Der Sohn des Machthabers in Kampfmontur mit Waffe
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Adam Kadyrow

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"Der Kerl wird weit kommen": Russland entsetzt über Kadyrow-Sohn

Der tschetschenische Machthaber und Putin-Vertraute Ramsan Kadyrow lobte seinen 15-jährigen Sohn Adam, weil der einen Häftling verprügelte. Ein Video des gewalttätigen Geschehens wühlt die Öffentlichkeit abermals auf: "Braucht Russland das jetzt?"

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Mag sein, dass Ramsan Kadyrow mit dem Video nur von der "schwierigen" Lage an der Front oder Gerüchten um seinen Gesundheitszustand ablenken wollte, wie Beobachter vermuten: Angeblich leidet der tschetschenische Machthaber und Putin-Fan an Nierenproblemen, hängt an der Dialyse und unterzog sich einer Transplantation. Das führte zu Spekulationen über sein baldiges Ableben und die Zukunft seines vielköpfigen Clans, der womöglich vor der Entmachtung steht. Wie auch immer: Kadyrow dokumentierte in seinem Telegramm-Blog einen Vorfall, der bereits Mitte August Aufsehen erregt hatte. Sein Sohn Adam verprügelte den Untersuchungshäftling Nikita Schurawel, der einer Koranverbrennung beschuldigt wird und aus seiner Heimatstadt Wolgograd nach Grosny ins überwiegend islamische Tschetschenien entführt worden war. Seine dortige Behandlung empört Russland und löste eine wild bewegte Debatte aus.

"Ja, ich bin stolz auf Adams Tat"

Auf dem nur sieben Sekunden kurzen Video ist zu sehen, wie Kadyrows halbwüchsiger Sprössling brutal auf den wegen "Beleidigung der Gefühle von Gläubigen" angeklagten Schurawel einschlägt und ihn mit Füßen tritt. Diese Gewalttat kommentierte der tschetschenische Machthaber (oder die Administratoren seines Blogs) mit den Worten: "Ohne Übertreibung: Ja, ich bin stolz auf Adams Tat. Er zeichnete sich immer durch den Wunsch aus, nicht an seinen Altersgenossen, sondern an den Älteren zu wachsen, wodurch er reife Ideale von Ehre, Würde und Verteidigung seiner Religion entwickelte. Ich respektiere seine Wahl."

In Tschetschenien sei die Religion nach einem Gesetz geschützt, das Putin unterzeichnet habe, war da zu lesen: "Bedenkenlose Vergehen gegen das Heilige sind nur für zynische, unmoralische, rückgratlose und korrupte Menschen charakteristisch, die Zwietracht in der Gesellschaft säen wollen, wo unser Staat doch von den Idealen der Toleranz, Großzügigkeit und Liebe geprägt ist." Koranverächter wurden als "Abschaum" und "Verräter" gebrandmarkt, die ein "Tumor am Volkskörper" seien.

"Alles in mir rebelliert dagegen"

Diese wüste Wortwahl und die Veröffentlichung des Prügel-Videos entfachten den Streit aufs Neue, wie von Kadyrow wohl beabsichtigt. Mit der Entscheidung, das eigentlich schon wieder vergessene Thema neu zu beleben, habe sich Kadyrow keinen Gefallen getan, meint Polit-Blogger Andrej Gusej: "Wer auch immer sich entschieden hat, das zu veröffentlichen, hat dem Ruf des Anführers großen Schaden zugefügt. Jetzt wird diese Geschichte für einen weiteren Monat an die Spitze der Aufmerksamkeit zurückkehren. Vor allem in der westlichen Presse. Braucht Russland das jetzt?" Offenbar arbeite jemand an Kadyrows Entmachtung. Ausflüchte, das Telegramm-Konto sei "gehackt" worden, seien wertlos, der Kreml werde den Schaden "niemals" beheben können.

