Der russische General in Jacke mit Tarnfarben
Bildrechte: Russisches Verteidigungsministerium/Picture Alliance

General Sergej Surowikin

Artikel mit Audio-InhaltenAudiobeitrag

"Groß angelegte Säuberung": Was wussten die russischen Generäle?

Die US-Geheimdienste wollen erfahren haben, dass General Sergej Surowikin im Vorhinein von Jewgeni Prigoschins Rebellion wusste. Es gibt weitere Hinweise dafür, dass die russische Armee nicht geschlossen hinter Putin steht: Die Debatte ist lebhaft.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Der russische General Sergej Surowikin war nach Informationen der US-Geheimdienste vorab in den Söldner-Aufstand eingeweiht, meldete die "New York Times". Derzeit würden die amerikanischen Experten untersuchen, ob der General dem Privatarmee-Betreiber Jewgeni Prigoschin sogar aktiv geholfen habe. Er wurde seit der Meuterei nicht mehr in der Öffentlichkeit gesehen und soll nach Angaben russischer Telegram-Kanäle "verhört" werden. Es gebe Anzeichen dafür, dass weitere Generäle mit den Söldnern sympathisierten, hieß es in dem Artikel.

Die US-Kreise seien überzeugt, dass Prigoschin seinen Aufstandsversuch niemals begonnen hätte, wäre er nicht zuversichtlich gewesen, im Sicherheitsapparat Verbündete zu haben. Die Risse in der Armee könnten jedenfalls sehr viel größer sein als bisher gedacht und Putin müsse sich nun überlegen, wie er damit umgehen wolle. Offenbar gebe es in der Armee Anhänger und Gegner von Verteidigungsminister Sergej Schoigu und Generalstabschef Waleri Gerassimow.

Das "Wallstreet Journal" will erfahren haben, dass Prigoschin ursprünglich plante, Schoigu und Gerassimow im Hauptquartier der Frontarmee in Rostow festzunehmen. Das Vorhaben sei durch abgefangene Mails und Satellitenfotos jedoch zwei Tage vor der Umsetzung dem russischen Geheimdienst FSB und den westlichen Spionage-Behörden bekannt geworden. Prigoschin habe daraufhin auf die Schnelle improvisieren müssen.

"Intelligenter und kompetenter Kommandeur"

Surowikins Karriere hatte seit Kriegsbeginn Höhen und Tiefen. Er wurde am 8. Oktober vergangenen Jahres zum Oberkommandeur der gesamte Ukraine-Front ernannt. Die Ultrapatrioten begrüßten, dass er die Zerstörung der ukrainischen Infrastruktur befahl, vor allem der Kraftwerke, was ihm den Spitznamen "General Armageddon" bescherte. Im Januar allerdings wurde Surowikin seines Postens enthoben und zum Stellvertreter von Generalstabschef Gerassimow gemacht, was zwiespältig aufgenommen wurde. Nicht wenige waren überzeugt, dass Surowikin als eine Art "Botschafter" und Verbindungsmann der Wagner-Söldner im Verteidigungsministerium tätig war. Zuletzt wurde Surowikin für die Planung einer umfangreichen Befestigungslinie hinter der Front gelobt, die seinen Namen trägt. Propagandisten und Blogger glauben, dass es vor allem diese tief gestaffelten Verteidigungsbauten sind, die die ukrainische Offensive gebremst haben, sie seien ein "starker psychologischer Faktor".

"Wagner"-Chef Prigoschin hatte den General in den letzten Monaten mehrfach als "intelligenten, kompetenten und erfahrenen Kommandeur" gelobt, im Gegensatz zur Leitung des Verteidigungsministeriums. Surowikin hatte allerdings demonstrativ an die Rebellen appelliert, mit dem Aufstand "aufzuhören", mit einer Waffe in der Hand: "Der Feind wartet nur darauf, dass sich die innenpolitische Situation in unserem Land verschlechtert. Man kann ihm nicht in die Hände spielen. Bevor es zu spät ist, müssen Sie dem Willen und der Anordnung des vom Volk gewählten Präsidenten der Russischen Föderation gehorchen, die Kolonnen stoppen und sie zu ihren ständigen Einsatzpunkten zurückbringen. Lösen Sie alle Probleme nur mit friedlichen Mitteln unter der Führung des Oberbefehlshabers der Streitkräfte der Russischen Föderation."

