Die beiden Militärs sitzen am Tisch im Kreml
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Vize-Verteidigungsminister Junus-Bek Jewkurow (links) und Ex-Oberst Andrej Troschew

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"Intelligente und edle Gesichter": Putin umwirbt Wagner-Söldner

Weil er vor den Präsidentschaftswahlen im März unbedingt eine weitere Mobilisierung vermeiden will, setzt der russische Präsident auf "Freiwillige" und hofft jetzt auf die Ex-Truppe des verstorbenen Söldnerchefs Prigoschin: "Optimale Kampfarbeit".

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Die gesamte Führung der ehemaligen russischen Söldnertruppe "Wagner" kam bei einem Flugzeugabsturz am 23. August ums Leben, wobei die genauen Umstände ungeklärt blieben. Nicht wenige spekulierten, Putin persönlich habe seinen langjährigen Wegbegleiter und kurzzeitigen Widersacher Jewgeni Prigoschin, den Chef des Unternehmens, aus dem Weg räumen lassen, weil er eine Rebellion gewagt hatte. Seitdem blieb offen, was mit den aufständischen Söldnern passiert, von denen einige vorübergehend ein Lager in Belarus bezogen.

Jetzt umwarb Putin die Truppe, wohl deshalb, weil ihm an der Front Personal fehlt, eine erneute Mobilisierung vor der Präsidentschaftswahl im kommenden März aber unbedingt verhindert werden soll. Die würde zu "unschönen" Szenen führen, wie massenweise ins Ausland flüchtenden Männern, und in der Bevölkerung Ängste schüren. Folgerichtig schloss der russische Generalstab eine Mobilisierung aus, es gebe "genügend Menschen, die Berufssoldat werden" wollten, sowie Freiwillige.

Dazu passt, dass der Kreml fast schon ängstlich nach wie vor von "Spezialoperation" spricht und das Wort "Krieg" scheut, wie patriotische Blogger wie der Historiker Sergej Pereslegin kritisieren: "Wir sind nicht bereit, die Situation als Krieg zu betrachten, wir waren nicht bereit dafür. Und wenn es keinen Krieg gibt, dann führt das Hinterland natürlich ein völlig friedliches Leben. Russland ist nicht bereit, diesen Krieg bis zum Ende durchzuhalten, und die russischen Eliten auch nicht. Und wie sich herausstellte, sind das ukrainische Volk und die ukrainischen Eliten zu einem solchen Engagement bereit."

Blogger: "Sie wissen, was das bedeutet"

Bei einem Treffen im Kreml mit dem stellvertretenden Verteidigungsminister Junus-Bek Jewkurow und dem ehemaligen Wagner-Angestellten und Ex-Obersten Andrej Troschew hoffte Putin jedenfalls, dass sich beide an der "Bildung von Freiwilligeneinheiten" beteiligen würden. Troschew, Spitzname "Sedoj" (der Grauschopf), war am Aufstand von Prigoschin nicht direkt beteiligt, weil er seinerzeit bereits als Kontaktmann der Söldner im Verteidigungsministerium tätig war. Er ist von der Seite also vergleichsweise "unbelastet". Putin lobte Troschew: "Sie selbst haben mehr als ein Jahr in einer solchen [Söldner-]Einheit gekämpft. Sie wissen, was das bedeutet, wie es gemacht wird. Sie wissen, welche Probleme im Voraus gelöst werden müssen, damit die Kampfarbeit optimal und erfolgreich verläuft."

Wichtig war Putin, dass Freiwillige ebenso gut sozial abgesichert werden wie die Vertragssoldaten des Verteidigungsministeriums: "Für das Land spielt es keine Rolle, welchen Status eine Person hat, die für das Vaterland gekämpft und es verteidigt hat." Militärblogger machten dennoch auf "kleine", aber bemerkenswerte Unterschiede aufmerksam. So konnten Wagner-Söldner zeitlich befristete Verträge abschließen, etwa auf sechs Monate. Das russische Verteidigungsministerium stellte dagegen klar, dass "Freiwillige" sich "bis zum Ende der Spezialoperation" verpflichten müssten, also unabhängig von der Entwicklung an der Front den Dienst nicht quittieren könnten.

