Wissenschaftler beobachten den Satelliten beim Absenken in einen Transportcontainer
Bildrechte: Roscosmos/Picture Alliance

Mondlandefähre Luna-25 vor dem Start

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"Sind wir noch Großmacht?": Russlands Frust mit Mondmission

Die russische Weltraumbehörde soll vom Kreml verlangt haben, jegliche Medienkritik an der gescheiterten Mondmission zu unterdrücken. Das sorgt für Wut und Frust: "Werden Fehler nicht korrigiert, wird Russland mit neuen Aufständen konfrontiert sein."

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

"Dazu führen dreißig Jahre Korruption und Ausplünderung des Landes", schimpfte ein Leser der russischen Zeitung "Fontanka" über die abgestürzte Mondsonde Luna-25. Sie war wohl auf eine "falsche" Umlaufbahn geraten, wie die Weltraumbehörde Roscosmos verbreitete. "Es ist leider so, dass Roskosmos nicht daran gedacht hat, bei den Chinesen einen Satelliten über Aliexpress zu bestellen", spottete ein weiterer Diskutant. Und ein ernsthafterer Leser empfahl, "zuerst die russische Industrie wiederherzustellen und danach zum Mond aufzubrechen".

Russland habe nicht nur die "zweitbeste Armee der Welt", sondern nach den USA offenbar auch nur die "zweitbesten Wissenschaftler", hieß es. Dass die gescheiterte Weltraummission so unglaublich viele Kommentare provozierte, wunderte manche, die der Meinung waren, die russischen Ambitionen im All seien doch schon lange passé, nicht erst seit kurzem. Im Übrigen sei keine "Selbstgeißelung" angebracht, sondern "professionelle Analysen". Das Staatsfernsehen war so "bedient", dass der Fehlschlag im All in den Mittagsnachrichten erst an achter Stelle erwähnt wurde - für 26 Sekunden.

"Süßkram und Drogen" von Propaganda

"Als ehemaliger Ingenieur habe ich aufrichtiges Mitgefühl mit den Menschen, deren extrem teure Schöpfung, Luna-25, letzte Nacht auf die Mondoberfläche stürzte", so der russische Blogger Arkadi Dubnow über den Absturz: "Ja, es kommt vor, dass die Technik versagt und sogar anspruchsvolle Vorhaben unterminiert. Aber diese Katastrophe ist ein weiterer Beweis für die ungeheure Disharmonie, in der Russland derzeit lebt. Denn ganz gleich, wie sehr sich die Propaganda auch bemüht und wie willig sie auch ist, den Menschen Süßkram und Drogen zu verabreichen, das Gefühl des einst normalen Lebens und seine Sinnhaftigkeit für kommende Generationen gingen für immer verloren."

"Weg zur weiteren Katastrophen"

Damit fasste Dubnow eine im russischsprachigen Netz sehr verbreitete Stimmungslage zusammen. Es dominieren Frust, Wut und Spott über die hochtrabenden Pläne des Kremls im Weltraum, die mit der gescheiterten Mondmission einen unerwarteten Dämpfer erlitten haben. Dabei handelte sich die zuständige Weltraumbehörde Roscosmos gar nicht mal mit dem Absturz als solchem die meiste Kritik ein, sondern mit ihrem angeblichen Vorstoß bei Putin, der möge negative Kommentare in den russischen Medien behördlich verbieten lassen. So jedenfalls war es in einem gewöhnlich gut unterrichteten Telegram-Blog zu lesen. Mehrere Quellen hätten demnach bestätigt, dass Roscosmos-Chef Juri Borissow zurücktreten wolle.

Andererseits hatten Blogger auch schon dessen mutmaßliche Ausreden parat: Russland lebe nun mal einzig und allein von amerikanischen, japanischen und koreanischen Elektronikelementen, und die seien derzeit wegen der Sanktionen für den nicht militärischen Bereich schwer zu bekommen: "Luna-25 stürzte unter anderem aufgrund des Dominoeffekts ab: der schwachen Verfassung der Raketen- und Raumfahrtindustrie, gepaart mit dem demonstrativ vorgeführten Ersatz von bisher importierten Komponenten, mit extrem schnellen Ausfallzeiten und hoher Fehleranfälligkeit."

"Sporadische Erfolge eher Zufall"

Blogger Jegor Prochortschuk schloss sich dieser Sichtweise weitgehend an: "Es ist unmöglich, vierzig Jahre lang nur zu konsumieren, die Industrieproduktion zu missachten und dann plötzlich erfolgreich auf dem Mond zu landen. In einem Land, dessen Hauptaufgabe der Zusammenbau ausländischer Komponenten in Sonderwirtschaftszonen ist, ist es unmöglich, die komplexesten technologischen und wissenschaftlichen Probleme sofort erfolgreich zu lösen. Sporadische Erfolge sind eher Zufall, beruhend auf kreativen Enthusiasten, und können der großen Sache sogar schaden, weil sie beim Durchschnittsverbraucher unangemessenen Optimismus hervorrufen."

