Der Duma-Abgeordnete am Rednerpult
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Konstantin Satulin

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Russischer Politiker: "Welches Ziel haben wir erreicht? Keines"

Das Aufsehen ist groß: Mit seltener Offenheit räumte der einflussreiche Abgeordnete des russischen Parlaments Konstantin Satulin ein, dass Putins Krieg gescheitert ist. Propagandisten fürchten jetzt einen Aufstand und warnen vor einem Regimewechsel.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

"Wir haben nicht genügend Gründe, selbstgefällig zu sein und alles als erledigt zu betrachten; Naja, zum Beispiel davon auszugehen, dass wir auf jeden Fall gewinnen werden", sagte Konstantin Satulin (64) mit bemerkenswerter Deutlichkeit. Er soll sich im russischen Parlament eigentlich um die Angelegenheiten der Staaten der früheren Sowjetunion kümmern, also vor allem um Zentralasien.

Jetzt äußerte er sich bei einem Diskussionsforum über die Zukunft der Ukraine ungewöhnlich deutlich zur militärischen Lage: "Welche Ziele haben wir zu Beginn der Militäroperation offiziell ausgerufen? Sie alle erinnern sich an die Entnazifizierung, die Entmilitarisierung, die Neutralität der Ukraine und den Schutz der Bewohner der Volksrepubliken Donezk und Luhansk, die die ganze Zeit gelitten haben", so der Politiker laut Mitschrift der Debatte. Und weiter: "Bei welchen dieser Punkte haben wir bisher Ergebnisse erzielt? Bei keinem. Darüber hinaus haben einige von ihnen keine Bedeutung mehr. Zum Beispiel die 'Neutralität der Ukraine'. Was bedeutet diese Forderung? Im Moment nichts. Sie wird nicht mehr neutral sein, wenn sie weiterbesteht."

"Niederlage wäre offensichtlich"

Satulin stellte sich selbst die Frage, ob die Ukraine als Staat ausgelöscht werden könne: "Sie wird fortbestehen, das kann ich Ihnen sagen. Sie wird bleiben. Weil wir nicht genug Kraft haben, das angesichts der Unterstützung, die sie [aus dem Westen] erhält, zu ändern. Sie wird fortbestehen." Der Kreml sei sich darüber auch völlig im Klaren, behauptete der Abgeordnete. Einen Waffenstillstand könne sich Russland ungeachtet dessen allerdings nicht leisten: "Wenn wir jetzt das Feuer einstellen, wäre dies die Niederlage dieses Unterfangens, dieses Plans, der ganz am Anfang stand. Das ist offensichtlich."

Satulin forderte als Mindestziel, die Ukraine vom Schwarzen Meer "abzuschneiden", damit sie keine Bedrohung mehr für die russisch besetzte Krim sei. Harsch kritisierte der Politiker das russische Verteidigungsministerium: Er sei kein "Fan" der offiziellen Propagandaberichte, wo immer wieder von den ukrainischen Gefallenen die Rede sei. Wenn Russland gewinnen wolle, müsse es vielmehr versuchen, die Ukrainer auf seine Seite zu ziehen, wie einst der französische König Heinrich IV., der den belagerten Parisern Brot geliefert habe, weil er in die widerspenstige Stadt einziehen wollte.

"Ist es jetzt so? Nein, es ist nicht so"

"Die hohe Motivation der ukrainischen Armee kommt nicht von ungefähr", erläuterte Satulin: "Sie entsteht aus der Überzeugung, dass wir der Angreifer sind, dass wir angefangen haben. Dass wir zu ihren Häusern kamen und sie zerstörten." Satulin verlangte, Russland müsse aus der Pattsituation "herauskommen", vor allem durch "kluge Propaganda" und die bessere Behandlung von Flüchtlingen aus dem Kriegsgebiet: "Das bedeutet, dass wir ihre Aufnahme, ihre Unterbringung, ihre Sozialleistungen und alles andere verzehnfachen müssen. Daran müssen wir arbeiten, damit sie sich wie im Schoße Christi fühlen. Ist es jetzt so? Nein es ist nicht so." Das klingt ganz so, als ob Satulin auf "weiche" statt "harte" Einflussmöglichkeiten setzt - angesichts des von ihm behaupteten völligen Versagens der russischen Armee.

Ganz nebenbei kritisierte Satulin den Kreml, der bis heute von einer "Spezialoperation" spricht und jeden bestrafte, der den Begriff "Krieg" verwendete: "Es wäre richtig gewesen, von Anfang an von einem Krieg zu sprechen, denn es ist ein Krieg. Meiner Meinung nach ist das heute für jeden offensichtlich."

"Parteien und Regierungen kommen und gehen"

Satulins Äußerungen vom 1. Juni sorgten etwas verzögert für großes Aufsehen. Gleichzeitig machte einmal mehr der russische Ex-Präsident Dmitri Medwedew Schlagzeilen, weil er alle Dissidenten davor warnte, von einem Regimewechsel in Moskau zu träumen.

