Bachmut, 03.05.2023: Ukrainische Soldaten feuern eine Kanone auf russische Stellungen in der Nähe von Bachmut.
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03.05.2023, Ukraine, Bachmut: Ukrainische Soldaten feuern eine Kanone auf russische Stellungen an der Frontlinie in der Nähe von Bachmut

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Kiews Gegenoffensive: Vor welchen Optionen steht die Ukraine?

Nach Wochen und Monaten der Vorbereitungen rückt die angekündigte Gegenoffensive der Ukraine immer näher. Ihr Ziel: Die russischen Besatzungstruppen aus möglichst weiten Teilen der besetzten Gebiete zu verdrängen. Welche Optionen sind dabei denkbar?

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Zu Übertreibungen neigt Amerikas einflussreichste Zeitung nicht: Nüchtern und zutreffend bringt die "New York Times" die weitreichenden Konsequenzen der bevorstehenden ukrainischen Gegenoffensive auf den Punkt. Unter Berufung auf amerikanische und ukrainische Regierungskreise wird diese Befürchtung geäußert: Von dem Ergebnis der Gegenoffensive werde es abhängen, wie über den Fortgang des Kriegs international debattiert wird.

Rasch könnten neue Vorschläge über einen Waffenstillstand oder über mögliche Friedensverhandlungen auf den Tisch kommen. Sollte die Ukraine keine "überraschenden, entscheidenden Geländegewinne" erzielen können, würde dies Moskau in die Karten spielen. Denn der Aggressor würde im Falle eines Waffenstillstands vermutlich weiterhin große Landstriche des ukrainischen Staatsgebiets besetzt halten. Die Ukraine steht vor schwerwiegenden Entscheidungen.

Welche Optionen für die ukrainische Gegenoffensive gibt es?

Im Wesentlichen teilen Militärexperten den rund 1.000 Kilometer langen Frontverlauf in drei Abschnitte auf: In den Nordabschnitt entlang des Lugansk-Oblast, in den Donbas und in den Südabschnitt von Dnjepr-Mündung bis Wuhledar. Das russische Exil-Onlineportal "Meduza", das in Lettlands Hauptstadt Riga beheimatet ist, hat vier mögliche Optionen und Stoßrichtungen der ukrainischen Gegenoffensive analysiert – fast alle richten sich auf den Südabschnitt.

Szenario 1: Vorstoß Richtung Krim

Das erste Szenario spielt die Chancen und Risiken eines Vorstoßes der ukrainischen Streitkräfte Richtung der Krim durch. Dabei würden die ukrainischen Streitkräfte zeitgleich in zwei Stoßrichtungen vorrücken: Aus Westen von Saporischschja durch die dreifach gesicherten Abwehrstellungen der russischen Streitkräfte Richtung Melitopol sowie vom Osten aus der Region Cherson über den Dnjepr. Damit könnte die Ukraine die russischen Versorgungslinien zur Krim abschneiden, die Großstadt Melitopol sowie das Kernkraftwerk Saporischschja befreien und schließlich die russische Luftwaffe auf der Krim bedrohen.

Gegen diese erste Option spräche allerdings, dass die russischen Streitkräfte mit genau dieser Stoßrichtung der ukrainischen Gegenoffensive rechneten. Zudem sei die Überquerung des bis zu einem Kilometer breiten Dnjepr für die ukrainischen Streitkräfte sehr risikoreich. Die Brücken über den Strom wurden allesamt im vergangenen Herbst beim erzwungenen Rückzug der Russen aus Cherson gesprengt.

Szenario 2: Stoßrichtung Mariupol und Asowsches Meer

Das zweite Szenario geht von der wesentlichen Stoßrichtung der Gegenoffensive nach Mariupol und bis zum Asowschen Meer aus. Erneut müssten die ukrainischen Streitkräfte die stark befestigten russischen Abwehrstellungen überwinden. Zudem könnte Moskau sehr rasch zusätzliche Verbände aus dem Donbas verlegen. Als Vorteil wird neben der Befreiung Mariupols, das von Russland 2022 nach drei Monaten heftigster Gegenwehr der zum Schluss eingekesselten ukrainischen Einheiten im Asov-Stahlwerk besetzt worden ist, ein strategischer Vorteil angeführt: Die Ukraine könnte den russischen Schiffsverkehr im Asowschen Meer unterbrechen und von ihren neuen Stellungen aus mit weitreichender Artillerie russische Einheiten auf der Krim bekämpfen.

Szenario 3: Entlang des gesamtem Frontverlaufs

Die dritte Option lautet: Kleinere Gegenoffensiven entlang des gesamten Frontverlaufs – eine Methode, die die russischen Streitkräfte im letzten Winter angewandt haben und die nicht erfolgreich war. Dies verringert zwar das Risiko, mit der seit langem angekündigten Gegenoffensive kolossal zu scheitern. Aber angesichts der zahlenmäßigen Überlegenheit der russischen Angreifer verfügt die Ukraine nicht über die entsprechenden personellen Kapazitäten für eine derartige Option. Zudem hätten die neu aufgestellten 40 ukrainischen Brigaden, die mit und an westlichen Waffen und Gerät ausgerüstet und ausgebildet worden sind, rasche, zügige Vorstöße trainiert und nicht zähe Attacken in kleineren Formationen.

Szenario 4: Gegenoffensive in zwei Zügen

Die vierte und letzte Option: In zwei Phasen könnte die Ukraine ihre Gegenoffensive durchführen. Zunächst würde sich die Stoßrichtung gegen die russischen Einheiten im Norden richten, entlang der Regionen Lugansk und Donezk. In einer zweiten Phase könnten die ukrainischen Verbände von Saporischschja nach Süden vorrücken, in Richtung Melitopol. "Diese Strategie produzierte im letzten Herbst sehr gute Resultate für die Ukraine", analysiert das russische Exil-Onlineportal "Meduza". Sie würde es zudem den ukrainischen Streitkräften erlauben, die erfahrenen, kampferprobten Verbände, die in Bachmut gekämpft haben, zusammen mit den neu aufgestellten Brigaden einzusetzen. Bislang hätten die russischen Streitkräfte in den Gebieten hinter Bachmut, Soledar und Kreminna noch unzureichend Abwehrstellungen errichten können.

Es ist allerdings fraglich, ob die russische Militärführung die gleichen Fehler machen wird, wie im Spätsommer und Herbst letzten Jahres. Damals gelang es der Ukraine, durch eine taktische Finte die Angreifer glauben zu machen, dass der Hauptangriff im Süden stattfinden würde, um stattdessen in hohem Tempo im Norden von Cherson Dutzende Kilometer nach Osten durchzustoßen.

Doch ob sich dies jetzt umgekehrt wiederholen lässt? Kein Zweifel: Die ukrainische Führung steht vor folgenschweren Entscheidungen, die den Fortgang des Kriegs nachhaltig bestimmen werden.

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Zerstörte Häuser in Kiew
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