Der viel zitierte kremlfreundliche Blogger Sergej Udalzow schrieb über die PR-Strategie von Roscosmos empört: "Die Unterdrückung von Kritik und die Ausschaltung der politischen Konkurrenz ist ein direkter Weg zu weiteren Katastrophen und der Verschlechterung der Lage des Landes. Wenn die Fehler der Behörden nicht mit Hilfe von Wahlen korrigiert werden können und die Bürger Gefahr laufen, für eine ehrliche Diskussion über bestehende Probleme strafrechtlich verfolgt zu werden, wird Russland in absehbarer Zeit unweigerlich mit neuen Verschwörungen, Aufständen und revolutionären Ereignissen konfrontiert sein."

"Vor Kritik haben sie Angst"

Außerdem sei die gescheiterte Mondmission ein "Urteil über die Einführung des Kapitalismus" in Russland, denn der Sowjetunion seien "unter der roten Flagge des Sieges" deutlich mehr Weltraum-Erfolge gelungen: "[Die abgestürzte] Luna-25 ist das Produkt eines zerstörten Bildungssystems, eines zerstörten Vertrauens in die Zukunft und eines korrupten russischen Wirtschaftssystems. Der Markt hat entschieden und wir müssen uns dessen bewusst sein."

Die Furcht vor jedweder Kritik sei der "Hauptgrund" für die Misere, argumentiert "Russland kurzgefasst" mit seinen 400.000 Abonnenten. So wie Roscosmos hielten es ja alle russischen Staatsunternehmen. Rostec stelle nicht die eigenen, viel zu schweren Flugzeuge in Frage, russische Autohersteller nicht ihre "chinesischen Modelle", die Werften nicht ihre mangelhaften Produktionsabläufe und die Ölproduzenten bäten darum, die stark gestiegenen Benzinpreise nicht zu bemängeln: "Vor Kritik haben sie Angst, also geben sie zig Milliarden [Rubel] für positive TV-Storys aus."

"Alles außer Erfolgsmeldungen verbieten"

In den kommenden zehn bis fünfzehn Jahren werde Russland im Weltraum "ein Außenseiter" sein, meinte Blogger Georgi Bovt, und könne sich nicht leisten, aus der Internationalen Raumstation ISS auszusteigen. Es gebe bei Roscosmos offenbar "schwerwiegende Systemprobleme". Spöttisch merkte er an: "Es ist an der Zeit, ein separates Gesetz zur Diskreditierung des Weltraumprogramms der Russischen Föderation sowie zu Fälschungen über Roscosmos zu verabschieden. Gleichzeitig gilt es, alles zu klassifizieren und die Veröffentlichung jeglicher Informationen außer Erfolgsmeldungen zu verbieten. Und die Dinge werden laufen."

"Ist Russland noch eine Großmacht?"

Der kremlnahe Propagandist Sergej Markow gibt sich ungewohnt zerknirscht: Die Folgen der Luna-25-Katastrophe seien "enorm": "In den Augen der Weltgemeinschaft hat Russland seinen Anspruch in Frage gestellt, eine Großmacht zu sein. Dass Russland in der Vergangenheit eine Großmacht war – das bestreitet niemand. Aber ist Russland jetzt noch eine Großmacht? Russland behauptet ja. Und schickt Truppen in die Ukraine und startet die Luna-25. Und die USA und die EU sagen Nein. Wer hat Recht? In der Ukraine gibt es noch keinen Sieg. Und Luna-25 stürzt ab."

Im Ausland würden jetzt wohl viele darauf verweisen, dass Russland in einem Fantasiereich seiner vermeintlich großen Vergangenheit lebe: "Alle Länder und Menschen wollen mit den Starken befreundet sein, die gewinnen, und nicht mit den Schwachen, die sich immerzu für ihre Niederlagen entschuldigen. In dieser harten Sicht auf die Weltgemeinschaft liegt die wahre russische Tragödie von Luna 25."

"Fantasy statt Science-Fiction"

Blogger Michail Winogradow verwies darauf, dass die Begeisterung für die Weltraumforschung in den letzten fünfzig Jahren stark nachgelassen habe. Das sei nicht nur ein russischer, sondern ein weltweiter Trend: "Die Popularität der Science-Fiction wird durch Fantasy und andere Stoffe wie die Harry-Potter-Romane ersetzt." Die Romantik sei aus der Mode gekommen, und der Satz 'Immerhin fliegen wir zum Mond' sei schon lange kein Ausdruck mehr für Utopien, sondern für "Hoffnungslosigkeit".

Unter Anspielung auf die russische Geschichte, in der es zwischen 1991 und 2001 jeweils im August mehrere politische, finanzielle und technische Katastrophen gab, meinte ein Leser: "Im August hat Russland halt oft Pech, das müssen wir berücksichtigen."

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