Uniformierter in Kampfmontur mit Stahlhelm im Unterstand
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Russischer Soldat in der Nähe von Sewersk

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"Spannung steigt": Bereitet Putin Russland auf Niederlage vor?

Die Ziele Moskaus seien an der Front derzeit "nicht erreichbar", sagte ein prominenter russischer Abgeordneter und löste damit eine Debatte aus. Jetzt wird spekuliert, der Kreml sondiere mit der bemerkenswerten Äußerung insgeheim die Stimmungslage.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Russen sollten am besten gar nicht mehr ins Internet gehen, empfahl der Blogger Andrej Medwedew seinen rund 175.000 Fans. Begründung: "Für die Psyche sind emotionale Schwankungen sehr schädlich, denken Sie dran." Wegen der höchst widersprüchlichen Meldungen von der Front sei es angebracht, nur "am Ende des Tages" Nachrichten zu konsumieren, meinte Medwedew: "Bleiben Sie ruhig und denken Sie immer daran, dass Ihre Gefühle das eigentliche Ziel in diesem Konflikt sind." Damit spielte der Blogger natürlich auf die Gegenoffensive der Ukraine an, die dem russischen Generalstab zufolge an mehreren Frontabschnitten begonnen hat. Was dort derzeit konkret vor sich geht, bleibt vorerst im Nebel der wechselseitigen Propaganda. Allerdings scheint die russische Armee die Initiative verloren zu haben, was zu einer bemerkenswerten innenpolitischen Debatte führte.

Den Anstoß gab der Parlamentsabgeordnete Konstantin Satulin, der zwar nicht Mitglied der Putin-Partei "Einiges Russland" ist, allerdings deren Fraktion angehört. Er sagte am 1. Juni in einem Diskussionsbeitrag, keines der anfänglich ausgerufenen Kriegsziele des Kremls sei erreicht worden, die Ukraine werde als selbständiger Staat überleben und dauerhaft eine Bedrohung darstellen.

"Wir sind doch keine Kinder"

Damit löste Satulin eine stürmische Auseinandersetzung aus. In einem Bericht der Moskauer Wirtschaftszeitung "Wedomosti" hieß es, die Fraktionsführung von "Einiges Russland" berate derzeit, wie sie mit der Ansicht von Satulin umgehen solle. Es gebe interne "Konsultationen", allerdings noch ohne Ergebnis. Unter Umständen könne der Abgeordnete seinen stellvertretenden Ausschussvorsitz verlieren vielleicht gebe es auch nur eine "Ermahnung", seine Worte künftig sorgsamer zu wählen. Satulin selbst beteuerte allerdings gegenüber der Zeitung, mit ihm habe noch niemand aus der Fraktionsführung gesprochen.

Auf seinem Telegram-Blog schrieb Satulin: "Ich habe darüber gesprochen, dass die Ziele der Spezialoperation, und zwar des Krieges, im Moment nicht erreicht wurden. Warum? Es geht doch darum, herauszufinden, was getan werden muss, um diese Ziele zu erreichen. Ich habe meiner Meinung nach deutlich zum Ausdruck gebracht, dass wir alle, die wir im selben Boot sitzen, dafür alle Anstrengungen unternehmen sollten. Ich halte es für schädlich, das unter den Teppich zu kehren. Wir sind doch keine Kinder." Zurückgerudert ist der Politiker damit also nicht, wenngleich er sich beklagte, dass manche seiner Äußerungen "aus dem Zusammenhang gerissen" worden seien.

"Ziemlich aufschlussreich"

Im russischen Netz hieß es von Bloggern, das "politische Leben" erwache gerade erst wieder: "Sollten irgendwelche Sanktionen gegen Satulin verhängt werden, wird das aussehen, als ob eine Person, die die Wahrheit sagt, unterdrückt wird." Blogger Pawel Prianikow zeigte sich sicher, dass Satulin seine Worte "mit Unterstützung einflussreicherer Leute" geäußert habe. Er sei ein "erfahrener Politiker" und keine Marionette, die nur "Knöpfe im Parlament" drücke. Die Hauptfrage sei nicht, wie Satulin zur Räson gebracht werden könne, sondern "welche politischen Kreise" er vertrete, so ein weiterer Blogger.

Als "ziemlich aufschlussreich" bezeichnete Politikwissenschaftler Garnik Tumanjan den Fall, wie alle Nachrichten, die mit "neuen Bedeutungsinhalten" auf die Tagesordnung kämen. Auch Kollege Ilja Ananiew fragte sich, ob Russland mit Hilfe von Satulins Ausführungen nicht insgeheim nach einem diplomatischen Ausweg suche. Ansonsten sei nicht zu erklären, dass solche Meinungen eines politischen Außenseiters im russischen Netz "viral" gingen. Andere verwiesen darauf, dass nicht nur Satulin neuerdings "unangenehme Fragen" stelle.

"Sie könnten uns auf Niederlage vorbereiten"

Ein Blogger mit 30.000 Fans brachte es auf den Punkt: "Die Resonanz, die Satulins Rede hatte, hängt mit zwei Kernpunkten zusammen. Erstens dem Eingeständnis, dass der 24. Februar 2022 [der Angriffstag] ein Fehler war und Putin dafür verantwortlich ist. Obwohl das alles ein offenes Geheimnis ist, ist es nicht üblich, laut darüber zu sprechen. Zweitens, dass die Ukraine bestehen bleibt und wir eine Art Beziehung zu ihr aufbauen müssen." Diese Diskussion zurückzudrehen, werde nicht mehr funktionieren.