"Hat nie kapiert, wie PMCs funktionieren"

Kremlsprecher Peskow bezeichnete das Treffen als "absolute Routine", doch im Netz wird es angeregt debattiert. So schreibt der St. Petersburger Journalist Andrej Okun: "Wie mir gesagt wurde, genoss Troschew innerhalb der Private Military Company (PMC)-Struktur nie wirklichen Respekt und Einfluss. Er war immer ein Fremder, und das Stigma des Sicherheitsbeamten verstärkte nur seine distanzierte Haltung." Demnach soll Troschew "hauptsächlich gesoffen" haben und ansonsten von den früheren "Wagner"-Managern auf Abstand gehalten worden sein: "Doch nun leitet er die gesamte Söldner-Truppe und wurde vom Schirmherrn höchstpersönlich in einen neuen Rang erhoben. Was für ein Ergebnis! Allerdings wird das weder seiner eigenen Sicherheitsfirma Redut, noch Wagner helfen, dessen Leute jetzt in eine zweite Runde geschickt werden, um Bachmut einzunehmen. Höchstwahrscheinlich wird es sogar stören. Schließlich hat 'Sedoy' nie wirklich kapiert, wie PMCs funktionieren."

"Beseitigen, aber mit Nutzen"

Der kremlkritische Publizist Anatoli Nesmijan schrieb sarkastisch: "'Wagner' ist der ideale Recyclinghof. Eine Art Ventil an einem Schnellkochtopf, unter dem das Regime ein Feuer entzündete. Daher geht es in der Diskussion [bei Putin] darum, wie genau der Nachschub an Kanonenfutter erhöht werden kann. Die Behörden können keinerlei Verbesserungen in Aussicht stellen, daher stellen die Menschen für sie eher eine Bedrohung dar, die beseitigt werden muss. In einer sich entwickelnden Wirtschaft sind Menschen immer knapp. In einem schrumpfenden Markt stellt sich immer das Problem: Wohin mit den überschüssigen Exemplaren? Das ist das Thema dieser Produktionsbesprechung – wie man mehr Leute beseitigt, aber mit Nutzen."

Blogger Ilja Ananjew verbreitet die Mär, dass irgendein Unbekannter die "Wagner"-Truppe immer noch im Stil von Prigoschin anführe, worauf die Verehrungsrituale für den Verblichenen hindeuteten. Außerdem gebe es "in memoriam" ein Netzwerk von Blogs, das emsig an der Vermarktung von Souvenirs und Prigoschin-Zitaten arbeite. Putin habe derzeit drei Möglichkeiten, das Erbe von "Wagner" fortzuführen, so der Blogger "Visionär" mit rund 53.000 Fans: Die Ex-Söldner könnten beim Verteidigungsministerium unter Troschew anheuern, sie könnten in die Nationalgarde gehen, deren Chef Wiktor Solotow gern die bekannte "Marke" für sich beanspruchen würde, oder sie könnten weiterhin in Belarus freiberuflich tätig sein: "Putin gefällt die zweite Variante, nämlich Solotows Initiative, und insbesondere die Stärkung der Unabhängigkeit der gesamten Elitetruppe, nicht."

"Sehr heftige Auseinandersetzungen"

Blogger Wladislaw Ugolny meinte, Jewgeni Prigoschin sei so etwas wie ein Fleisch gewordenes Kalaschnikow-Sturmgewehr gewesen: "Für Veteranen des Militärkonzerns Wagner ist es von Bedeutung, sich nicht als Verräter zu fühlen. Sie brauchen jemanden mit Autorität, der das sagt." Anscheinend gebe es dazu hinter den Kulissen gerade "sehr heftige Auseinandersetzungen". Das zielt auf Verteidigungsminister Schoigu, dem nachgesagt wird, kein Interesse an irgendeinem Weiterleben des "Wagner"-Kults zu haben, nachdem er aus der Truppe heraus monatelang übel beschimpft worden war, allen voran von Prigoschin persönlich.

