Porträt des russischen Schriftstellers
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Alexej Iwanow

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Russischer Star-Autor: "Russland ist ein bedauerlicher Anblick"

Alexej Iwanow, einer der bekanntesten russischen Schriftsteller, löste mit einem Interview in seinem Heimatland eine aufgeregte Debatte aus: "Russland lebt schlecht, sehr schlecht. Und vor allem verlor es die Hoffnung auf ein besseres Leben."

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Diese Äußerung passt so gar nicht zu Putins Bemühungen, Russlands Zukunft rosarot erscheinen zu lassen: Der Autor Alexej Iwanow, international bekannt seit seinem Roman "Das Herz von Parma" (2003), gab sich in einem Gespräch mit einem russischen Netzportal denkbar pessimistisch, was die politischen Aussichten seines Heimatlandes betrifft: "Manche Worte sind uns verboten. Ich schweige darüber. Das ist ein Beleg dafür, was ich darüber wirklich denke. Alles mit Gewalt zu lösen ist einfach. Dadurch zerstören wir unser Land, unsere Nation. Aber der eingeschlagene Weg der Vereinfachung und Archaisierung wird fortgesetzt." Iwanow kritisierte das "Verschwörungsdenken" unter Putin, es sei ein Zeichen von "Antihumanismus": "Wir fühlen uns als Opfer."

"Ändern Sie das Regierungssystem"

"Russland lebt schlecht, sehr schlecht", fasste der Schriftsteller die Perspektiven zusammen: "Und vor allem verlor es die Hoffnung auf ein besseres Leben. Insgesamt ist Russland ein bedauerlicher Anblick. Bei uns war sowieso nicht alles sonderlich gut, aber jetzt ist es noch schlimmer." Iwanow gilt als Fachmann für den Ural, eine russische Region, die ohnehin im Verdacht steht, besonders kremlkritisch zu sein und "liberales" Gedankengut zu hegen. Konkret forderte der Autor: "Ändern Sie die Machthaber, ändern Sie das Regierungssystem, ändern Sie die Einstellung zur Kultur."

Der russische Literaturkritiker Sergej Beljakow meinte zu den aufsehenerregenden Bemerkungen seines Kollegen: "Ich hoffe, er hat Unrecht, wenn er sagt: 'Russland hat die Hoffnung auf ein besseres Leben aufgegeben.' Aber es ist durchaus möglich, dass er Russland einfach besser kennt. Er reist mehr durch das Land als ich. Ich bin Optimist, er ist Realist. Ich sehe hier nicht, was empörend oder schlecht daran sein soll. Ich mag das Wort 'Archaisierung' nicht, weil ich nicht an Fortschritt glaube und 'archaisch' schlimmer klingt als modern. Aber im Allgemeinen weiß ich nicht, worüber ich mich empören sollte. Gegen seine Kritik am 'Verschwörungsdenken' ist kaum etwas einzuwenden."

Propagandist: "Ernsthafter Aufschwung"

Vom russischen Parlamentsabgeordneten Jewgeni Fedorow wurde Iwanow dafür gescholten, Teil eines angeblich aus dem Ausland finanzierten "umfassenden Systems der Manipulation und Überwachung" zu sein: "Was unsere Wirtschaft betrifft, erleben wir einen ernsthaften Aufschwung im Bereich der Infrastrukturprojekte."

Parlamentspräsident und Propagandist Wjatscheslaw Wolodin behauptete: "Es ist angebracht, sich daran zu erinnern, wie Russland war, bevor Putin Staatsoberhaupt wurde. Verwüstung, wirtschaftlicher Niedergang, Menschen wurden im Stich gelassen, soziale Verpflichtungen gegenüber den Bürgern wurden nicht eingehalten, das Land stand am Rande eines erneuten Zusammenbruchs."

"Durch Schlaglöcher in den Sumpf"

Während Iwanow von vielen systemtreuen Russen als Verräter und ausländischer Agent beschimpft wurde, bekam er auch reichlich Zustimmung: "Absolut richtig. Seit 1917 gibt es kein Russland mehr. Das Experiment zum Aufbau des 'Kommunismus' führte zu traurigen Ergebnissen. Der einzige Erfolg besteht darin, dass allen anderen Ländern gezeigt wurde, wie man es nicht macht." Aus irgendeinem Grund lebten in Russland nur die "Verräter und Diebe" einigermaßen gut, war zu lesen, und auch: "Zumindest sagt jemand aus der Elite endlich die Wahrheit und macht sich nicht bibbernd davon und hofft auf eine Rückkehr."

Unerschrockene Leser bestätigten: "So ist es, wir sind der Zukunft beraubt, die Steinzeit ist auf dem Weg zu uns." Ein weiterer Kommentator nannte sich selbst als Beispiel: "Ich arbeite, rauche nicht, es wird trotzdem immer schlimmer. Was empfehlen Sie mir sonst noch? Sprechen Sie besser nicht über Fortschritt – ich will seit 20 Jahren vorankommen, mein Einkommen steigt stetig, mein Lebensstandard verschlechtert sich. Wann werden wir endlich die Früchte ernten?" Sehr bildreich gab sich diese Meinungsäußerung: "Wir sind in die falsche Richtung abgebogen. Wieder einmal haben wir die ausgetretenen Pfade der Weltzivilisation verlassen. Wir betreten einen Sonderweg, der durch Schlaglöcher und Schluchten in den Sumpf führt."

