Frau liegt auf einer Schaukel
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"Chinesisch lernen": Putin testet Punktesystem für Loyalität

Eine Moskauer Uni entwickelte ein "Sozialkreditsystem" nach chinesischem Vorbild, wonach Russen künftig nach ihrem politischen und gesellschaftlichen Engagement bewertet werden sollen. Es gehe um "klare Kriterien für die Verteilung von Ressourcen".

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Swetlana Borodulina von der Moskauer Universität für Sozialwissenschaften hat bereits sehr klare Vorstellungen davon, welche Tätigkeiten in Russland künftig als karrierefördernd anerkannt werden könnten. Chinesisch lernen sei auf jeden Fall sinnvoll, aber auch in der eigenen Garage nach Feierabend Schlitten für Kinder basteln könne das soziale Ansehen verbessern. Denkbar sei auch, ehrenamtlich in Krankenhäusern als "Fitnesstrainer" zu arbeiten oder sich als freiberuflicher Ernährungsberater mit Heilkräutern zu beschäftigen. Wenig hilfreich seien Vorstrafen, Schulden und unliebsame Kommentare im Netz, dagegen seien eine "gesunde Lebensweise" und die "Teilnahme am öffentlichen Leben" äußerst vorteilhaft für das jetzt angedachte Sozialkreditsystem "Wir", das zunächst an den Studenten der Hochschule ausprobiert werden soll.

"Stellen Sie die Volkssouveränität wieder her"

Aufschlussreich dabei: Die Entwickler berufen sich direkt auf einen Artikel des russischen Präsidenten vom Februar 2012, in dem er unter der Überschrift "Demokratie und die Qualität des Staates" versprach, den Russen "Gerechtigkeit widerfahren" zu lassen: "Eine nachhaltige Entwicklung der Gesellschaft ist ohne einen leistungsfähigen Staat nicht möglich. Und echte Demokratie ist eine unabdingbare Voraussetzung für den Aufbau eines Staates, der den Interessen der Gesellschaft dient." Demokratie könne nur dort funktionieren, so Putin damals, wo "Menschen bereit seien, in sie zu investieren". Das liest sich im Nachhinein anders, als seinerzeit zu erwarten gewesen wäre, zumal Putin ankündigte, "Russland aus dem Morast" zu holen und seine Staatlichkeit "wiederzubeleben": "Stellen Sie die Volkssouveränität wieder her – die Grundlage wahrer Demokratie."

Zwischen vielen blumigen Bekenntnissen zu mehr Bürgerbeteiligung und Wahrhaftigkeit fand sich die Formulierung: "Wir brauchen einen Mechanismus, mit dem das Volk verantwortungsbewusste Menschen und Fachleute, die im Hinblick auf die nationale und staatliche Entwicklung denken und in der Lage sind, Ergebnisse zu erzielen, auf allen Ebenen an die Macht bringt. Einen klaren, operativen und offenen Mechanismus für die Entwicklung, Annahme und Umsetzung strategischer und taktischer Entscheidungen."

"Echte Leidenschaften" gefragt

Bisher gehe es in Russland viel zu wenig "gerecht" zu, argumentieren Borodulina und der Vizerektor der Uni, Alijew Fasilowitsch, in ihrem Grundlagenpapier. Sie hätten die Aussagen von Putin "analysiert" und seien zum Ergebnis gekommen: "Wenn es das Sozialkreditsystem heute schon gäbe und es von den Behörden anerkannt würde, wäre alles viel einfacher und fairer. Gerechtigkeit, insbesondere soziale Gerechtigkeit, sollte ein Grundwert und die Grundlage unseres gesamten Gesellschaftssystems sein. Alles wäre viel einfacher und gerechter."

Konkret nennen die Autoren drei Möglichkeiten, die künftigen "Sozialpunkte" in der Praxis anzuwenden: Bei Bewerbungen könnten nur noch Kandidaten zugelassen werden, die eine bestimmte Mindestzahl erreichen. Bisher würden gerade Bewerber mit "echten Leidenschaften" ausgeschlossen. Banken könnten "zuverlässigen" Kreditnehmern günstigere Zinsen einräumen, das Beispiel sei aber "rein illustrativ". Manager könnten sich künftig an den "Sozialpunkten" orientieren, wenn es darum gehe, Prioritäten zu setzen: "Wenn es nur wenige Ressourcen gibt, brauchen wir klare Kriterien für deren Verteilung. Sonst lassen sich schlechte Geschmacksurteile nicht vermeiden. Hier könnte sich das Social Scoring als nützlich erweisen."

"Zum Wohle des Landes"

Die Uni will ihr Sozialkreditsystem jetzt mit Hilfe eines Fragebogens "beschleunigt einführen", zunächst für die eigenen Studenten. Es gehe um die "Digitalisierung ihrer Entwicklungsmöglichkeiten": "Der im künftigen Bewertungscode erfasste soziale Status ist ein Maß für die gesammelten Qualitäten und Merkmale einer Person, ein Spiegelbild ihrer gesamten Erfahrung, Bildung, ihres Alters, ihrer Krankheiten, Verdienste, sozialen Merkmale, Auszeichnungen, Bedürfnisse, beglaubigten Ansprüche und anderer Merkmale, die zusammengenommen ihre gesellschaftliche Bedeutung charakterisieren und den Grad ihrer gesellschaftlichen Aufmerksamkeit, wie sie gegenwärtig, aber auch im Zusammenhang mit ihrer Vergangenheit erwartet wird."