Valery Fadejew, der kremlnahe Vorsitzende des russischen Menschenrechtsrats, wies darauf hin, dass es für die Behandlung von Häftlingen Regeln gebe, und wenn dagegen verstoße werde, müsse jemand zur Verantwortung gezogen werden. Das Video selbst sei ihm "nacherzählt" worden. Marina Achmedowa, ebenfalls Mitglied im Menschenrechtsrat, drückte sich deutlicher aus: "Bei aller Dankbarkeit gegenüber Kadyrow für seine Hilfe an der nördlichen Front ist es nicht so, dass ich mit der Prügelstrafe gegen eine Person, die sich in einem offensichtlich wehrlosen Zustand befindet, einverstanden wäre, alles in mir rebelliert dagegen." Russland sei kein "mittelalterliches Feudalreich" mehr, Strafen würden von Gerichten festgelegt, aber nicht von Kadyrows Sohn: "So etwas sollte nicht vorkommen."

"Wir wissen nicht, was als nächstes passiert"

Kremlnahe Gesprächspartner des viel gelesenen Portals "Russland kurzgefasst" mit knapp 500.000 Fans wollten sich ausdrücklich zu dem Fall nicht äußern. Offenbar sei es Kadyrow tatsächlich nur darum gegangen, ein "Lebenszeichen" von sich zu geben, was in diesem Fall eine Umschreibung dafür ist, dass er Angst und Schrecken verbreitete: "Sie sind halt emotionale Typen." Als solche hätten sie dem Kreml "kleinere Probleme" beschert. Putin weiß natürlich, dass Kadyrow autoritär mit harter Hand die einstige Unruheprovinz unter Kontrolle hält. Die Frage ist, ob der russische Präsident daran arbeitet, den skandalträchtigen und damit politisch unbequemen Kadyrow ähnlich wie den Söldnerführer Prigoschin "zu entsorgen". Das würde das Risiko beinhalten, im ohnehin sehr unruhigen Kaukasus einen weiteren potentiellen Brandherd zu schaffen.

Die vorsichtig formulierende russische Menschenrechtsaktivistin Eva Merkaschewa bezeichnete das Verhalten von Kadyrows Sohn als "Herausforderung für die Strafverfolgungsbehörden und das Gesetz im Allgemeinen". Mit dem Video lägen nun ausreichend Belege für Ermittlungen vor. Der Umgang mit dem Gefangenen Nikita Schurawel sei "alarmierend": "Wenn wir den Umstand mit diesem Video jetzt so einfach hinnehmen, wissen wir nicht, was als nächstes passieren wird."

"Billiges Cosplay eines starken Staates"

Der Politologe und Publizist Jaroslaw Beloussow wunderte sich: "Auf diese Weise diskreditiert man die Zentralregierung. Warum schreiben diese seltsamen Leute in der Regierung und der Staatsduma überhaupt Gesetze für das Land, wenn sie von den geschulten Händen eines Teenagers ohne Probleme auf den Müll geworfen werden können? Wenn der Kreml nicht zumindest über informelle Kanäle auf das Geschehen reagiert, ist alles sehr traurig. Wir müssen zugeben, dass wir keine hochmögende Diktatur einer einzelnen Person haben, sondern eine Art billiges Cosplay eines starken Staates."

"Macht den Propheten weder heiß, noch kalt"

Hunderte von russischen Lesern zeigten sich entsetzt über die Zustände in Kadyrows Reich: "An dem Tag, an dem nur noch die Erinnerung an die Kadyrows übrig bleibt, werden die Menschen aufatmen." Der Bumerang-Effekt werde gewiss nicht auf sich warten lassen: "Es gibt kein Entkommen." Rechtsstaatlich orientierte Bürger meinten: "Wenn sein Sohn nicht inhaftiert und sein Vater nicht wegen der Förderung krimineller Handlungen seines Amtes enthoben wird, bedeutet das, dass der Kreml Kriminalität und Gesetzlosigkeit unterstützt."