"Rätsel, das niemals gelöst wird"

Andererseits irritierte die russische Öffentlichkeit ein offenbar entspannter Plausch zwischen Prigoschin und den Generälen Wladimir Alexejew (stellvertretender Generalstabschef) und Yunus-Bek Jewkurow (stellvertretender Verteidigungsminister) während der Rebellion in Rostow am Don. Dabei soll Alexejew signalisiert haben, dass er nicht über Gebühr traurig wäre, wenn Prigoschin die Ablösung der Armeeführung durchsetze, also die Entlassung von Minister Schoigu und Generalstabschef Gerassimow: "Hol Sie Dir." Wie volatil die Lage ist, beweisen die jüngsten Äußerungen russischer Propagandisten zu General Surowikin: Noch am Sonntag wurde er als neuer Generalstabschef gehandelt, etwa vom kremlnahen Politologen Sergej Markow.

Der russische Militärexperte Wladimir Prochwatilow sagte in einen Interview: "Surowikin könnte auf der einen oder anderen Seite des Tisches sitzen, an dem Verhöre stattfinden. Wie konnte man nichts von den groß angelegten Vorbereitungen für den Aufstand wissen? Das sind Tausende Kilometer Anreise, tausend Einheiten gepanzerter Fahrzeuge, Treibstoff, die Anmietung ziviler Lastwagen. Diese Vorbereitung dauerte drei Wochen. Ich denke, dass jeder davon wusste – sowohl in Amerika als auch in Europa und bei uns. Es gibt Geheimnisse, die in ein Rätsel gehüllt sind, das niemals gelöst werden kann."

"Nervosität dominiert im Generalstab"

Der Ultrapatriot Igor Strelkow zeterte, General Surowikin habe bei seinem Appell an Prigoschin so sehr "gezittert", dass buchstäblich niemand auf ihn gehört habe: "Das versammelte Militär interessierte sich vor allem dafür, ob Don Sur[rowikin] den Griff des Degens, den er nervös um das Gesäß herumwirbelte, in seinen Arsch stecken würde oder nicht."

Im Generalstab herrsche eine "allgemeine Atmosphäre des Misstrauens", war bei "Rybar" zu lesen, dem größten Portal für Nachrichten von der Front: "Trotz der generellen Freundlichkeit änderte sich der Umgangston einiger Vorgesetzter dramatisch: Nervosität dominierte nicht nur in Gerassimows Gruppe, sondern auch unter Surowikins Leuten. Während ersterer Unentschlossenheit und Versagen vorgeworfen werden, wird letzteren Mitschuld an der Rebellion vorgeworfen." Ein Rätsel sei auch die Rolle des Generals Misintsew, einst stellvertretender Verteidigungsminister, dann Angestellter bei Prigoschin.

Es gebe "groß angelegte Säuberungen" in den Reihen der Militärs, durchgeführt von Ermittlern der Geheimdienste: "'Unentschlossenheit' bei der Unterdrückung des Aufstands ist der Vorwand, unter dem sie anstößige Personen, die in den Fragen der Kampfausbildung, Mobilisierung und logistischen Unterstützung tatsächlich versagt haben, aus dem Amt entfernen." Gerassimow habe de facto nichts mehr mit der Front zu tun, das erledige jetzt der Kommandeur der Luftlandetruppen, Michail Teplinski. Die "Aufräumarbeiten" beträfen nicht nur die Generäle, sondern auch Offiziere und Soldaten, die sich geweigert hätten, auf die Rebellen zu schießen.

