Die beiden Politiker stecken die Köpfe zusammen
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Wladislaw Surkow (links) im Gespräch mit Putin

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"Regen Sie sich nicht auf": Nähert sich Russland den USA an?

Der einflussreiche kremlnahe Politiker Wladislaw Surkow spekuliert in einer Analyse über einen Zusammenschluss der USA mit Europa und Russland, was Debatten auslöste: "Es wird weder eine Idylle noch eine Düsternis sein, sondern voller Widersprüche."

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Sehr bemerkenswert, dieser Artikel von Wladislaw Surkow (59). Der Geschäftsmann und ehemalige stellvertretende russische Ministerpräsident, der zeitweise auch Putins Wirtschaftsberater war und als "Chef-Ideologe" des Kremls bezeichnet wurde, spekulierte über ein Bündnis des globalen Nordens, bestehend aus den Vereinigten Staaten, Europa und Russland. Die Begründung des Politikers: Wenn von einem "globalen Süden" die Rede sei, müsse es logischer Weise auch ein Gegenstück dazu geben: "Es ist heute schwer vorstellbar, dass widersprüchliche Systeme irgendwann ein hohes Maß an Übereinstimmung erreichen werden. Aber es war genauso unvorstellbar, an ein geeintes Russland zu glauben, als Fürst Michail von Twer (1282 - 1318) um das Fürstentum Moskau kämpfte. Ebenso unvorstellbar war es zur Zeit Wallensteins, an ein geeintes Europa zu glauben. Oder an die Union der Staaten Amerikas – zu Beginn des Krieges zwischen den Yankees und den Konföderierten."

"Nicht bald heißt nicht nie"

So bald werde es zwar nicht zum "Großen Nordbündnis" kommen, doch die Richtung sei absehbar: "Vor unseren Augen findet gerade eine heftige Reaktion bei der Verschmelzung der Zivilisationen statt. Das Ergebnis wird, wenn die widrigen Kräfte überwunden sind, die Auflösung sowohl des Westens als auch des Ostens im Großen Norden sein. Alle Teilnehmer dieses Prozesses werden mehr als einmal tragische Übergangsprozesse erleben, bis sie beginnen, sich für ein gemeinsames historisches Projekt anzunähern. Das ist seit Jahrhunderten so und wird noch viele weitere Jahrzehnte andauern."

Surkow verwies darauf, dass Wladimir Putin den damaligen US-Präsidenten Bill Clinton im Jahr 2000 diskret gefragt haben soll, was er von einem Beitritt Russlands zur NATO hielte. Insofern habe es seinerzeit bereits die Chance für ein Nordbündnis gegeben. "Chronische Phobien und Manien" hätten das verhindert: "Aber nicht bald heißt nicht nie." Eine gemeinsame Zukunft sei durch die gemeinsamen Wurzeln vorgegeben, so der Experte: "Der Weg der Amerikaner und Europäer von der Paranoia zur inneren Umkehr ist lang und beschwerlich; es wird aber nicht lange dauern, bis sie zu einer richtigen Weltanschauung finden. Der Große Norden ist weder eine Utopie noch eine Dystopie, er wird weder eine Idylle noch eine Düsternis sein. Er wird voller Widersprüche sein – und gleichzeitig geprägt von der verbindenden Idee der gemeinschaftlichen Führung."

"Wird Homer und dem Heiligen Markus zu verdanken sein"

Laut Surkow wird ein Zusammenschluss von USA, Europa und Russland die "Pax Romana", also die friedensstiftende Rolle des Römischen Reichs wiederaufleben lassen. Schließlich residiere Amerikas Parlament im "Kapitol". Er nannte als wertebildende Konstanten die "Ilias" des Homer und die Bibel. Allerdings hofft der russische Politiker auf einen Sieg seines Heimatlandes im Krieg mit der Ukraine: "Unser Sieg wird sowohl uns als auch den sogenannten Westen verändern. Es wird ein neuer Schritt in Richtung der Integration des Großen Nordens sein, in dem unser Land als Co-Mitglied des globalen Triumvirats fungieren wird. Die bösen Kräfte von heute werden durch schöpferische von morgen ersetzt. Und das wird nicht so sehr den zukünftigen Politikern zu verdanken sein, sondern vielmehr Homer und dem Heiligen Markus."

Warnung vor "Halluzinationen"

Jeder der Beteiligten werde etwas bekommen, was von seinen Idealvorstellungen abweiche, so Surkow: "Vorübergehende Wahnvorstellungen werden derzeit noch als abseitig betrachteten Wahrheiten weichen. Was können Sie erkennen, wenn Sie versuchen, über eine Fata Morgana hinauszuschauen? Was passiert, wenn man illusionäre Figuren vom Schachbrett entfernt?" Der Politiker philosophierte über politische Realitätsverweigerung: "Die anschließende Konfrontation mit der Wirklichkeit ist manchmal nicht gerade erfreulich, weil auf dem Papier ja noch alles glatt lief." Wie gefährlich "Halluzinationen" in der Weltpolitik seien, habe einst der portugiesische König Manuel I. (1469 - 1521) erlebt: Er habe ein Bündnis mit einem angeblich existierenden christlichen Großreich in Asien eingehen wollen, das es allerdings nur in der Einbildung seiner Gelehrten gegeben habe.