So könne die Bewertung einer alleinerziehenden Mutter, die als Putzfrau arbeite und ein behindertes Kind aufziehe, besser sein als die eines hoch dekorierten Institutsleiters, behaupten die Autoren. Sehr deutlich sagen sie allerdings auch, dass es um die "Erwartungen des Staates" an den Einzelnen gehe. Jeder sei gefordert, "zum Wohle des Landes und zur Entwicklung einer solidarischen Gesellschaft" beizutragen.

"Müll unter den Fenstern beseitigen"

In den russischen Debattenforen gibt es bereits ausgesprochene Fans der "chinesischen Lösung". So schrieb Medienmanagerin Alina Schestowskaja: "Ich glaube wirklich, dass das soziale Bewertungssystem nicht nur funktioniert, sondern auch effektiv ist. Insbesondere im Hinblick auf das aktive Wahlrecht. Eine Person, die mehr Steuern zahlt, deren Beteiligung am gesellschaftlichen Leben höher ist, sollte eine gewichtigere 'Stimme' haben als irgendein Trunkenbold, der auf einem schmierigen Sofa sitzt. Entscheidungen sollten von Menschen getroffen werden, die Müll unter den Fenstern von Hochhäusern beseitigen, und nicht von denen, die Zigarettenstummel in die Blumenbeete werfen."

Ein anderer Blogger widersprach: "Was hat das mit Blumenbeeten zu tun? Das Sozialbewertungssystem in Russland wird unter den gegenwärtigen Bedingungen nur nach den Kriterien Loyalität/Illoyalität gegenüber den Behörden funktionieren. Im groben Sinne funktioniert dieses Rating bereits in Form der Brandmarkung als ausländischer Agent. Nun, die ständigen Aufrufe von Abgeordneten, einigen der Russen, die unser Land wegen des Krieges verlassen haben, die Staatsbürgerschaft zu entziehen, stammen aus derselben Oper."

Vergleich mit Taxi-App

Der stellvertretende Vorsitzende im russischen Parlamentsausschuss für "Informationspolitik", Anton Gorelkin, machte ausländische Medien für die "Horrorgeschichte" verantwortlich. Tatsächlich gehe es um einen "begrenzten Test an einer darauf spezialisierten Universität", um ein "wissenschaftliches Experiment". Er glaube nicht, dass das Sozialkreditsystem staatlicherseits eingeführt werde: "Gleichzeitig verbietet niemand kommerziellen Unternehmen, solche Mechanismen zur Verbesserung ihrer Produkte einzusetzen. In einer sehr beliebten Taxi-App hat beispielsweise jeder Benutzer eine Bewertung, und wenn diese niedrig ist, können Fahrdienste abgelehnt werden. Aber dasselbe zu tun, um Disziplin in der Gesellschaft zu schaffen oder die Bürgerrechte in Russland zuzuteilen, ist meiner Meinung nach unmöglich." Allerdings sei diese Art von Bewertung in Asien "recht erfolgreich".

Politologe Alexander Kynew zeigte sich überzeugt, dass Russland anders als China technisch gar nicht in der Lage wäre, ein Punktesystem in der Praxis anzuwenden: "Ich bezweifle stark, dass ein solches Projekt in Russland umgesetzt wird. Erstens, weil wir einen extrem niedrigen Digitalisierungsgrad haben. Staatliche Dienste funktionieren in der Fläche nicht – einige haben keinen Computer oder nur einen, andere sind nicht ausreichend fortgeschrittene Benutzer. Und in den Städten gibt es eine überwiegend unwillige Wählerschaft, die dieses Thema Sozialrating kaum unterstützen dürfte."

"Hat absolut nichts mit Wissenschaft zu tun"

Der Politikwissenschaftler Julij Nisnewitsch von der Wirtschaftsuni in Moskau verglich den Eifer der Rating-Befürworter gar mit dem Rassismus im Nationalsozialismus: "Es ist wie in Hitler-Deutschland, eine Niederlage der Menschenrechte. Es reicht offenbar nicht aus, Schädel zu vermessen und Menschen danach einzustufen. Das alles hat absolut nichts mit Wissenschaft zu tun." Die den russischen Kommunisten nahestehende "Prawda" schimpfte, die "totale Kontrolle der Bürger" drohe Realität zu werden: "Offenbar haben nicht umsonst 42 % der in sozialen Netzwerken befragten Nutzer Angst vor der Einführung eines 'sozialen Bürgerratings', weil sie von den niedrigen Werten ihrer wahrscheinlichen Einstufung überzeugt sind."

"Klingt irgendwie verrückt"

Die russische Oppositionspolitikerin Elvira Wikarewa schrieb halb im Scherz, halb aufgebracht, sie sei zwar keine "Verschwörungtheoretikerin", sie müsse jedoch jetzt eine Einschränkung machen: "Ich denke, es ist für mich an der Zeit, anzunehmen, dass Putin Russland an China verkauft. Nicht nur ein paar Grenzinseln und Millionen Kubikmeter Wald, sondern auch im wörtlichen Sinne – mit unseren Menschen, mit ihrem Mut." Zur Begründung ergänzte die Autorin: "Wenn Sie ein Handwerker sind, der nebenbei Chinesisch lernt, öffnen Sie einfach Ihre Tasche und wir schenken Ihnen ein paar klingende elektronische Rubel. Es klingt irgendwie verrückt und verschwörungstheologisch, aber der Text des Berichts ist auf der Website der Universität veröffentlicht, dort ist alles klar beschrieben."

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