"Sie sterben als erste - das ist das Problem"

Einige Blogger halten es für ausgemacht, dass Prigoschin gerade in der Armee auf "Widerhall und Sympathie" zählen konnte, denn der Ruf, zur Hauptstadt zu marschieren, sei in der Truppe immer populär, wie die alte Kosaken-Tradition beweise. Dass Putin seine bisher nur leicht bewaffnete Nationalgarde jetzt mit schwerem Gerät ausrüsten will und gefordert hatte, an der Spitze der Armee müssten "bewährte Frontkräfte" stehen, spricht ebenfalls für ein gewisses Misstrauen gegenüber den Generälen, die er auch im Hintergrundgespräch mit Kriegskorrespondenten als "Salonlöwen" geschmäht hatte, die "gelinde gesagt nicht effektiv arbeiten".

"Umgekehrt tauchten Menschen auf, die im Schatten zu sitzen schienen, sie wurden weder gesehen noch gehört, aber sie werden dringend gebraucht", seufzte Putin damals: "Leider sind solche Menschen die ersten, die sterben, weil sie sich nicht schonen, das ist das Problem."

Ob einer der wichtigsten Förderer und Verbündeten von Prigoschin wirklich der Putin-Vertraute und Oligarch Juri Kowaltschuk ist, wie es Blogger seit langem unwidersprochen verbreiten, sei dahin gestellt. Unterhaltsam sind diese Spekulationen in jeder Hinsicht. Demnach steht Kowaltschuk weiterhin im engen Kontakt mit dem Söldner-Chef, und zwar im Auftrag von Putin. Eines der Themen soll angeblich sein, wie es möglich wäre, Putins Milliarden ins Ausland zu schaffen, wenn der Präsident Russland verlassen müsste. Prigoschin könne da aushelfen: Seine Truppe ist ein Machtfaktor in Zentralafrika.

"Eile im Leben" angemahnt"

"Zu sagen, dass die Bevölkerung nach Prigoschins Aufstand etwas ratlos sei, ist wahrscheinlich untertrieben", schreibt Jewgeni Michailow, bis 2012 in der russischen Präsidialverwaltung beschäftigt: "Die Bevölkerung, darunter fast die gesamte Elite, hatte den Eindruck, dass sie etwas Wesentliches über die Regierungsmechanismen in Russland nicht wusste."

Einer der populären Blogger sagte voraus, dass die Rebellion und die derzeitige Unsicherheit dazu führen werden, dass sich die Kreml-Elite auf "kurze Planungshorizonte" einrichtet: "Die Bemühungen konzentrieren sich darauf, die Situation hier, jetzt und heute zu überleben und zu nutzen, denn so sind die Umstände, die Bedürfnisse und Herausforderungen." Schon der Autor Nikolai Ostrowski ("Wie der Stahl gehärtet wurde") habe ja zur "Eile im Leben" gemahnt, weil es jederzeit durch einen "tragischen Unfall" oder eine unvorhergesehene Krankheit enden könne. Das spricht für ziemlich "fiebrige" Zustände der Elite.

"Putins Fundamente werden untergraben"

Kolumnist Mark Galeotti schrieb im britischen "Economist", Putins Führungsstil "Teile und herrsche" sei an seine Grenzen gekommen. Bisher habe er nach Belieben seine Gunst verteilt und sich wie ein mittelalterlicher Lehnsherr aufgeführt: "Seine Herrschaft beruhte im Wesentlichen auf drei Säulen: persönlicher Glaubwürdigkeit und Legitimität, der Höhe der russischen Finanzreserven und seiner Fähigkeit, Probleme mit Geld zu lösen, sowie der Kontrolle über die Sicherheitskräfte. Alle drei Fundamente werden untergraben."

"Hier ist Bayern": Der BR24 Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht’s zur Anmeldung!