Der Politologe Ilja Graschtschenkow bezeichnete den Essay als "interessant", aber "unbeweisbar": "Es kann alles so geschehen oder auch nicht. Aber Surkow verrät dennoch eine wichtige Tatsache: Russland ist ein natürlicher Verbündeter der 'nordischen Völker' (Arier, Europäer, Eurasier, wie auch immer man sie nennen möchte), nicht aber der asiatischen Skythen, um es mit den Worten des russischen Schriftstellers Alexander Blok auszudrücken, 'mit ihren schrägen und gierigen Augen'. Nicht mit China, nicht mit den BRICS-Staaten, nicht mit dem 'globalen Süden'. Der Norden ist Europa und Russland ist ein wichtiger Teil davon." Schon Gorbatschow habe zu seiner Zeit eine "Nordunion" angedacht, abgesichert mit einem "nuklearen Schirm": "Das hat damals nicht geklappt, aber die EU baute schließlich ihre eigene 'Sowjetunion'."

"Regen Sie sich nicht auf"

Der kremlnahe Politologe Sergej Markow zeigte sich über ein "Nordbündnis" begeistert und schlug eine bizarre propagandistische Volte: Die USA und Europa müssten eigentlich an einem Sieg Russlands im Ukrainekrieg interessiert sein, damit sie danach endlich mit Putin paktieren könnten. Angeblich teilen "einige westliche Eliten" diese Einschätzung: "Nur die Dummheit der westlichen Eliten hindert sie daran, ihren strategischen Nutzen zu erkennen." Was Markow nicht sagt: Putin spielt sich seit Kriegsbeginn als Anwalt des "globalen Südens" auf und kritisiert ständig die sogenannte "Goldene Milliarde" des Westens, der nach dieser Sichtweise Privilegien verteidigt, die ihm nicht gebühren. Ein irgendwie geartetes Bündnis zwischen Moskau und Washington würde die gesamte bisherige Propaganda des Putin-Regimes in sich zusammenfallen lassen.

Der Text von Wladislaw Surkow sei immer noch "sinnvoller", als "fast alle Beiträge" anderer russischer Politiker, lobt Politikwissenschaftler Stanislaw Byschok. Allerdings kritisierte er, dass sich Surkow gern "überschätze" und arg "postmodern" aufführe. Das viel gelesene Portal "Russland kurzgefasst" (knapp 500.000 Follower) warnte davor, die Rolle von Surkow zu überschätzen: "Regen Sie sich nicht auf, liebe Eliten." Wirklichen Einfluss habe der Mann derzeit nicht, es sei wohl eher eine geschickte PR-Aktion, die "hinter den Kulissen" lanciert worden sei. Surkow profiliere sich schon länger mit "Pathos" und einem ausgeprägten Sendungsbewusstsein.

"Schemenhaft, erhaben, vieldeutig"

Immerhin, die vielen Reaktionen im russischsprachigen Netz zeigen, dass die Denkübung so manchen inspiriert, wenngleich auch zu satirischen Bemerkungen: "Es wäre für alle einfacher, wenn dem Text eine vereinfachte Version in PowerPoint beigefügt wäre", spottete Blogger Michail Winogradow, der den Essay als "inneren Monolog" bezeichnete und sich erstaunt über die "Zusammenhänge" zeigte. Kolumnistin Ekaterina Winokurowa fertigte Surkow mit den Worten ab: "Er braucht einen guten Redakteur, da er oft sprachlich übertreibt. Ich lese den Text als üblichen Beweis seiner Loyalität und des Glaubens an unseren gemeinsamen Sieg, und das ist alles." Ein weiterer Blogger nannte Surkows Text "listig", er sei ein Signal, endlich einen Waffenstillstand zu erreichen, bewege sich ideologisch allerdings in der Zeit um 2007.

Das "Projekt Nordbündnis" könne nur gelingen, wenn keine der beteiligten Seiten im aktuellen Krieg eine Niederlage erleide, gab ein Blogger zu bedenken. Aber gerade darüber wird ja seit Monaten spekuliert: Nicht nur der Vatikan und der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan sondieren eifrig nach gesichtswahrenden Kompromiss-Möglichkeiten. Blogger Sergej Starowoitow schrieb: "Wie jede Pythia ist Surkow in seinen Einsichten schemenhaft, erhaben, vieldeutig und stilistisch luftig." Die Grundidee sei "nicht die originellste": "Aber ganz generell ist Surkows Artikel natürlich eine hervorragende Vorschau auf [Science-Fiction-Autor] Wiktor Pelewins neuen Roman ['iPhuk 10' über Künstliche Intelligenz], der demnächst erscheinen wird."

"Putins Russland mit Byzanz vergleichbar"

Eher amüsant ist die Beobachtung eines Bloggers, dass die USA anders als das Römische Weltreich nicht den Ehrgeiz hätten, sich alle möglichen Ländereien einzuverleiben, sondern eher "nomadisch" dächten. Im Übrigen passten die angeblichen Nord-Reiche schon deshalb nicht zusammen, weil Europa von einem "linken Multikulturalismus" beherrscht und Putins Russland eher mit dem Byzantinischen Reich unter dem berüchtigten Gewaltherrscher Andronikos I. (1122 - 1185) vergleichbar sei. Das "moderne Rom" sei, wenn es überhaupt eine zeitgenössische Parallele gebe, eher die Türkei.

Blogger Wjatscheslaw Kusmenko wollte in Surkows Bemerkungen die "Gedanken eines bedeutenden Teils der russischen Elite" erkennen, wonach Russland "immer noch Teil der griechisch-römischen Welt" sei: "Das Problem ist, dass jeder zu seinen Bedingungen miteinander befreundet sein will und sich vom Krieg Vorteile erhofft." Kollege Alexander Saigin witzelte: "Also gut, irgendjemand muss es aussprechen. Surkow schrieb diese Kolumne, damit wir alle die [tschetschenische Oligarchenfamilie] Kadyrow vergessen und mit Begeisterung auf diesem Kaugummi herumbeißen."

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