Russland-Experten sehen den Nimbus Wladimir Putins als unantastbarer Staatsführer beschädigt.
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Russland-Experten sehen den Nimbus Wladimir Putins als unantastbarer Staatsführer beschädigt.

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Alles inszeniert? Erklärungsversuche nach Aufstand in Russland

Die Situation in Russland nach dem Aufstand der Wagner-Gruppe um Jewgeni Prigoschin bleibt undurchsichtig. Russland-Experten sehen den Nimbus Wladimir Putins als unantastbarer Staatsführer beschädigt. Oder war doch nur alles ein Schauspiel?

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Ein Söldnerchef droht dem russischen Präsidenten und begibt sich mit tausenden Kämpfern in Richtung Moskau. Erst 200 Kilometer vor dem Ziel bricht Jewgeni Prigoschin, Chef der Söldnertruppe Wagner, sein Vorhaben ab. Die Geschehnisse vom Wochenende hinterlassen den Westen ratlos. Sicher scheint nur: Russlands Staatsführer Wladimir Putin geht geschwächt aus der Angelegenheit hervor – oder könnte das alles etwa inszeniert gewesen sein? Ein machtpolitisches Spiel, um den Westen zu täuschen?

Aufstand der Wagner-Gruppe wohl von langer Hand geplant

Wohl auch aufgrund der dürren Informationslage schießen auf den sozialen Medien die Mythen ins Kraut. US-Geheimdienste gehen einem Bericht zufolge davon aus, dass Wagner-Chef Prigoschin bereits seit einiger Zeit Vorbereitungen für eine Aktion gegen die russische Militärführung getroffen hatte. Der Chef der Söldnertruppe soll Waffen und Munition in der Nähe der Grenze zu Russland angehäuft haben, wie der Sender CNN am Samstag unter Berufung auf nicht namentlich genannte Quellen aus Geheimdienstkreisen berichtete. Das Ziel dieser Planungen sei aber unklar gewesen.

War der Aufstand der Wagner-Söldner nur inszeniert?

Welt-Journalist Christoph Schiltz vertrat am Sonntag im ARD-Presseclub die Ansicht, man sollte darüber nachdenken, ob es sich beim Aufstand nur um einen inszenierten Putschversuch gehalten haben könnte. Und tatsächlich gibt es jede Menge offene Fragen. Eine davon: Warum konnten die Söldner nach einer simplen Sprachnachricht Prigoschins ungehindert bis kurz vor Moskau durchmarschieren? Bagger, die Straßen aufreißen und unpassierbar machen – abgestellte Kipplaster mit nassem Sand als Blockaden: Auf den sozialen Medien waren am Samstag eher halbherzig durchgeführte Versuche zu sehen, Prigoschin aufzuhalten.

Russland-Experte: Keine Inszenierung, eher Führungsproblem

Russland-Experten halten nichts von der These einer Inszenierung. Stefan Meister ist Leiter des Zentrums für Ordnung und Governance in Osteuropa, Russland und Zentralasien. Dass Prigoschins Truppen mehr oder weniger ungehindert durchs Land spazieren konnten, das sei eher ein Hinweis darauf, dass es dem Militär in Russland an Gerät fehle, weil alles an der Front in der Ukraine gebunden sei, sagt Meister gegenüber BR24.

"Mir erschien die russische Führung kopflos. Es gab keine genauen Anweisungen, was eigentlich gemacht werden soll (...) und deswegen hat das System irgendwas gemacht." Für Meister offenbart das "die Schwächen der Machtvertikale". Alles sei auf Putin zugeschnitten "und wenn er bestimmte Entscheidungen nicht trifft oder Weisungen nicht gibt, dann weiß das System nicht was es machen soll."

"Ich glaube nicht, dass der Putsch inszeniert war. Dafür hat Putin viel Prestige verloren und es sind im Prinzip auch Schwächen im inneren Sicherheitssystem sichtbar geworden. Der russische Staat hat zeitweise sein Gewaltmonopol scheinbar verloren." Stefan Meister, Leiter des Zentrums für Ordnung und Governance in Osteuropa, Russland und Zentralasien

Prigoschin in Ungnade zu allem bereit

Die Hintergründe des versuchten Aufstands durch Prigoschin liegen auf dem Tisch. Nico Lange war bis 2022 im Leitungsrat des Bundesverteidigungsministeriums und ist seit einem Jahr für die Zeitenwende-Initiative bei der Münchner Sicherheitskonferenz verantwortlich. "Die Wagner-Gruppe sollte im Verteidigungsministerium integriert werden, damit wäre sein Geschäftsmodell sozusagen erledigt gewesen", erklärt Lange im Interview mit der Bayern 2-radioWelt am Montagmorgen.

