Der Privatarmee-Betreiber stellt sich Journalisten
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Auf Wahlkampftour: Söldnerchef Jewgeni Prigoschin

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"Seltsame Passivität": Ist Putin zu schwach für "rote Linien"?

Das Weiße Haus zeige immer weniger Respekt vor Moskaus Empfindlichkeiten, heißt es in der "Washington Post". Russland sei derzeit militärisch unfähig, einen Konflikt mit der NATO zu riskieren. Putins Propagandisten schäumen: "Niemand wird bestraft."

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Die Hasspredigten des russischen Ex-Präsidenten Dmitri Medwedew, der beinahe täglich einen "dritten Weltkrieg" heraufziehen sieht und damit den Westen einschüchtern will, stehen in einem merkwürdigen Gegensatz zur Politik des Kremls: Dort gebe es eine geradezu "seltsame Passivität", urteilte kürzlich ein Blogger, der sich verwundert zeigte, dass Putin alle "Angriffe und Eskalationsversuche von ukrainischer Seite" tatenlos hinnehme: "Niemand wird bestraft." Das ist keineswegs eine Einzelmeinung. Der Propagandasender "Tsargrad", eines der aggressivsten russischen Programme, stellte fest, alle "roten Linien" Moskaus seien buchstäblich "ausradiert" worden, seit die Ukraine russische Grenzregionen beschieße.

"Für einen starken Gegenschlag zu schwach"

Rechtsextremist und Putin-Verächter Igor Strelkow schimpfte: "Alle 'roten Linien', die unsere Führung so fleißig gezeichnet hat, hat der Feind bereits überquert. Und er tat es so trotzig und dreist wie möglich (ein Angriff auf den Kreml mit einer ukrainischen Drohne macht was her) und testete Moskaus Bereitschaft zu Vergeltungsmaßnahmen. Seine Schlussfolgerung ist offensichtlich, dass die russische Führung keine Lust und keinen politischen Willen hat, sich auf eine Verschlimmerung einzulassen und darauf zu drängen, den roten Knopf zu drücken. Dieses Verständnis der psychischen Verfassung der gegenwärtigen russischen 'Elite' verleitet die NATO dazu, die Geographie der Feindseligkeiten weiter zu eskalieren und auszudehnen, was sich unweigerlich bis auf die Ostsee ausweiten wird."

Ähnlich beurteilte Kreml-Propagandist Sergej Markow die Lage: "Russland hat dem Westen erlaubt, Dutzende von roten Linien zu überschreiten und im Westen herrscht inzwischen die starke Überzeugung vor, dass Russland Angst vor einer harten Reaktion hat. Oder dass Russland gerne hart zurückschlagen würde, es aber nicht kann, weil seine militärischen Ressourcen für einen starken Gegenschlag zu schwach sind." Der Kolumnist der einflussreichen "Moskowski Komsomolez", Dmitri Popow, räumte ein, dass alle Rufe nach "roten Linien" auf den "Korridoren der Macht" verhallt seien. Jetzt allerdings sei die Zeit, "in der Russland noch nicht ernsthaft angefangen" habe, doch wohl vorbei.

Putin: "Russland lässt sich nicht provozieren"

Verblüffend sind die offiziellen Stellungnahmen aus dem Kreml nach den jüngsten Eskalationen. Als Drohnen Moskau erreichten, behauptete Putin, das sei wohl die Rache der Ukraine dafür, dass russische Raketen das Hauptquartier des Militärgeheimdiensts in Kiew angegriffen hätten. Damit legte der russische Präsident nahe, dass keine weitere Antwort nötig sei, da der entscheidende Schlag ja schon ausgeführt worden sei. Russland lasse sich nicht "provozieren".

Der pensionierte russische Generalleutnant Jewgeni Buschinski, ehemals zuständig für internationale Zusammenarbeit im russischen Verteidigungsministerium, zeigte sich schier genervt von der Diskussion über Vergeltungsschläge: "In dem Gerede über die 'roten Linien', dem sich einige unserer Kommentatoren widmen, liegt etwas Masochistisches: Sie sagen, schauen Sie, sie übertreten sie, und sie werden es für uns noch schmerzhafter machen. Und sie fordern so etwas wie besondere Maßnahmen der Führung der Streitkräfte, die offensichtlich nicht in die Logik der aktuellen Militärplanung passen."

