Durchschlagene Fassadenverkleidung
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Drohenangriff: Schäden an Fassade in Moskau

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"Psychisch unangenehm": Drohnenangriff auf Moskau schockt Russen

Russlands Bürger schwanken zwischen Schadenfreude, Panik und grimmiger Wut: Nachdem mehrere Gebäude in der Hauptstadt durch anfliegende Drohnen beschädigt wurden, sind viele Blogger außer sich. Sie fordern den Rauswurf von "Lügnern" in der Armee.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Gebäude kamen zwar nicht zum Einsturz, aber womöglich das Selbstbewusstsein des Kremls: Moskau wurde vom Angriff zahlreicher Drohnen heimgesucht, einige sollen ihre Ziele erreicht, aber nur geringfügigen äußeren Schaden angerichtet haben. Dafür ist die Aufregung in den Medien und Blogs umso größer: "Es war viel mehr ein psychologischer Angriff", urteilt Blogger Andrej Medwedew, schließlich gehe es um einen "Informationskrieg". Gleichzeitig schimpfte Medwedew auf "Alarmisten" in den eigenen Reihen, die Panik und Hysterie anfachten: "Es ist dumm und sinnlos, den Moskauern Angst zu machen. Unangenehm ist es, ja. Psychisch ist es für viele unangenehm. Aber was soll's, in diesen Zeiten." Medwedew verglich die propagandistische Wirkung der Drohnenattacke mit den "Bomben auf England", die Adolf Hitler einst in der deutschen Bevölkerung Pluspunkte gebracht hätten.

Putin: "Sie provozieren uns"

Michael Rostowski, der Chefkolumnist der auflagenstarken "Moskowski Komsomolez", schrieb, der Kreml habe jetzt die Aufgabe, die "politische Stabilität in Russland aufrechtzuerhalten und die negative Energie der Menschen auf das offizielle Kiew und den dahinter stehenden kollektiven Westen umzulenken". Die Wut der Bürger auf die Regierung sei verständlich, passe aber nicht "zur Realität", wonach es keine hundertprozentige Sicherheit geben könne. Das "Politische und Psychologische" stehe im Vordergrund.

Auch im Kreml soll nach den Recherchen des russischsprachigen Exil-Mediums "Meduza" die Ansicht vorherrschen, dass der Schaden durch die Drohnen "noch nicht so schlimm" sei, sie hätten "eher psychologische" Wirkung entfaltet: "Viel wird von der Reaktion der Führung abhängen." Das alles sei letztlich "vorhersehbar" gewesen. Putin selbst sagte auf einer Veranstaltung: "Zunächst möchte ich sagen, dass das Moskauer Luftverteidigungssystem ordnungsgemäß und zufriedenstellend funktioniert hat, obwohl noch viel zu tun ist. Im Großen und Ganzen ist klar, was getan werden muss, um die Luftverteidigung der Hauptstadt dicht zu machen, und wir werden es tun. Aber das macht mir weniger Sorgen als vielmehr die Versuche, eine Reaktion Russlands hervorzurufen. Offenbar ist das kalkuliert: Sie provozieren uns zum Nachahmen von Handlungen. Mal sehen, was wir damit machen."

"Größerer Realismus" gefordert

So oder so scheint der Anflug ferngesteuerter Waffen auf die russische Hauptstadt die Öffentlichkeit aufgewühlt zu haben. Selbst der kremlnahe Politologe Sergej Markow ereiferte sich über die seltsamen Beruhigungsversuche des russischen Verteidigungsministeriums: "Wenn jemand behauptet, dass alle Drohnen, die Moskau angegriffen haben, abgeschossen wurden, dann diskreditiert das die russische Armee. Weil es nicht wahr ist. Denn die Moskauer Behörden haben bereits ausführliche Angaben zum Einschlag von drei Drohnen in Wohngebäuden in Moskau gemacht. Diejenigen, die die Bevölkerung falsch informieren und den Eindruck erwecken, dass die russischen Behörden lügen, sollten von Posten in der Öffentlichkeitsarbeit entlassen werden. Und die Informationspolitik sollte zugunsten eines größeren Realismus angepasst werden."

Drohnen, die "nicht im Internet" stünden, gäbe es für den Kreml einfach nicht, höhnte ein Blogger: Diesbezüglich funktioniere die Luftverteidigung bei Putin "zu einhundert Prozent". In Blogs wurde die "Schadenfreude einzelner Leser" gegeißelt, ein Hinweis darauf, dass nicht wenige Russen über den Angriff auf Villen- und Regierungsviertel erfreut waren. Tatsächlich überwiegen in den Kommentarspalten hämische Einträge, etwa im St. Petersburger Blatt "Fontanka": "Woher weiß Kremlsprecher Peskow, dass für die Einwohner von Moskau jetzt keine Gefahr mehr besteht?" fragte ein Leser, bezugnehmend auf eine entsprechende Stellungnahme, wonach die Luftabwehr "funktioniert" habe und Putin "umgehend" informiert worden sei.