"Eines kann ich mit Sicherheit sagen", so Medwedew, der stellvertretender Vorsitzender des russischen Sicherheitsrats ist: "Eine Rückkehr in die 'leuchtende' europäische Vergangenheit wird es nicht geben. Und das nicht nur, weil wir dort nicht geliebt und nicht mehr zurückerwartet werden. Russland ist heute ein völlig anderes Land als in der Vorkriegszeit. Führer, Parteien und Regierungen kommen und gehen. Aber die mit Blut verbundenen Erinnerungen und Werte bleiben sehr lange erhalten. Für Jahrzehnte."

Medwedew machte das Gedankenexperiment, was gewesen wäre, wenn Stalin unmittelbar nach dem Sieg über Nazi-Deutschland gestürzt worden wäre. Dann hätte ein neues Regime garantiert auch nicht den Zweiten Weltkrieg als Unrecht bezeichnet: "Und jetzt ist die Situation trotz des unterschiedlichen Ausmaßes der Beteiligung der Bevölkerung am Krieg sehr ähnlich", so der Politiker.

"Schicksal Russlands steht auf dem Spiel"

Der russische Blogger Kirill Kachur will derweil erfahren haben, dass der Kreml einen "Plan" vorbereite, falls sich die Lage an der Front "ungünstig" entwickle und die "Proteststimmung" in Russland anwachse, ähnlich wie in den Jahren 2011 bis 2013. Tatsächlich hatte Putin bei der jüngsten Tagung des Sicherheitsrats vor der Destabilisierung des Landes durch "Aufrührer" gewarnt und die Geheimdienste aufgefordert, Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Fachleute des Kremls seien sich darüber im Klaren, so Blogger Kachur, dass Proteste aus den Reihen der "Patrioten" für die Führung des Landes "sehr traurig enden" könnten, "da die Mehrheit derjenigen, die diese Kundgebungen auflösen müssten, die Demonstranten mental unterstützen".

Mit anderen Worten: Kommt es zu Umsturzversuchen von rechts, sind die Sicherheitskräfte nach Meinung von Kachur vermutlich nicht mehr loyal. "Das Schicksal Russlands steht auf dem Spiel. Die einzige Möglichkeit, einen Aufstand und einen Staatsstreich zu verhindern, besteht darin, sich mit den inneren Feinden auseinanderzusetzen, die ihn vorbereiten, und damit aufzuhören, ständig die 'roten Linien' zu verschieben und jedes Mal öffentlich zu sagen, dass wir uns das Recht auf Vergeltungsmaßnahmen vorbehalten", schreibt der Blogger: "Wenn Sie das, was heute passiert, nicht als Krieg betrachten, sondern in einer Welt der Illusionen leben, wird Russland verlieren und das wütende Volk wird mit bestimmten politischen Techniken das derzeitige politische Regime zur Freude der uns gegenüberstehenden Welt zerstören."

"Russland wird keine Chance haben"

Wie ungezügelt die Debatte inzwischen läuft, wurde deutlich, als Söldnerführer Prigoschin kürzlich behauptete, Putins Verteidigungsministerium habe versucht, seine Leute auf dem Rückzug von der Front mit Minen und Sprengfallen zu erledigen: "Auf die Frage, warum Sie das getan haben, zeigen sie mit dem Finger nach oben. Diese Fragen sind noch nicht beantwortet." Prigoschin argwöhnte, die russische Armee habe seine Truppe vermutlich "öffentlich auspeitschen" wollen. Diese harschen Attacken auf die eigenen Reihen sind umso befremdlicher, als der Privatarmee-Betreiber den Ukrainern akkurates Verhalten bescheinigte.

Der prominente Blogger Alexander Chodakowski mit 600.000 Abonnenten schrieb: "Überraschend ist die Naivität derjenigen, die denken, dass es jetzt möglich sei, unsere Situation durch einige Verwaltungsentscheidungen drastisch zu verbessern." Er verlangte eine grundsätzliche Neuorientierung, weg vom Kapitalismus der neunziger Jahre, hin zu deutlich mehr Opferbereitschaft der Bevölkerung. Allerdings bezweifelte Chodakowski, dass das kurzfristig zu bewerkstelligen ist: "Solange sich die semantischen Grundlagen unserer Existenz nicht ändern, wird Russland keine Chance haben. Alle oberflächlichen Maßnahmen sind nur Spielereien. Jetzt müssen wir Zeit gewinnen, um nicht nur neu zu starten, sondern um uns 'umzuprogrammieren'. Das werden wir aber nicht tun – wir werden das Ergebnis nur verzögern." Gott benötige Russland offenbar "nicht so, wie es derzeit sei".

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