Der kremlnahe Politologe Sergej Markow spekulierte, der Name "Wagner" werde womöglich ausgelöscht: "Wird es möglich sein, den Ruhm und den siegreichen Kampfgeist Wagners zu bewahren, vor dem die Feinde Russlands aus Angst flohen und auswichen? Das weiß niemand zu sagen. Es ist nicht einmal bekannt, ob die Behörden das wollen. Aber die Menschen wollen auf jeden Fall, dass die Behörden danach trachten." Hilfreich sei auf jeden Fall, dass der stellvertretende Verteidigungsminister Jewkurow selbst mal ein "sehr hartgesottener Spezialeinheitssoldat" gewesen sei.

"Besser, sich von solchen Leuten fernzuhalten"

Wenn die Söldnertruppe fortlebe, dann gewiss nicht wegen, sondern trotz Russlands, polemisierte der Unternehmer und Blogger Roman Aljeschin (gut 100.000 Follower). Offenbar versuche der Kreml, Troschews Autorität auszunutzen. TV-Kriegsberichterstatter Alexander Sladkow (eine Million Fans) verwies darauf, dass die Lage an der Front "stabil, aber sehr blutig" sei. Die Unterstützung der "Freiwilligenbewegung" durch Putin sei daher wichtig. Das Einzige, was ihn derzeit allerdings interessiere, so Sladkow, sei die Frage, ob wirklich alle Kämpfer gleichrangig abgesichert würden, was die sozialen Rahmenbedingungen betreffe. Bei der Gelegenheit nannte er die ungeklärte Vertragslaufzeit: Bei Prigoschin hätten die Männer je nach der vereinbarten Zeitdauer gehen können, bei Putin nicht.

"Was für schöne, intelligente und edle Gesichter", spottete ein russischer Leser über Putins Treffen mit Jewkurow und Troschew. Es wurde auch daran erinnert, dass Jewkurow am Tag der Rebellion Ende Juni mit Prigoschin in einem Pavillon in Rostow am Don zwanglos plauderte. "Nach solchen Begegnungen geht es meist nicht gut aus", wusste jemand zu berichten. "Hoffentlich sind sie mit der Bahn angereist", hieß es mit Anspielung auf Prigoschins Tod beim Flugzeugabsturz. Andere vermuteten, Troschew werde jetzt wohl bald ein Business-Jet angeboten: "Danke, ich gehe lieber zu Fuß, sagte er, als ihm ein Freiflugticket überreicht werden sollte." Putin betrüge seine Gesprächspartner oder jage sie in die Luft, schrieb ein Kommentator: "Es ist besser, sich von solchen Leuten fernzuhalten."

"Echtes kulturelles Phänomen"

Ein hellsichtiger Blogger machte darauf aufmerksam, dass Putins Söldner-Werbeaktion schwerwiegende politische Folgen haben werde: "Aus irgendeinem Grund hat fast niemand darüber geschrieben. PMC Wagner ist es gelungen, die Ideologie (und, seien wir ehrlich, auch das Gesetz) erfolgreich durch die Unternehmenskultur zu ersetzen. Und das fast schmerzlos. Alle Mitarbeiter mussten die strengen Standards des Unternehmens einhalten. Von der Einstellungsphase bis buchstäblich nach ihrem Tod [gefallene Söldner wurden teilweise auf eigenen Friedhöfen bestattet]. Alles andere ist ziemlich zweitrangig und fast unwichtig. Das ist ein echtes kulturelles Phänomen. Und der Blitz der Zukunft zuckt darin." Damit beschrieb der Blogger den Identitätskern jedes Kriegsunternehmers: Geschäftlicher Erfolg ist für ihn stets wichtiger als nationales oder religiöses Pathos. Das war schon bei Wallenstein so, weshalb er ebenso unrühmlich endete wie Prigoschin.

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