Prigoschin war am Samstag in Rostow am Don einmarschiert, um seiner Forderung nach einer Absetzung des russischen Verteidigungsministers Sergej Schoigu Nachdruck zu verleihen. Zu einem Putsch sei das Ganze erst geworden, weil Putin Prigoschin zum Staatsfeind erklärt habe, sagt Lange. "Putin hat ihn ganz klar zum Verräter erklärt und in Russland weiß man, was das heißt – und dann ist es zu so einem Showdown zwischen Prigoschin und Putin gekommen.

Russland-Experte: Putins Image als unantastbar ist infrage gestellt

Russland-Experte Stefan Meister sieht das ähnlich. Prigoschin habe am Ende um sein Überleben gekämpft. Laut Meister hat Prigoschin den Marsch nach Moskau als einzige Möglichkeit für sich gesehen um in eine stärkere Verhandlungsposition gegenüber dem Kreml zu kommen und das habe er erreicht. Putin hingegen brauchte Solidaritätsbekundungen aus den Regionen, aus der Militärspitze und vom Tschetschenenführer Kadyrow – als eine Art Rückversicherung. Das sei bisher nicht nötig gewesen. "Im Prinzip ist sein Image als unangreifbar, als unantastbar, als der mächtige Mann, letztlich durch diese Aktion angegriffen und infrage gestellt worden", sagt Meister.

Auch für den Militärexperten Nico Lange geht Putin geschwächt aus dem Konflikt hervor. "Es hat gezeigt, dass das System von einer Sekunde auf die andere kippen kann in Russland. Dass es nicht so stabil ist wie man dachte." Außerdem habe man gesehen, dass Putin unter Druck bereit zu Zugeständnissen sei, wenn seine Macht bedroht sei. "Das zeigt, man kann Putin unter Druck setzen und dann wird er auch nachgeben", sagt Lange.

Was bedeutet das für die ukrainische Gegenoffensive – Wird Putins Krieg noch schlimmer?

Laut dem "Welt"-Journalisten Schiltz könne eine mögliche Inszenierung auch einen Mobilisierungseffekt in der Bevölkerung zum Ziel gehabt haben. Wird Putin den Krieg in der Ukraine nun noch brutaler führen? Nico Lange entgegnet, Putin habe dafür gar keine Möglichkeiten: "Darüber wird immer gesprochen, wenn irgendwas passiert, dann wird es noch schlimmer; Putin versucht schon alles, was er kann, in diesem Krieg. Da ist nicht mehr." Für die Motivation der russischen Truppen sei es zudem sicher nicht gut, wenn es internen Streit gebe.

Alles hänge an der Frage wie gut die ukrainische Gegenoffensive vorankomme und das gehe aktuell offensichtlich "nur langsam und schrittweise", sagt Lange. Durch den Wagner-Aufstand sei das russische Militär nun aber geschwächt und werde Probleme bekommen, der ukrainischen Gegenoffensive standzuhalten.

Putins Schwäche ist auch in der Bevölkerung angekommen

Auch die Russland-Korrespondentin der ARD, Christina Nagel, geht am Montag im Interview mit der radioWelt von Bayern 2 von einer Schwächung Putins aus. Dieser habe immer als derjenige gegolten, der zwischen den rivalisierenden Machtapparten im Land austarieren konnte. Dieses Image habe nun massiv Kratzer abbekommen. Der Bevölkerung kann dies nicht verborgen geblieben sein. Nagel sagt: "Morgens hatte Putin noch gesagt, sie werden zur Rechenschaft gezogen, sie müssen sich verantworten, Dolchstoß in den Rücken des Landes, Verräter – und abends gehen die Leute straffrei nach Hause." Das werfe Fragen auf und diese seien bei den Leuten im Land auch angekommen.

ARD-Korrespondentin Nagel erwartet, dass in nächster Zeit in den russischen Machtapparaten Köpfe rollen werden – wenn auch nicht der des Verteidigungsministers Sergej Schoigu – denn das würde als weiteres Eingeständnis Putins aufgefasst werden, wenn er die Forderung Prigoschins im Nachhinein noch umsetzte.

Baerbock: Risse in der russischen Propaganda

Für Deutschlands Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) sind die Wirren in diesem innenpolitischen Machtkampf in Russland noch lange nicht beendet. Beim Treffen der EU-Außenminister in Luxemburg sagte sie am Montag: "Es ist immer noch unklar, was dort passiert. Ich sage ganz klar, was dort passiert und nicht, was dort passiert ist, denn es ist offensichtlich nur ein Akt in diesem russischen Spektakel." Putin zerstöre mit seinem brutalen Angriffskrieg auch sein eigenes Land. "Wir sehen die verheerenden Folgen des russischen Angriffskrieges auch für Putins Machtsystem. Und wir sehen massive Risse in der russischen Propaganda", so Baerbock.

Im Video: Außenpolitiker sehen Russland massiv geschwächt

Außenpolitiker äußern sich zur Lage in Russland. Baerbock "Wir mischen uns nicht ein".
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Außenpolitiker äußern sich zur Lage in Russland. Baerbock "Wir mischen uns nicht ein".

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