"Rote Linie verschwimmt"

Putin habe überhaupt keine "roten Linien" markiert, sagte Buschinski, allenfalls dessen Außen- und Verteidigungsminister, und deren Worte "könnten aus dem Zusammenhang gerissen" worden sein. Im Übrigen habe Russland reagiert: "Nach der Sprengung der Krimbrücke begannen Angriffe auf die Energieinfrastruktur [der Ukraine]. Nach Attentaten auf bekannte Blogger und einem Drohnenangriff auf den Kreml kam es zu heftigeren Angriffen auf Lagerhäuser, Kommandoposten und Truppenübungsplätze."

Der Militäranalytiker Leonid Nersisjan, der in Armenien arbeitet, sagte der russischsprachigen Exilzeitung "Novaya Gazeta Europe": "Das Territorium Russlands wird ständig beschossen. Allein die Tatsache, dass das keine Konsequenzen hat, zu keiner radikalen Reaktion des Kremls führte, zeigt, dass die 'rote Linie' verschwimmt."

"Nicht gut genug aufgestellt"

Solche Einschätzungen decken sich mit dem jüngsten Bericht der "Washington Post", wonach US-Präsident Joe Biden risikofreudiger geworden sei, was Waffenlieferungen an die Ukraine betreffe. Demnach sind "hochrangige Beamte" der Administration der Meinung, dass es derzeit nicht im Interesse Putins liege, eine "direkte Konfrontation mit der NATO" zu riskieren: "Sie sind dafür nicht gut genug aufgestellt." Allerdings sei das amerikanische Verteidigungsministerium grundsätzlich "vorsichtiger" als das Außenministerium und das Weiße Haus.

"Zweifellos hat die Bereitschaft der Biden-Regierung, Putins rote Linien zu überschreiten, die Fähigkeit der Ukraine gestärkt, sich zu verteidigen und Gebiete im Osten und Süden zurückzuerobern. Es bleibt jedoch abzuwarten, ob Putin weiterhin zulassen wird, dass der Westen seinen Drohungen folgenlos trotzt", schreibt die "Washington Post". Dort heißt es auch, Putins Drohungen seien im Laufe des Krieges immer "bombastischer" geworden. Selbst einen "nuklearen Holocaust" habe er nicht ausgeschlossen, falls Russland verliere. Womöglich ist es gerade diese scharfe Diskrepanz zwischen radikalen Worten und halbherzigen Taten, die zur aktuellen Debatte beiträgt. Anders formuliert: Der Kreml könnte Opfer der eigenen Propaganda werden.

Lukaschenko gibt sich furchtsam

Möglicherweise muss sich Putin nicht nur mit den sehr begrenzten Fähigkeiten des eigenen Militärs abfinden, sondern auch Druck vermeintlicher Verbündeter aushalten: Der belarussische Präsident Lukaschenko fällt neuerdings mit sehr furchtsamen Wortmeldungen auf. Der Westen plane einen "gewaltsamen Machtwechsel" in Minsk, die Lage in seinem Land sei "politisch und sozial äußerst schwierig", deshalb könne er Putin leider nicht militärisch zur Seite stehen. Gerüchteweise war außerdem in einem normalerweise sehr gut informierten Blog zu lesen, die Chinesen hätten Putin vorgeschlagen, er solle seine Armee auf die Grenzen vom 23. Februar 2022 zurückziehen und ersatzweise eine politische Autonomie für die besetzten Gebiete innerhalb der Ukraine erreichen. Über die Zukunft der Krim solle dann "in fünf Jahren" verhandelt werden. Als Gegenleistung sei Peking bereit, Russland aufzurüsten und dessen "militärisches Potenzial" zu stärken.

Prigoschin: "Kreml-Medien leben auf dem Mond"

Unterdessen tourt Söldnerführer Jewgeni Prigoschin durch Russland und predigt eine Generalmobilmachung mit zwei Millionen Soldaten. Nur so könne Russland den "ernsthaften, umfassenden Konflikt" bestehen. Außerdem sei eine Militarisierung wie in Nordkorea nötig, wenn der Lebensstandard in Russland "auch eine Größenordnung höher" bleiben werde. Wenn all das umgesetzt werde, müsse die russische Armee keineswegs in Kiew haltmachen. Während russische Journalisten die Auftritte als Wahlkampfvorbereitung sehen, behauptete Prigoschin, er treffe sich lediglich "mit Partnerorganisationen", mit denen er "gemeinsame Veranstaltungen" vorbereite. Gern behauptet der Söldnerchef, die vom Kreml gesteuerten Medien lebten "auf dem Mond". Dort gebe es illusionäre Vorkommnisse, die "mit den tatsächlich existierenden keinerlei Berührungspunkte" hätten.

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