Der russische Präsident an einem Tisch mit einem Bildschirm, auf dem Gesprächsteilnehmer zu sehen sind
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Krisensitzung: Putin am 16. August 2023 im Kreml

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"Für Sorgen ist es zu spät": Kann Putin seinen Krieg bezahlen?

Seit Tagen wird über Russlands Wirtschaft debattiert: Experten sind sich einig, dass das Land eine Inflationsspirale nicht mehr vermeiden kann. Es gebe zu viel Geld und zu wenig Waren. Das sei eine "Zeitbombe" - und Putin stecke in einem "Dilemma".

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Die "dunkle Seite des Rubels" beschere den Russen einen "anhaltenden Albtraum", raunt Wirtschaftsjournalist Juri Barsukow im gemäßigt kremlkritischen Fachblatt "Kommersant" und verweist darauf, dass ausgerechnet die Benzinpreise im ölreichen Russland immer neue Höchststände erreichen, obwohl die zuständigen Behörden sich anstrengen, die Preisdynamik zu bremsen. Doch die einheimischen Ölkonzerne zeigten sich trotz der klaren Aufforderung, mehr Benzin im Inland in Verkehr zu bringen und weniger zu exportieren, nicht gerade kooperativ: Ihnen seien harte Devisen lieber als der "schwächelnde Rubel", so Barsukow.

Neuesten innerrussischen Umfragen zufolge nimmt die Zahl der Optimisten ab, obwohl es immer noch einen weit verbreiteten Nationalstolz gebe, dem "Druck der Sanktionen" standgehalten zu haben: "Das Hauptproblem, das die Gesellschaft derzeit beunruhigt, sind die Inflation und die steigenden Lebensmittelpreise. Die Abschwächung des Rubels hat bereits eine Kette von Preiserhöhungen in Gang gesetzt, und unter diesen Bedingungen gibt es, anders als bei den Ereignissen vom März 2022 [direkt nach Kriegsausbruch], keine Anzeichen dafür, dass die Behörden bereit sind, den Preisanstieg für lebenswichtige Güter ernsthaft zu verhindern." Dabei habe die große Masse der Russen, anders als die Gebildeten in den Großstädten, noch nicht realisiert, dass die Währung ernsthaft in Gefahr sei. Eine noch höhere Inflation werde den "Pessimismus" aber verschärfen.

"Inflation wird 25 Prozent erreichen"

Es sei zu spät, sich Sorgen zu machen, meinte der russische Ex-Wirtschaftspolitiker Waleri Jasew in einem aufsehenerregenden Interview in dem kremlfreundlichen Nachrichtenportal "News": "Es gibt bereits jeder zu, dass die Geldentwertung in unserem Land aufgrund der Abwertung des Rubels gegenüber anderen Währungen insgesamt 25 Prozent erreichen wird." Die Lage sei "nicht einfach", denn es sei eine Sache, den Haushalt mit "billigen Rubeln" optisch einigermaßen im Gleichgewicht zu halten, aber eine ganz andere, mit dem stetig wertloseren Geld Russland am Laufen zu halten, also zum Beispiel in die Infrastruktur zu investieren. Obwohl der Rubel nach einem dramatischen Absturz gegenüber dem Dollar wieder rund fünf Prozent zulegen konnte, sieht Jasew "keine fundamentalen Gründe für eine Stärkung" der russischen Währung in nächster Zeit.

Bloomberg spricht von "Zeitbombe"

Im Gegenteil: "Damit der Rubel zulegt, ist es notwendig, den Zufluss von Fremdwährungen in das Land zu erhöhen. Und wie? Völlig unklar." Einen abermaligen Zahlungsausfall wie 1998, als er noch Parlamentsabgeordneter war, hält der Fachmann zwar aktuell für wenig wahrscheinlich, drängt allerdings darauf, dass Russland weniger Waren aus dem Ausland einführt: "Es ist klar, dass wir nach echten Importersatzlösungen suchen müssen, um alles, was wir brauchen, selbst zu produzieren und nicht, wie es jetzt der Fall ist, im Ausland einzukaufen."

Derweil überbieten sich US-Medien darin, die Lage der russischen Wirtschaft in den düstersten Farben zu malen: Bei "Bloomberg" ist von einer finanziellen "Zeitbombe" unter dem Kreml die Rede. Zwar habe Russland die rund 13.000 vom Westen verhängten Sanktionen einigermaßen glimpflich verkraftet, doch langfristig drohe durch die Kriegskosten Ungemach. Ähnlich sieht es das "Wall Street Journal": Russlands vom Krieg verwüstete Wirtschaft habe ihre "Höchstgeschwindigkeit" erreicht. Eine regelrechte Finanzkrise sei im Zuge der Rubel-Schwankungen zwar noch nicht absehbar, allerdings seien die Turbulenzen ein Symptom für die "verhärteten wirtschaftlichen Aussichten". Putin stecke in einem Dilemma: Er müsse vor den nächsten Präsidentenwahlen im März gleichzeitig Wohltaten an die Bürger verteilen und die einheimische Rüstungsproduktion ankurbeln.

