiterarbeiten, sagt Olaf Struck von der Uni Bamberg. "Aber dann müssen die Arbeitsbedingungen so sein, dass es funktioniert." Das bedeute: lange vorher Bedingungen schaffen, die die Gesundheit in der Arbeit schützten und die Qualifizierung am Arbeitsplatz ermöglichten, so Struck. Etwa durch abwechslungsreiche Tätigkeiten, Lerngelegenheiten in der Arbeit oder auch die Gelegenheit, sich mit Kolleginnen und Kollegen fachlich austauschen zu können.

Eine längere Lebensarbeitszeit biete einiges an Potenzial, sagt Weber: "Wenn Ältere über 60 Erwerbsquoten hätten wie Menschen, die fünf Jahre jünger sind, würden wir dadurch knapp zweieinhalb Millionen Arbeitskräfte gewinnen für den deutschen Arbeitsmarkt." Das sei im Inland das größte Potenzial, das Deutschland habe.

Doch das inländische Potenzial ist begrenzt - und wird nicht ausreichen.

Reicht es, Frauen, Ältere und Arbeitslose zu "aktivieren"?

In dem IAB-Kurzbericht von 2021 heißt es: "Mit einer besseren Integration ausländischer Frauen in den deutschen Arbeitsmarkt, Erwerbsquoten deutscher Frauen, die mit denen der deutschen Männer übereinstimmen sowie noch einmal deutlich höheren Erwerbsquoten Älterer ließen sich bis 2035 zusätzliche Potenziale von 3,4 Millionen Erwerbspersonen aktivieren." Verglichen mit niedrigen Geburtenraten und der Babyboomer-Generation, die bald in Rente geht, sei das deutlich zu niedrig, wird die IAB-Forscherin Brigitte Weber in einer Presseinformation zitiert.

Auch die Zahl der Arbeitslosen zu reduzieren, könne diese demografischen Effekte nicht ausgleichen, heißt es vom Sprecher der Bundesagentur für Arbeit, Matthias Kleindienst.

Enzo Weber sagt im Gespräch mit dem #Faktenfuchs: "Irgendwann ist mit den Potenzialen im Inland natürlich Schluss. Und dann kann man eine solche demografische Schrumpfung nur noch durch Migration abfangen."

Diesen Punkt machen alle fünf Experten, mit denen der #Faktenfuchs zu diesem Thema gesprochen hat.

Maßnahme 4: Mehr Zuwanderung

Die Bundesregierung setzt deshalb auf die Einwanderung ausländischer Fachkräfte. Mit dem im Juni 2023 verabschiedeten Fachkräfteeinwanderungsgesetz soll es Zuwanderern mit fachlichen Qualifikationen aus Ländern außerhalb der EU leichter gemacht werden, nach Deutschland zu kommen. Unter anderem, in dem die Anerkennung von Berufsabschlüssen erleichtert wird.

Jedes Jahr müssten 400.000 Zuwanderer nach Deutschland kommen

Laut Berechnungen des IAB aus dem Jahr 2021 bräuchte Deutschland jedes Jahr 400.000 Zuwanderer, die nach Deutschland kommen und hier bleiben, um das Arbeitskräfteangebot langfristig konstant zu halten.

2022 kamen 1,5 Millionen mehr Zuwanderer nach Deutschland, als weggezogen sind, zeigt eine Auswertung des Statistischen Bundesamts. Das lag vor allem an den vielen Schutzsuchenden aus der Ukraine.

Weil viele von ihnen Deutschland wohl wieder verlassen werden, bräuchte der deutsche Arbeitsmarkt bis 2035 ungefähr 18 Millionen Migranten, um den heutigen Stand von Erwerbspersonen zu erhalten, sagt Enzo Weber vom IAB dem #Faktenfuchs. "Das übersieht man häufig. Es geht nicht nur um Zuwanderung, sondern man muss diesen Menschen auch etwas bieten. Man muss sie gut in den Arbeitsmarkt integrieren, damit es eine langfristige Perspektive gibt." Wenn viele wieder aus Deutschland weggehen, gewinne man nichts, so Weber.

Deshalb gehe es auch darum, Zugewanderte und deren Kinder in Deutschland durch Qualifikation zu integrieren, bekräftigt auch Tobias Maier vom Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB). Nur so sei Zuwanderung auch nachhaltig. Momentan sei die Abbrecherquote von Ausländern im dualen System doppelt so hoch wie die von Deutschen, das führt Maier auch in einem Paper für die BIBB aus. Da müsse man ansetzen.

Zuwanderer besser integrieren

Doch die Integration scheitere bislang neben den institutionellen Hürden zusätzlich an der Bereitschaft - auch von Unternehmen -, Zuwanderer zu integrieren, sagt Oliver Falck. Er ist Professor für VWL an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität und Leiter des ifo Zentrums für Industrieökonomik und neue Technologien. "Wir müssen ganz massiv in diese Menschen, deren Bildung und Weiterbildung investieren, damit sie in den Arbeitsmarkt kommen."

Mehr Zuwanderer aus Drittstaaten

Falck benennt ein weiteres Problem: Deutschland müsse sich stärker um Zuwanderer aus Drittstaaten bemühen. Bisher komme ein Großteil der erwerbstätigen Ausländer in Deutschland aus EU-Staaten. 2,8 Millionen EU-Ausländer arbeiteten 2022 in Deutschland. Aus Drittstaaten - also Ländern außerhalb der EU - kamen nur 351.000 der Beschäftigte.

"Ich glaube, das Potenzial in der EU ist begrenzt", sagt Falck im Interview mit dem #Faktenfuchs. Enzo Weber sieht das ähnlich: "Die demografische Struktur in vielen osteuropäischen Ländern ist noch schlechter als in Deutschland." Außerdem hätten diese Länder aufgeholt, die Einkommensunterschiede seien nicht mehr so groß. Entsprechend habe das Migrationspotenzial nach Deutschland abgenommen.

Sozialversicherungspflichtig beschäftigte Ausländer kamen Stand September 2022 am häufigsten aus der Türkei, Polen oder Rumänien. Auch Syrien und die Ukraine sind unter den Top 10 der häufigsten Herkunftsländer.

Grafik: Top 10 der häufigsten ausländischen Staatsangehörigkeiten

Fazit

Noch gibt es in Deutschland keinen flächendeckenden Fachkräftemangel, aber er droht: Weil viele aus der Babyboomer-Generation in Rente gehen, werden bis 2035 nach Berechnungen des IAB sieben Millionen Menschen auf dem Arbeitsmarkt fehlen.

Um das auszugleichen, ist eine ganze Reihe von Maßnahmen nötig: Die Zahl der Arbeitslosen muss reduziert werden, teilzeitbeschäftigte Frauen mehr und Ältere länger arbeiten. Doch das alleine wird nicht reichen und hat langfristig nur einen abfedernden Effekt.

Arbeitsmarktbeobachter gehen davon aus, dass Deutschland qualifizierte Fachkräfte aus dem Ausland braucht. Damit diese Menschen langfristig in Deutschland bleiben, müssen sie integriert und institutionelle Hürden abgebaut werden, sagen Experten.

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