"Wir sind ein sehr großes Land"

Ein anderer Leser stellte sarkastisch fest: "Für Putin läuft alles nach Plan." Jemand warnte davor, dass demnächst auch wohl Drohnen "aus der Kanalisation" aufsteigen könnten: "Gehen Sie vorsichtig auf die Toilette, die Wassersperre wurde überwunden." Der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im russischen Parlament, Andrej Kartapolew, hatte gesagt, die Ukraine wolle in Russland eine "Welle der Panik" auslösen: "Wir sind ein sehr großes Land und es wird immer ein Schlupfloch geben, durch das eine Drohne fliegen kann, indem sie die Gebiete umgeht, in denen sich Luftverteidigungssysteme befinden."

Dazu meinte ein Leser, er habe den Eindruck, Russland werde "stetig größer", was die Schlupflöcher betreffe. Im Übrigen könnten die Politiker nach dieser Argumentation auch alle maroden Straßen und Schulen mit der "Größe des Landes" rechtfertigen.

Söldnerchef und PR-Genie Jewgeni Prigoschin bekam einen - wohl taktisch motivierten - Tobsuchtsanfall und schmähte die russische Armeeführung wieder mal samt und sonders als "Arschlöcher": "Warum zum Teufel lasst ihr zu, dass Drohnen nach Moskau fliegen? Ist mir scheißegal, dass sie nach [der Prominenten-Siedlung] Rubljowka fliegen. Sollen eure Hütten brennen! Aber was machen die normalen Leute, wenn ihre Fenster von Drohnen durchschlagen werden? Deshalb bin ich als Bürger zutiefst empört." Dafür musste sich Prigoschin als "Handlanger der Ukraine" bezeichnen lassen.

Kein Wunder, dass russische Sozialpsychologen feststellten, "Freundlichkeit und Toleranz" hätten im Land in der Stresssituation des Krieges deutlich abgenommen, es mache sich "innere" Aggression breit. Experte Dmitri Sewrjukow vermutete, dass seine Zunft das derzeit nicht an die große Glocke hänge, "um das Land nicht zusätzlich aufzustacheln". Womöglich seien viele bereit, um des Krieges willen ihren Gürtel enger zu schnallen, behaupten Soziologen, doch die wenigsten seien offen für einen fanatischen Patriotismus: "Der Zustand der öffentlichen Stimmung zeigt, dass die Gesellschaft zu allmählichen Veränderungen bereit ist, sich jedoch einer scharfen Ideologisierung widersetzen und diese wahrscheinlich nicht akzeptieren wird."

"Karthago muss zerstört werden"

Ultra-Patrioten wie Alexander Dugin nannten die Angriffe "psychologisch sehr wichtig". Sie hoffen ungeachtet der soziologischen Bestandsaufnahme inständig, dass die "nächste Stufe" des Krieges beginnt: "Jetzt denke ich, dass sich etwas ändern wird – vor allem im Bewusstsein der Gesellschaft, in ihrer Weltanschauung." Dugin flehte, der Krieg müsse statt "sporadisch" dringend "systematisch" angegangen werden. Russland brauche mehr denn je "Einigkeit", doch genau danach sieht es jedenfalls in den Medien nicht aus.

Dugins rechtsradikaler Gesinnungsfreund Andrej Tkatschew schrieb: "Hannibal, meine Herren, hat bereits erfolgreich die Alpen überquert und sogar Kriegselefanten hergebracht. Der Weg nach Rom (in diesem Fall zum Dritten Rom) scheint keineswegs mehr verschlossen zu sein. Der Kampf um heimische Herde und Altäre erfordert jetzt von jedem Bürger einen kriegerischen Geist. Die Gesellschaft, vom fetten [Villenviertel] Rubljowka bis zu den verschlafenen Vororten, muss verändert werden. Karthago muss zerstört werden."

Der Blogger Alexander Sladkow (1 Million Fans) überraschte mit der originellen These, Kiew wolle mit dem Drohnenangriff auf Moskau Putin unter Handlungsdruck setzen. Leider fehle es derzeit jedoch der russischen wie der ukrainischen Armee an den nötigen Mitteln, um loszuschlagen: "Kiew versucht, uns zu zwingen, sofort vorzurücken. Wir können warten."

"Das Ende ist noch nicht da"

Blogger Golowanow will durchaus "Hysterie" in Moskau wahrnehmen: "Die Einwohner Moskaus und der Region Moskau waren sich sicher, dass sie davon nicht betroffen sein würden. Die Masse der Menschen lebte in einer so ruhigen, glückseligen Welt – dass alles in Ordnung ist, dass es keine Probleme gibt und auch keine geben wird. Das alles sei irgendwo weit weg – sie selbst würden davon nicht berührt." Auch der Nationalist und Duma-Abgeordnete Alexej Khinshtein sprach von einer "neuen Realität" und forderte, die Sicherheitsmaßnahmen "radikal" zu verstärken.

Der russisch-orthodoxe Bischof und Kreml-Propagandist "Savva" Sergej Tutunow aus dem nordöstlich von Moskau gelegenen Selenograd versuchte seine Landsleute, speziell die Moskauer, mit einem Zitat aus dem 13. Kapitel des Markus-Evangeliums zu trösten: "Wenn ihr aber hören werdet von Kriegen und Kriegsgeschrei, so erschreckt nicht: Es muss geschehen. Aber das Ende ist noch nicht da."

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