Die Koranschändung wurde hier und da relativiert, zumal Russland eine sehr islamkritische Bevölkerung hat: "Welchen Mut braucht es, eine unbewaffnete und wehrlose Person zu schlagen? Was ist die große Leistung der schlagenden Person, die anerkannt und respektiert werden müsste? Was macht es schon für einen Unterschied, wenn jemand eines der Millionen Exemplare eines Buches verbrennt? Die restlichen Exemplare bleiben erhalten. Das macht den Propheten oder den Allmächtigen weder heiß noch kalt."

"Dynastie von der Macht verdrängen"

Der Kerl werde es noch "weit bringen", wurde gespottet: "Das ist ein Signal an alle, die sich das Video ansehen – schauen Sie, wir kommen mit allem durch, wir dürfen alles machen. Und schauen Sie, jeden Tag senden sie neue Signale an die Regierungszentrale – erst die Forderung, Geschichtsbücher umzuschreiben [die Tschetschenen ließen Lehrmaterial aus Moskau wegen angeblich falscher historischer Einordnungen einstampfen], einen Tag später ein Prügel-Video gegen einen Häftling, gegen den ermittelt wird und der noch nicht wegen des Schuldvorwurfs verurteilt wurde. Wird das alles getan, um den Kreml zu einer Reaktion zu provozieren?"

Die Tschetschenen wurden als "Barbaren" und "Bergbauern" beschimpft, die "wie Naturvölker" lebten und für die leider kein Stalin mehr vorhanden sei: "Es ist höchste Zeit, diese Dynastie von der Macht zu verdrängen. Alles, was Sie mit denen erleben können, ist, wie sie auch noch Belohnungen erhalten, indem sie die völlige Gesetzlosigkeit organisieren und lynchen, entführen, töten und schlagen. Warum brauchen wir dann die Gerichte und das Gesetz?"

"Tschetschenen als Geschädigte anerkennen"

Der prominente russische Kriegsblogger Alexander Kots schrieb, der russische Generalstaatsanwalt Alexander Bastrykin müsse sich fragen lassen, warum er das Strafverfahren gegen Schurawel aufgrund "zahlreicher Appelle von Einwohnern der Republik Tschetschenien mit der Bitte, sie als Geschädigte anzuerkennen", nach Grosny verlegt habe. Auch der russische Justizminister Konstantin Tschuitschenko stehe in der Verantwortung, weil er gefordert habe, der Verdächtige solle seine Strafe in einer Region mit überwiegend muslimischer Bevölkerung absitzen, da "dies den Respekt vor der Religion und den religiösen Gefühlen der Gläubigen in unserem multinationalen und multikonfessionellen Land" fördern werde.

Schurawels früherer Anwalt sagte russischen Medien, er sei für den Fall nicht mehr zuständig. Russische Rechtsextreme wetterten, der Kadyrow-Sohn habe sich "wie ein pummeliges Mädchen" verhalten. Das sei "unwürdig", im Übrigen bleibe abzuwarten, was Kadyrow vorhabe, wenn ein Muslim demonstrativ die Bibel verbrenne. Menschenrechtsaktivist Igor Kaljapin glaubt, dass Kadyrow in einer Schwächephase nur bekräftigen wollte, dass er als "Putins Fußsoldat" völlige Handlungsfreiheit hat und sich von niemandem "herumschubsen" lassen müsse. Aus dem Parlament hieß es, Adam Kadyrow sei ein "sehr schlechtes Vorbild für die Jugend".

"Beginn einer Dystopie"

"Ehrlich gesagt habe ich es nicht geglaubt – und mein Gehirn weigert sich immer noch, es zu glauben", schrieb ein Blogger entgeistert: "Was kommt als nächstes? Hinrichtungen von Redakteuren? Steinigungen für zu kurze Röcke? Ist das unser Gerechtigkeitsbegriff? Sind das Gesetze? Noch einmal: Der Verstand weigert sich, das zu akzeptieren. Aber es geschieht – der Beginn einer Dystopie, in der Gewalt nicht nur legalisiert, sondern auch als empfohlene Norm zur Schau gestellt wird."

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