Wladimir Putin steht im Ruf, kein Frühaufsteher zu sein, doch am 30. Mai wurde er nach Informationen der "Moscow Times" in seiner Residenz Nowo-Ogarjowo gegen sechs Uhr früh von seinen Sicherheitsleuten unsanft aus dem Schlaf gerissen: Ukrainische Drohnen waren im Anflug und sollen nur etwa zehn Kilometer von der repräsentativen Präsidenten-Herberge entfernt "neutralisiert" worden sein. "Der Arbeitstag des Präsidenten begann sehr früh", bestätigte Sprecher Dmitri Peskow. Eine ungenannte Quelle aus dem Kreml wird mit dem Satz zitiert, es habe durch die Luftlage eine "direkte Bedrohung" Putins gegeben. Kürzlich war eine Drohne sogar direkt über den Kremltürmen abgeschossen worden, wobei unklar blieb, wer sie auf den Weg geschickt hatte.
"Luftabwehr ordnungsgemäß und zufriedenstellend"
Bereits im vergangenen Winter waren in der Nähe der beiden Hauptarbeitsplätze von Putin Flugabwehrbatterien installiert worden, was damals so viel Aufsehen erregte, dass es offiziell hieß, es bestehe kein Grund zur "Panik". Nach der jüngsten Drohnen-Attacke hatte Putin die Arbeit des Moskauer Luftverteidigungssystems als "ordnungsgemäß und zufriedenstellend" bezeichnet, allerdings angefügt, es bleibe "noch viel zu tun". Er verglich die Gefahr mit den Angriffen auf den russischen Luftwaffenstützpunkt in Syrien, wobei die "europäische Metropole Moskau" natürlich ungleich schwerer zu verteidigen sei: "Im Großen und Ganzen ist klar, was getan werden muss, um die Luftverteidigung der Hauptstadt dicht zu bekommen, und wir werden es tun."
Duma-Abgeordnete hatten allerdings klargestellt, dass es "immer ein Schlupfloch" für Drohnen geben werde, angesichts des riesigen Landes und der großen Hauptstadt. Ob Putin seit den Vorfällen "müde und unsicher" wirkt, wie die "Moscow Times" und andere russische Medien beobachtet haben wollen, ist Ansichtssache. Fest steht: Es wird angeregt über Putins mögliche Ängste diskutiert, zumal er eigentlich anstehende Reisen in die Türkei, nach Indien und Südafrika absagte.
"Offenbar lässt sich nichts dagegen tun"
"Bei größeren Veranstaltungen gibt es keine Möglichkeit, die Sicherheit des Präsidenten Russlands vollständig zu gewährleisten", schreibt der kremlnahe Politologe Sergej Markow in seinem Blog: "Jetzt bereiten die Geheimdienste der USA und Großbritanniens unter Beteiligung anderer NATO-Staaten fast schon offen ein Attentat auf Putin vor. Dann wird man, wie bei Nord Stream und dem Überfall auf [die russische Grenzregion] Belgorod, sagen, dass es sich angeblich um ukrainische Saboteure oder russische Partisanen handelt. Und offenbar lässt sich nichts dagegen tun." Markow hatte auch öffentlich darauf hingewiesen, dass sich Putin äußerstenfalls nach China absetzen könnte, wenn Gefahr für Leib und Leben bestünde.
Die Drohnen und ihre Trümmer gingen vor allem über Moskaus Prominenten-Vorort Rubljowka nieder, was einige Medien zum Anlass nahmen, Karten mit den genauen Adressen von Politikern und Oligarchen zu veröffentlichen. Putins Landsitz Nowo-Ogarjowo liegt ebenfalls in der Gegend westlich von Moskau. Politiker forderten, das GPS-Ortungssystem über der Hauptstadt abzuschalten, Polizisten laufen neuerdings mit Drohnen-Abwehrwaffen Streife. In der Moskauer Klinik, in der die Kreml-Elite üblicherweise behandelt wird, soll bis Ende des Jahres ein abhörsicherer Bunker mit Operationssälen gebaut werden, wie einer Ausschreibung zu entnehmen war.
