Die beiden Politiker sitzen an einem kleinen Tisch gegenüber
Bildrechte: Michail Metzel/Picture Alliance

Wladimir Putin (links) mit Ramsan Kadyrow im Kreml

Per Mail sharen
Artikel mit Audio-InhaltenAudiobeitrag

"Die Spinne besucht die Fliege": Putin empfängt Ramsan Kadyrow

Der in Tschetschenien regierende Familien-Clan hält Russland mit brutalen Umgangsformen in Atem. Gleichwohl zeigte sich der russische Präsident mit Machthaber Kadyrow: "Er fragte wahrscheinlich, mit welchem ​​Flugzeug er zurückfliegen würde."

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Die Aufregung könnte nicht größer sein: Vor ein paar Tagen hatte der tschetschenische Machthaber Ramsan Kadyrow ein Video ins Netz gestellt, in dem sein 15-jähriger Sohn Adam einen hilflosen Gefangenen verprügelt. Dafür wurde der Sprössling vom Vater ausdrücklich gelobt. Das hatte die russische Öffentlichkeit hellauf empört. Menschenrechts-Aktivisten, aber keineswegs nur die, beklagten die Zerstörung rechtsstaatlicher Prinzipien und zweifelten an der Autorität des Kremls. Offenkundig habe russisches Recht in Tschetschenien keine Gültigkeit. Jetzt empfing Präsident Wladimir Putin demonstrativ den hoch umstrittenen Machthaber Kadyrow, "um über die Lage in der Republik" zu sprechen. Das russische Fernsehen unterbrach sogar sein Programm, um die ersten drei Minuten der Begegnung live zu zeigen.

"Probleme vor langer Zeit gelöst"

Ob die innenpolitischen Verwerfungen beim Treffen der Politiker Thema waren, wie zu vermuten, ging aus der dürren Pressemitteilung des Kremls nicht hervor. "Generell ist die Dynamik positiv. Das ist vor allem Ihnen, Ihrem Team – diese Menschen arbeiten souverän – und der guten Zusammenarbeit mit der Regierung der Russischen Föderation zu verdanken. Wir haben eine Reihe ernster Aufgaben und Programme, über die Sie selbst ständig sprechen", sagte Putin demnach eingangs. Kadyrow verwies auf angebliche Erfolge tschetschenischer Kämpfer an der Front in der Ukraine und fügte an: "Wir haben in der Republik keine besonderen Probleme – wir haben diese Probleme schon vor langer Zeit gelöst. Nun, es gibt technische Probleme, bei denen wir wie immer Ihre Hilfe benötigen."

Kadyrows Sohn Adam war im Netz mit den Worten zitiert worden, er sei durch das Lob seines Vaters nach der Prügelei zum "glücklichsten Menschen der Welt" gemacht worden und benötige kein "weiteres weltliches Hab und Gut". In einer weiteren Stellungnahme schrieb der Teenager: "Sie können mich erniedrigen, hassen, beneiden und über mich streiten, aber wir beide verstehen, dass du mich milde anlächeln wirst, wenn wir uns treffen."

"Wertvolles Geschenk"

In seinem Blog zeigte sich Ramsan Kadyrow nach der Begegnung mit Putin über die "freundlichen Worte" des Präsidenten erfreut und schrieb: "Ja, es gab noch andere Themen, die bei dem Treffen angesprochen wurden. Mehr dazu später." Kurz darauf versicherte Kadyrow, Putin habe dem Bau einer neuen Moschee in Moskau zugestimmt was er als "wertvolles Geschenk" begreife: "An Feiertagen sind Gläubige aufgrund des Mangels an Moscheen oft gezwungen, auf der Straße zu beten. Dies wiederum führt zu Störungen der städtischen Serviceeinrichtungen." Wie üblich schmeichelte der Machthaber Putin, er sei "ewig dankbar für alles, was dieser getan hat und tut, damit das tschetschenische Volk als integraler Bestandteil der multinationalen russischen Gesellschaft" dem Heimatland dienen könne. Von den Eskapaden seines Sohnes soll demnach keine Rede gewesen sein.