"Unwahrscheinlich, dass Unternehmen mehr Steuern zahlen wollen"

Bezeichnend ist, dass sich Wladimir Putin bei einem Krisentreffen mit der Regierung am 16. August zwar zu Engpässen bei der Fisch-Versorgung und zum Klimawandel äußerte, jedoch mit keinem Wort auf die Währungsschwäche einging. Die Anwesenden seien sich einig gewesen, so das russische Wirtschaftsblatt "Wedomosti", dass eine Zwangsbewirtschaftung der Devisen, wie sie kurz nach Kriegsausbruch verfügt wurde, nur als "letzter Ausweg" in Frage komme. Allerdings sei sie "jederzeit" möglich, betonten "hochrangige" Kreml-Quellen in Telegram-Kanälen. Im März 2022 mussten alle russischen Firmen, die Güter ins Ausland lieferten, also vor allem Rohstofflieferanten, bis zu neunzig Prozent ihrer Dollar- und Euro-Einnahmen an den Staat abführen und sich im Gegenzug mit Rubeln begnügen.

Wie Insider russischen Medien mitteilten, wollte Finanzminister Anton Silujanow eine solche Kapitalkontrolle zwar erneut in Kraft setzen, doch die Zentralbankchefin Elvira Nabiullina sei dagegen gewesen. Ihr Argument, das sie öffentlich bereits vor fünf Jahren anbrachte: Wenn der Kreml 'nur einmal' die Devisen kontrolliere, werde der Markt annehmen, dass das in jeder Krise zur Gewohnheit werde. Eine massive Kapitalflucht werde die Folge sein: "Das wird es erschweren, die Rubel-Schwankungen zu bewältigen."

Die Regierung habe sich mit den großen Exporteuren des Landes "informell" geeinigt, dem Staat mehr Devisen zur Verfügung zu stellen. Ob das tatsächlich geschehe, solle "überwacht" werden. Gemeint seien damit weniger die staatlichen Öl- und Gasproduzenten, als vielmehr die Düngemittelhersteller, die wohl besonders zurückhaltend dabei sind, ihre Devisen in Rubel zu tauschen. "Es ist unwahrscheinlich, dass Unternehmen mehr Auslandswährungen verkaufen wollen, um Steuern zu zahlen" wird ein Gesprächspartner aus Regierungskreisen mit einer ironischen Bemerkung zitiert.

Kampf um "harte" Devisen

Kapitalkontrollen würden am Grundproblem ohnedies nichts ändern, hieß es, das sei nämlich die Geldmenge im Land, die im vergangenen Jahr um die oben erwähnten 25 Prozent gestiegen sei und damit die Inflation anheize. Das ist das Problem aller längeren militärischen Auseinandersetzungen, wie Deutschland besonders schmerzlich im und nach dem Ersten Weltkrieg erfahren musste. Auch damals wuchs die Geldmenge, es gab auf der anderen Seite allerdings viel zu wenige zivile Waren, so dass die Inflation bekanntlich mit mehrjähriger Verspätung völlig außer Kontrolle geriet. Nicht wenige reagierten damals mit einer Flucht in Sachwerte, die es derzeit auch in Russland gibt: Immobilienmakler berichten dort von einem florierenden Geschäft ("Rekordniveau"). Dollarbesitzer nutzten den günstigen Wechselkurs für Käufe "aus der Westentasche".

Zentralbankchefin Nabiullina drängt hinter den Kulissen angeblich darauf, Einfuhrzölle zu erhöhen, damit die Russen weniger im Ausland einkaufen. Derweil kann Finanzminister Silujanow angesichts der ausufernden Rüstungsausgaben nicht mehr so genau sagen, wie hoch sein diesjähriges Defizit ausfallen wird: Aktuell steht er nach eigener Aussage mit umgerechnet rund 28 Milliarden Euro in der Kreide. Es zeichnet sich also ein erbitterter Kampf zwischen Staat, Wirtschaft und Bürgern um die knappen "harten" Devisen ab, zumal Putin rüstungsrelevante Waren wie Mikrochips für Raketen im Ausland besorgen und ganz überwiegend mit Euro und Dollar bezahlen muss. Es spricht für sich, dass selbst das russische Verteidigungsministerium trotz offiziellem Verbot weiterhin Apple-Computer benutzt. Mit den angehäuften indischen Rupien, chinesischen Yuan und türkischen Lira könne Moskau derzeit wenig anfangen, wie Experten bemerkten.

"Rubel hat keinen Kurs, sondern eine Richtung"

Finanzexperte Jim O'Neill hielt es in der "Financial Times" unterdessen für eine "lächerliche Idee", dass sich Russlands globale Partner wie China, Indien, Südafrika und Brasilien auf eine gemeinsame Währung einigen könnten. Der Gedanke sei "fast schon peinlich". Für den Westen sei es tatsächlich "eine gute Sache", dass sich Indien und China "nie über irgendetwas" einigen könnten, denn andernfalls sei die Dominanz des Dollars gefährdet.

Wirtschaftsprofessor Igor Lipsitz, der zum 1. September seinen Job an der Moskauer Wirtschaftshochschule verlieren wird, steuerte zum aktuellen Geschehen den Witz bei: "Der Rubel kennt keinen Kurs, nur eine Richtung." Er rechnet fest mit einer galoppierenden Inflation und machte eine einfache Rechnung auf: Wenn vierzig Prozent aller Waren aus dem Ausland importiert würden und der Rubel dort knapp vierzig Prozent an (Außen-)wert verloren habe, mache das in der Summe mindestens 14 Prozentpunkte zusätzliche Inflation aus: "Aber das Schlimmste ist nicht einmal, dass sie so hoch ist, sondern dass sie instabil ist. Das heißt, sie beschleunigt oder verlangsamt sich. Und das zerstört das Geschäft. Denn wenn Ihnen nicht klar ist, wie sich die Preise ändern werden, wenn es keine Vorhersehbarkeit gibt, dann ist es sehr schwierig, Geschäfte zu machen."

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