Bei der Parade zum 9. Mai in Moskau
Bildrechte: Mikhail Metzel/Picture Alliance

Verteidigungsminister Schoigu und Putin

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"Regieren ist sinnlos": Russland streitet offen über Strategie

Befremdliche Auftritte: Putin hält sich nach eigener Aussage für einen "Sünder" und ist überzeugt, dass Russland von Gott persönlich regiert wird. Gleichzeitig streiten seine wichtigsten Militärs lautstark über ihre Fähigkeiten und Zielsetzungen.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Bei der Begegnung mit kinderreichen Familien wollte der russische Präsident Wladimir Putin wohl originell und volksnah rüberkommen, doch seine Aussagen befremdeten die Öffentlichkeit erheblich. So gab Putin ein Zitat des russischen Zaren Alexander II. (1818 - 1881) zum Besten: "Es ist nicht schwer, Russland zu regieren, aber es ist sinnlos." Im gleichen Atemzug bezog sich der Präsident auf einen angeblichen Ausspruch des deutsch-russischen Generalfeldmarschalls Burkhard Christoph von Münich (1683 - 1767): "Russland wird direkt vom Herrgott kontrolliert. Ansonsten ist es unmöglich, sich vorzustellen, dass dieser Staat noch existiert."

Putin kommentierte das von ihm selbst gewählte Zitat mit den Worten: "Ich muss sagen, hier würde ich mit dem Urheber des Satzes streiten wollen, denn obwohl Russland direkt von Gott regiert wird, ist klar, dass es durch die Verdienste unseres Volkes existiert, aufgrund des Talents unseres Volkes, aufgrund der Liebe zum Vaterland, aufgrund der Hingabe an die Familie und die Heimat."

Damit nicht genug. Auf die Frage eines Kindes, ob er "wichtiger als Väterchen Frost" sei, antwortete Putin: "Der Weihnachtsmann ist meiner Meinung nach wichtiger, weil er ein Charakter ist, der aus guten Werken entsteht. Wir sind alle Sünder, wir können nur danach streben, was höhere Mächte uns abverlangen, nämlich bedingungslose Liebe für unsere Nächsten, bedingungslose Liebe für unsere Lieben, für das Land. Auf diesem Weg müssen wir Schwierigkeiten überwinden, sie sind unvermeidlich. Wenn wir diesem dornigen Weg nach oben nicht folgen, werden wir keinen Erfolg haben."

Kreml-Machtzentren uneins

Was sich nach Selbstironie anhört, könnte angesichts der innenpolitischen Lage durchaus auch ein Stück Selbstaufgabe sein: Im russischen Netz wird angeregt über einen wilden Streit zwischen den Söldnerführern Jewgeni Prigoschin von der Gruppe "Wagner" und dem Tschetschenenführer Ramsan Kadyrow diskutiert. Es gehe weniger um persönliche Animositäten, heißt es bei Bloggern, als um die grundsätzliche Strategie des Kremls. Demnach sind sich die einzelnen Machtzentren völlig uneins über das weitere Vorgehen - was zu Putins Hinweis passen würde, wonach Regieren derzeit "sinnlos" ist.

Das Verteidigungsministerium und der Generalstab forderten eine Generalmobilmachung und die Abriegelung des Landes, um die Armee aufzufüllen. Der Geheimdienst und Teile der politischen Führung setzten dagegen auf höher motivierte "Freiwillige", also eine Stärkung der Söldnertruppen und einen "Volkskrieg" jenseits der verkrusteten Armeestrukturen. Eine dritte Gruppe mühe sich, die Lage "unter Kontrolle zu halten" und wolle möglichst schnell mit Hilfe von Peking und Paris einen Waffenstillstand erreichen.

"Helden werden gebraucht - auch deren Disziplin"

Fest steht: Jewgeni Prigoschin tourt als Held der Ultrapatrioten durchs Land und hat seine Leute zur "Erholung und Ausbildung" von der Front abgezogen, wohl in erster Linie wegen hoher Verluste. Gleichzeitig versprach Tschetschenen-Chef Kadyrow, er werde die "Lücken" mit seinen Leuten auffüllen und an einigen Brennpunkten die Initiative übernehmen. Das führte zu Spekulationen, Putin habe, was die Söldner angeht, "die Pferde gewechselt".