Mit dem Hinweis, Putin habe dem Bau einer weiteren Moschee in Moskau zugestimmt, löste Kadyrow prompt Irritationen bei russischen Nationalisten aus. Er frage sich, warum das Thema jetzt auf die Tagesordnung gesetzt werde, so Alexander "Sascha" Kots, prominenter Kriegsberichterstatter der "Komsomolskaja Prawda": "Es wirkt, als ob das Projekt bereits genehmigt, der Platz zugewiesen und die Arbeiter angeheuert worden wären und sie nur noch auf den Startschuss warten würden. Nichts davon stimmt. Das wurde noch nicht einmal von den Stadtbehörden diskutiert." Das "Problem" sei aus dem Nichts aufgetaucht, zwei Moscheen in unmittelbarer Umgebung seien "irgendwie seltsam".

Verwunderung über Gebetszähler

Ein weiterer Blog stellte fest: "Putin hat kein Recht, über den Bau einer Moschee in Moskau zu entscheiden. Das ist nicht die Angelegenheit des Präsidenten, sondern die Angelegenheit der lokalen Behörden und Moskaus als Kommune. Putin hat dem Oberhaupt von Tschetschenien wahrscheinlich gesagt, dass er keine Einwände gegen den Bau der Moschee habe und den Bürgermeister der Hauptstadt Sergej Sobjanin bitten werde, dieses Problem zu lösen. Aber Ramsan Kadyrow versteht solche Feinheiten natürlich nicht und stellt einfach fest: 'Der König hat es seinen Sklaven angeordnet.'" Tatsächlich polarisiere die Idee die Moskauer und die örtlichen Behörden lavierten hin und her, um sich nicht angreifbar zu machen.

Russische Medien wunderten sich über ein "seltsames Gerät" an Ramsan Kadyrows Finger, das auch als dessen "Panikknopf" missdeutet wurde, sich allerdings als elektronischer Gebetszähler erwies. Die reich mit Schmuckelementen verzierten Objekte ersetzen bei modernen Muslimen die Misbaha, eine dem Rosenkranz ähnliche Holzperlenkette zum Zählen von Gebetsformeln und dienen auch als Talismane. Die ringförmigen, elektronischen Ausführungen gelten in Tschetschenien als beliebte Souvenire. Kadyrow soll 2014 gelobt haben, 100.000 Mal ein Gebet "zum Lobpreis Gottes" zu sprechen. Um beim Zählen nicht durcheinander zu kommen, will er sich das in Russland ungewöhnliche Gerät damals angeschafft haben.

"Alles soll bleiben, wie es ist"

Der russische Politikberater Roman Romanow kommentierte die seltsame Begegnung zwischen Kadyrow senior, der unter schweren gesundheitlichen Problemen leiden soll, und Putin mit den Worten: "Das Thema Kadyrows Gesundheitszustand und die allgemeine Aufregung um ihn erwiesen sich offenbar als so bedeutend, dass die schwere Artillerie ins Spiel kam – ein Treffen mit Wladimir Putin. Ich möchte Sie daran erinnern, dass der Präsident sich nicht einfach mit irgendjemandem trifft. Der Öffentlichkeit wurde gezeigt, dass Kadyrow erstens am Leben ist und der Präsident zweitens seine Arbeit gutheißt und im Allgemeinen zustimmt." Da die angesprochene "schwere Artillerie" im Einsatz gewesen sei, bedeute das allerdings auch, dass die Lage entsprechend ernst sei.

Der St. Petersburger Publizist Andrej Okun verwies darauf, dass die "Stabilität" in Tschetschenien für den Kreml offenbar so wichtig sei, dass der russische Präsident persönlich eingreifen musste: "Das Fazit dieses Treffens ist ganz klar: Alles soll so bleiben, wie es ist, bringen Sie das Boot nicht zum Kentern, ohne Kadyrow wird es richtig ekelhaft, hier ist er!" Ein weiterer Blogger zeigte sich irritiert von einer ziemlich merklichen äußeren Veränderung Kadyrows, der in letzter Zeit sehr aufgedunsen wirkte: "Basierend auf dieser Geschichte können wir sagen, dass es den Ärzten gelungen ist, den Gesundheitszustand von Ramsan Achmatowitsch deutlich zu verbessern, aber die Frage bleibt, wie lange das anhalten wird, denn die Veränderungen sind, was auch immer man dazu sagen mag, sehr drastisch und auffällig. Wie sie sagen: Die Hoffnung stirbt zuletzt."