"Es wäre wichtig zu erfahren, ob solche Reden von den Behörden abgesegnet wurden, denn davon hängt die Bedeutung der Nachricht ab", sagte Politologe Maxim Trudoljubow. "Wenn das vorab genehmigt wurde, wäre es ein Signal dafür, dass Putin seinen Verstand noch nicht verloren hat und weiß, wie es derzeit um ihn steht und was er zu verantworten hat." Ein weiterer Blogger meinte: "Das erste, worauf sie uns vorbereiten könnten, ist eine Niederlage." Es gebe auch bereits denkbare Argumentationen, nach dem Motto, Russland sei "noch nicht bereit für die Konfrontation mit dem vereinigten Westen" gewesen, "einige Ziele" seien aber trotzdem erreicht worden, wobei diese allerdings dann noch formuliert werden müssten.

"Die Spannung steigt"

"Die zähen Debatten über das weitere Vorgehen werden eskalieren und sicher werden sich bald unsere politischen Schwergewichte daran beteiligen", schrieb Blogger Jaroslaw Ignatowski vom Verband der politischen Berater in Russland. Er meint, dass Satulins Rede "trotz aller Schärfe und Unannehmlichkeit" keineswegs die Obrigkeit "diskreditiert" habe: "Daher glaube ich, dass die Zahl solcher Bestandsaufnahmen, wie der von Satulin, in naher Zukunft zunehmen könnte. Sicher werden die Parteigenossen Satulin zur Rede stellen, er muss sich vielleicht entschuldigen und sagen, dass er es nicht ganz so gemeint hat. Aber am Kern der Sache wird das nichts ändern. Die Spannung steigt. Wir sehen, dass auf dem Territorium Russlands bereits Feindseligkeiten [in der Region Belgorod] im Gange sind."

Auch in den Leserspalten der russischen Zeitungen wird Satulins Rede ausführlich diskutiert. "Wenn unsere Politiker Dinge hören, die ihre Märchenwelt mit Gestaden von Milch und Honig zerstören, stecken sie ihren Kopf sofort in den Sand, nur um nicht die Verantwortung für schwierige Entscheidungen übernehmen zu müssen. Infolgedessen breiteten sich Metastasen von Ineffizienz und leerem Gerede immer schneller aus", schrieb ein Kommentator der "Business Gazeta". Ein anderer meinte: "Satulin hat alles richtig bemerkt. Und überhaupt ist unser Parlament ein Ort der Debatte. Wo sonst könnten Politiker streiten, wenn nicht in der Duma?"

"Menschen in die nächste Welt mitnehmen"

Satulin habe "offen und konkret" gesprochen, lobte jemand: "Stimmen Sie mit ihm nicht überein? Dann bringen Sie Ihre begründeten Einwände vor. Aber nein, sie werden ihn mundtot machen." Es sei "Zeit, erwachsen zu werden und die Fakten zu akzeptieren", war zu lesen. Es gibt allerdings auch Leute, die Satulin als "schlüpfrigen Fisch", "Dreckskerl" oder "Bastard" bezeichneten: "Wird er mit einem Verweis davon kommen? Es gibt doch drei Paragrafen zum Thema Diskreditierung." Patrioten argwöhnten, das Imperium "zerstöre sich gerade selbst". Ein besonders fatalistischer Russe urteilte: "Die alte Tradition der östlichen Khane besteht darin, so viele Menschen wie möglich in die nächste Welt mitzunehmen. Dabei spielt es keine Rolle, ob es Fremde oder Eigene sind."

Prigoschin lässt Oberstleutnant festnehmen

Derweil schafft Söldnerführer Jewgeni Prigoschin mit befremdlichen Aktionen Tatsachen: Seine Leute verhafteten einen russischen Oberstleutnant, der angeblich im Suff auf ein Fahrzeug der Söldner geschossen haben soll. Rechtsaußen Igor Strelkow verlangte prompt, nach dem Oberstleutnant auch die russischen Generäle festzunehmen - sie hätten es "durchaus verdient". Die strategische Initiative liege "in den Händen des Feindes", der Kreml bestehe aus "Märchen- und Geschichtenerzählern". Prigoschin behauptete übrigens auch, die russische Armee sei in der Umgebung der gerade erst eroberten Stadt Bachmut auf dem Rückzug: "Eine Schande!" Die Generalität müsse jetzt "mit Pistolen" an die Front kommen, um die zurückflutende Truppe aufzuhalten.

Ein russischer Blogger mit guten Verbindungen zu Geheimdienstkreisen will erfahren haben, dass Putin persönlich sich anders als in den ersten Monaten des Krieges schon länger nicht mehr sonderlich für die Geschehnisse an der Front interessiere: "Er beschimpft das Militär nur noch träge."

Politische Fachleute gaben zu bedenken, dass Putin nächstes Jahr als Präsident wiedergewählt werden will und daher keine weitere Mobilisierung riskieren will. Für den Frühherbst wird ohnehin mit einer Zunahme der "Proteststimmung" gerechnet, weil Russlands Haushalt und Wirtschaft wegen stark rückläufiger Öl- und Gaseinnahmen im "freien Fall" sind und dann mit negativen Auswirkungen auf die Bevölkerung gerechnet wird.

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