Die "Wagner"-Söldner sind vor allem verärgert, weil ihnen Kadyrows Leute "Panikmache" und wohl auch Feigheit vorgeworfen hatten. Sie wollen eine "Aussprache von Mann zu Mann", schwadronieren von "Hochverrat". In Blogs, die Prigoschin nahestehen, wurde geschimpft: "Unsere Mitarbeiter sind zutiefst empört über das Geschehen und stellen die Frage, wie lange es noch eine solche Haltung gegenüber den treuen Verteidigern ihres Heimatlandes geben wird."

Kreml-Politologe Sergej Markow fragte sich in seinem Blog: "Kann der russische Sicherheitsrat unter den Helden wieder die Ordnung herstellen? Das ist die Hauptfrage für alle. Helden werden gebraucht, aber auch deren Disziplin." Wenn der Konflikt vom Kreml so gemanagt werde wie aktuell, so der Rechtsaußen Igor Strelkow, müsse er Putin ausdrücklich rechtgeben: "Regieren ist nicht schwer, aber sinnlos." Strelkow sprach von einer in den russischen Medien "nie dagewesenen harten Konfrontation".

"Die Pest auf eure beiden Häuser"

Auf der Website der St. Petersburger Zeitung "Fontanka" schreiben russische Leser: "Die Tiere sind aufgeregt, der Zoo ist in Aufruhr." Oder auch: "Es reichte immer noch nicht aus, untereinander zu streiten, westliche Partner träumen einfach davon!" Jemand verwies bereits auf die Präsidentschaftswahl im kommenden Jahr: "Ich dachte, im Jahr 24 würden wir die Wahl zwischen Kadyrow und Putin haben, aber es sieht so aus, als ob es zwischen Kadyrow und Prigoschin ausgetragen wird." Ein literarisch bewanderter Kommentator zitierte William Shakespeares "Romeo und Julia": "Die Pest auf eure beiden Häuser!"

Mit Blick auf die Streithähne Prigoschin und Kadyrow hieß es: "Ich verstehe natürlich dieses und jenes südländisches Blut, aber wir müssen versuchen, uns anständig zu verhalten, besonders im öffentlichen Raum. Wenn Sie sich nicht sicher sind, ob Sie das tun können, sollten sie nicht anfangen." Von einem "lauten Zischen im Terrarium" war zu lesen, oder auch: "Wenn ich mir solche Aussagen anhöre, und zwar von beiden Seiten, lässt mich das Gefühl nicht los, dass die Gangster der 90er Jahre mit ihrem Jargon, ihren Konzepten und ihrer Lebenseinstellung an der Macht sind."

"Jeder Fürst streitet für sich selbst"

In einem längeren Leser-Kommentar wurde analysiert: "Das alles wäre interessant, aber man muss verstehen, dass Verwirrung und Schwankungen charakteristisch für eine Partei sind, die resigniert und zumindest für sich selbst und intern ihre Niederlage eingestanden hat. Bis die Sache verloren geht, werden interne Meinungsverschiedenheiten normalerweise auf später verschoben. Da sie gleichwohl in den öffentlichen Raum vordringen, sieht die psychische Verfassung der Beteiligten recht eindeutig aus. Auch wenn sie nicht bereit sind, es laut zuzugeben."

Das ebenso diskussionsfreudige Publikum der "Business Gazeta" meinte: "Es sieht so aus, als würden wir ins 14. bis 15. Jahrhundert abrutschen, in dem jeder Fürst für sich selbst stritt." Ein weiterer Leser schrieb: "Einige glauben (und ich stimme ihnen im Allgemeinen zu), dass die Unzufriedenheit einiger Figuren auf die Notwendigkeit zurückzuführen ist, dass intelligente Spezialeinheiten an der Front durch den Fleischwolf gedreht werden, was sie aus offensichtlichen Gründen nicht mit sich machen lassen möchten."

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