"Für engstirnige Menschen ist immer Obama schuld"

Eine klare Ansage kam von folgendem Beobachter: "In Amerika und Europa ist zumindest das Pro-Kopf-Einkommen um ein Vielfaches höher als bei uns und die Freiheit in all ihren Erscheinungsformen vorhanden – im Gegensatz zur russischen Sklavenidentität!" Bezugnehmend auf die Ausbeutung der russischen Bodenschätze zugunsten weniger Oligarchen hieß es bei einem aufgebrachten Bürger: "Ich frage mich, wer den Nenzen, Chanten und anderen arktischen Völkern das ganze Gas gestohlen hat? Ich frage mich, wer den Kareliern, Altai-Bewohnern und Ewenen den ganzen Wald abgeholzt hat? Wer nimmt den Jakuten ohne Gegenleistung ihre Diamanten weg? Die Liste ließe sich endlos fortsetzen, aber für euch engstirnigen Menschen wird immer Obama an allem schuld sein."

Mit Blick auf die Kreml-Propaganda, wonach Russland niemals Kolonialmacht gewesen sein soll, argumentierte ein Leser: "Hatte unser Staat im Laufe seiner Geschichte immer eine weiße, flauschige Weste? Er eroberte dieselben Kolonien, nur nicht auf der anderen Seite der Meere, sondern in der Nähe – im Kaukasus, im Ural, in Sibirien und im Fernen Osten. Oder glauben Sie, dass die indigene Bevölkerung süße Träume hatte und dabei zuschaute, wie die russische Welt auf sie zukam?" Ähnlich kritisch drückte es ein weiterer Russe aus: "Ich kann mich nicht erinnern, dass junge Amerikaner über die Grenze nach Mexiko gestürmt sind, wie die jungen Russen nach Georgien [nach der Verkündung der Mobilisierung]. Das reicht, um alles zu wissen."

"Habe es satt, in aufregenden Zeiten zu leben"

Es wurde empfohlen, den Fernseher auszuschalten und wahrzunehmen, "was wirklich im Land los" sei. "Ich habe es satt, in aufregenden Zeiten zu leben. Ich möchte in einer normalen, ruhigen Zeit leben, ohne Schockerlebnisse, ohne mit der Realität zu kämpfen. Aber das ist offenbar eine Utopie", flehte ein Leser des Interviews. Mehrere Blogger waren sich einig: "Wer die Möglichkeit und das Geld hat, geht." Dass viele Russen kein anderes Schicksal verdient hätten, war eine eher polemische Wortmeldung: "Die Hoffnung hat dieses Gebiet schon vor langer Zeit verlassen. Und die meisten Menschen wissen nicht einmal, was es heißt, 'besser zu leben'. Die Menschen haben ihre Wahl getroffen und dieses Leben verdient." Russland sei mehr oder weniger eine "Ochlokratie", wurde behauptet, habe also ein Regierungssystem, in dem der "Pöbel" herrsche.

"Ich bin nicht für die Sowjetunion, aber jetzt leben die Menschen im Allgemeinen wie Vieh, besonders in der Provinz", wetterte ein Leser: "Eine gerechte Gesellschaft in Russland ist nicht in Sicht, und ein solches Ziel lohnt sich jetzt auch nicht mehr. Jeder hält sich so gut er kann über Wasser."

"Kein Zuckerbrot vor den Wahlen"

Derweil ist die russische Wirtschaft nach Auffassung von einheimischen Experten tatsächlich auf keinem sonderlich vielversprechenden Weg: "Im Laufe des Jahres hat sich der Wert der russischen Währung fast halbiert. Aber dem russischen Volk wurde gesagt, es solle sich darüber keine Sorgen machen. Offensichtlich wird es vor den Wahlen kein Zuckerbrot in Form einer Stärkung der Landeswährung geben. Bis Ende des Jahres könnte der Dollar auf 130 Rubel steigen, sagen Experten. Die Gewinner sind die Öl- und Gasexporteure und unser geliebtes Kabinett, das den Haushalt mit Petrodollars füllt."

"Rubel-Kurs ist informeller Indikator"

Der Direktor des russischen Zentrums für Regionalpolitik und promovierte Wirtschaftswissenschaftler Wladimir Klimanow nannte auch den Zusammenbruch des Rubels als naheliegenden Gradmesser für den Niedergang Russlands: "Nun kann man kaum sagen, dass das nur Exporteure, Importeure, Währungsspekulanten und diejenigen, die planen, ins Ausland zu reisen, beunruhigt. Ganz abgesehen davon, dass es von letzteren nur sehr wenige gibt. Der Rubel-Wechselkurs entwickelt sich zu einem informellen Indikator, der zwar nicht in der Liste der üblichen Maßstäbe zur Bewertung der Arbeit der staatlichen Stellen enthalten ist, aber tatsächlich genau im Auge behalten und diskutiert wird. Die Tatsache, dass jetzt so viel darüber gesprochen wird, ist zu einem ebenso wichtigen Phänomen geworden wie sein aktueller Kurs und dessen Dynamik."

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