Exilmedien verglichen Kadyrows vergleichsweise "gesundes" Aussehen beim Treffen mit Putin mit seinem Erscheinungsbild während einer Begegnung mit dem Chef der russischen Nationalgarde, Viktor Solotow. Diese Besprechung soll am 21. September stattgefunden haben, damals hatte der Machthaber Probleme, die richtigen Worte zu finden. Putin habe es wohl sehr eilig gehabt, das "Genesen" seines tschetschenischen Gouverneurs öffentlich vorzuführen, denn es habe nicht mal die üblichen Präsentationsmappen gegeben, die bei solchen Anlässen ausgetauscht würden.

"Sind sie jetzt ein Paar?"

In Leserkommentaren wurden Putin und Kadyrow gleichermaßen geschmäht. Die Spinne habe wohl die Fliege besucht, hieß es, und womöglich habe sich der russische Präsident nach der Flugverbindung von Kadyrow erkundigt: Eine Anspielung darauf, dass Putin verdächtigt wird, den rebellischen Söldnerführer Jewgeni Prigoschin mit einem möglicherweise vom russischen Geheimdienst herbeigeführten Flugzeugabsturz beseitigt zu haben. "Sind sie jetzt ein Paar?" fragte ein Beobachter süffisant. Das sei "eine Art Panoptikum" gewesen. "Sie erinnerten sich gegenseitig gewiss kokett daran, dass sie für alles, was sie tun, zur Rechenschaft gezogen werden müssen", scherzte ein weiterer.

Ein Zimmermann und ein Schafzüchter hätten da wohl über die Errichtung eines neuen Bauernhofs debattiert, hieß es herablassend. Womöglich hätten auch zwei "Vereinsamte am Straßenrand" ein wärmendes Feuer entfacht: "Wir haben es weit gebracht, jetzt wird Putin schon von Kadyrow beraten." Der Tschetschene sei ja als "Schrecken aller Anti-Putinisten" und potentiellen Aufständischen bekannt, rühmte der kremlnahe Politologe Sergej Markow, insofern sei es wichtig, dass Kadyrow die Zweifel an seiner Gesundheit "widerlegt" habe.

"Jeder Zivilist ein potentieller Terrorist"

Der Journalist Maxim Kats wunderte sich über den Bedeutungswandel des Begriffs "Tschetschenisierung". Damit sei inzwischen das Gegenteil von dem gemeint, was ursprünglich beabsichtigt gewesen sei, nämlich Tschetschenien nach und nach in das russische Rechtssystem zu integrieren: "Es geht nicht mehr darum, dass die Republik allmählich auf das Niveau anderer Regionen Russlands gehoben wird; im Gegenteil, die gesamte Russische Föderation eilt jetzt dieser Region hinterher, die immer neue Rekorde an Gesetzlosigkeit aufstellt. Die erste Phase einer solchen umgekehrten Tschetschenisierung war auf die Tatsache zurückzuführen, dass eine große Anzahl russischer Sicherheitskräfte, bis hin zu einfachen Polizisten, Dienstreisen nach Tschetschenien unternahm. Sie erwarben dort spezifische Erfahrungen und psychologische Kenntnisse und nutzten sie dann im ganzen Land. Schließlich fingen die Sicherheitsleute damit an, jeden Zivilisten als potenziellen Terroristen zu behandeln, als Komplizen von Terroristen oder als Verwandten von Terroristen, von denen er Aussagen erpressen kann und sollte."

Verpassen war gestern, der BR Kultur-Newsletter ist heute: Einmal die Woche mit Kultur-Sendungen und -Podcasts, aktuellen Debatten und großen Kulturdokumentationen. Hier geht's zur Anmeldung!