"Putin will Risiko minimieren"
Einer der bekanntesten TV-Propagandisten Russlands, Wladimir Solowjow, ereiferte sich in seiner Sendung über die vielfach geäußerte Schadenfreude russischer Blogger, die den Angriff auf die "Elite" förmlich feierten: "Leute, warum schreibt ihr diesen Mist? Gefällt es euch, dass die Attacken nach Moskau kommen? Warum seid ihr so glücklich über 'Toll, Rubljowka'? Leben dort keine Russen? Sind das nicht unsere Landsleute? Sind wir nicht mehr ein einziges Land, kein einiges Volk?" Die Blogger sollten "zur Besinnung kommen".
Das alles dürfte Putins Selbstbewusstsein nicht gerade gestärkt haben. Er habe derzeit nicht mehr das "Gefühl, sicher zu sein", heißt es von einem hochrangigen Parlamentsabgeordneten. Entsprechend versuche Putin sein "Risiko zu minimieren". Das gelte nicht nur mit Blick auf mögliche Attentate und Drohnenangriffe, sondern auch auf den Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag. Aus Angst, eine Festnahme oder diplomatische Verwicklungen zu provozieren, werde Putin weder im Juli nach Indien zum Gipfeltreffen der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit fliegen, noch im August nach Südafrika zum BRICS-Gipfel. Putin war trotz Einladung auch nicht zur Einweihung eines türkischen Kernkraftwerks geflogen und wird nicht bei der Amtseinführung von Erdogan am 3. Juni erwartet.
Von Afrika erwartet Russland "Immunität"
Russland erwarte von Afrika "Verständnis und Immunität", heißt es in einem Kommentar der "Nesawissimaja Gazeta" zum Haftbefehl gegen Putin. Südafrika habe bisher "nicht ganz klare Botschaften" gesendet, ob Putin bei einem etwaigen Besuch im August eine Festnahme fürchten müsse. Einstweilen jettet Außenminister Lawrow von einer afrikanischen Hauptstadt zur nächsten, um deutlich zu machen, "warum der Westen im aktuellen Konflikt falsch liegt und warum die Unterstützung Russlands allemal gerechter zu sein scheint". Tatsächlich dürfte Lawrow auch vorfühlen, wie die Einstellung der Länder zu einer Verhaftung Putins wäre. Es gebe "verschiedene Optionen", Russland bei internationalen Begegnungen zu vertreten, beteuerte Kremlsprecher Peskow: "Russland wird auf jeden Fall auf der richtigen Ebene vertreten sein."
"Alle zittern vor Haftbefehl"
"Der Haftbefehl gegen Putin ist nach wie vor das größte Ärgernis für die russische Führung. 'Alle zittern – keiner hat sich daran gewöhnt'", ist in einem der populären Blogs zu lesen. Wie angespannt die Nerven sind, zeigt die Tatsache, dass die russische Justiz im Gegenzug einen Fahndungsaufruf nach den Richtern in Den Haag wegen der "Verfolgung einer unschuldigen Person" herausgegeben hat. Die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, verwies darauf, dass der Internationale Strafgerichtshof weniger als die Hälfte der Weltbevölkerung vertrete, was wohl seine Legitimität in Frage stellen sollte.
In russischen Netzforen wird bei Putin eine Wesensveränderung wahrgenommen: Er habe seine "Militanz verloren" und benehme sich eher wie ein "verunsicherter Opa", ist da zu lesen. Andere verwiesen auf Putins sarkastische Ansage am Beginn des Krieges, wonach "Russen in den Himmel kommen, während alle anderen nur krepieren". Jetzt habe sich die Tonlage doch sehr geändert. Putin habe eigentlich vor allem und jedem Angst, meint einer der Kommentatoren, auch vor seinen Wählern und Covid. Und natürlich ist, befeuert von Bots, weiterhin die Mär in Umlauf, Putin schütze sich mit Hilfe eines "Doppelgängers" vor gefährlichen Auftritten.
Angst vor Kontrolle der Flugbewegungen
Im vergangenen Februar hatten Meldungen für Aufsehen gesorgt, wonach Putin bei seinen innerrussischen Reisen vorzugsweise auf einen "Panzerzug" umgestiegen ist, weil der "spontan und unangekündigt" eingesetzt werden könne. Der Präsident habe Angst, dass Flugbewegungen von ausländischen Diensten jederzeit kontrolliert werden könnten. Der Zug dagegen sei äußerlich unauffällig, habe absoluten Vorrang und könne daher mit "maximaler Geschwindigkeit und ohne Zwischenhalt" fahren, etwa zu Putins opulenter Residenz in Waldai auf halbem Wege zwischen Moskau und St. Petersburg.
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