Porträt des Spitzenpolitikers
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Der stellvertretende russische Ministerpräsident Andrej Beloussow

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"Es eskaliert immer": Kreml hält eigene Elite für zerstritten

Ungewöhnlich deutlich hat der stellvertretende russische Ministerpräsident Andrej Beloussow eingeräumt, dass es "ziemlich unmöglich" sei, in seinem Land politische Einigkeit herzustellen. Für westliche Konservative will er "rettender Strohhalm" sein.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Offenbar fügt sich die russische Regierung in das Unvermeidliche: Seit Monaten ist unübersehbar, dass viele Entscheidungsträger mit dem Angriffskrieg hadern und Putins Aggression ablehnen. Die "Spaltung der Elite" wurde in zahlreichen Interviews und Blog-Einträgen deutlich, sie wird von Ultra-Patrioten wortreich kritisiert. "Es können nicht alle in die gleiche Richtung schauen", bestätigte der Erste stellvertretende Ministerpräsident Andrej Beloussow nun in einem TV-Gespräch: "Das hat es noch nie gegeben und wird es auch nie geben. Besonders nicht in unserem Land. Es war schon immer von erheblichen Werteunterschieden geprägt, in der Zeit von Veränderungen eskalierte das immer."

Konkret nannte Beloussow die Reformzeit von Zar Peter dem Großen, die Oktoberrevolution und den Untergang der Sowjetunion als Phasen, in denen Russlands Oberschicht "in zwei Lager gespalten" gewesen sei: "Der Versuch, allen eine Einheitsgröße zu verpassen und sie zu zwingen, mitzumarschieren, ist ziemlich schwierig, unmöglich und kontraproduktiv."

"Dostojewski hat das gut empfunden"

Damit nicht genug: Beloussow hielt es ausdrücklich für "falsch", den Westen als Feind Russlands zu betrachten. Vielmehr gebe es dort nach wie vor genügend Leute, die an "traditionellen Werten" festhalten wollten, und Russland sehe sich als deren Bewahrer - was der Politiker selbst als "paradox" bezeichnete: "Hier könnte sich herausstellen, dass Russland für sie sogar ein rettender Strohhalm ist, der ihnen die Möglichkeit gibt, auch sich selbst in Sicherheit zu bringen." Es drohten im Westen nämlich "Anti-Werte im Rahmen der Postmoderne", so Beloussow. Damit korrigiert Moskau seine Propagandaanstrengungen: Putin persönlich hatte noch im vergangenen Herbst behauptet, es seien die "traditionellen Gesellschaften des Ostens, Lateinamerikas, Afrikas und Eurasiens, die die Grundlage der Weltzivilisation" bildeten. Jetzt betont der Kreml, er verteidige "europäische Werte", allerdings die "alten".

Was darunter zu verstehen ist, erläuterte Beloussow mit dem Hinweis auf das angebliche "Pathos" im "Tagebuch eines Schriftstellers" von Fjodor Dostojewski. Der berühmte Autor schimpfte in den Artikeln, die zwischen 1873 und 1881 entstanden, auf Liberalismus und Sozialismus, schmähte die Demokratie und die Oligarchen und setzte ganz auf die Alleinherrschaft des Zaren und "fromme Christen", was Kriege allerdings ausdrücklich nicht ausschloss. Im Übrigen gilt Dostojewski, wie viele berühmte russische Schriftsteller, als Antisemit. "Die wichtigste notwendige Voraussetzung für unsere Identität ist die unermessliche Kultur", so Beloussow: "Wir haben unseren eigenen kulturellen Code, eine eigene kulturelle Identität, die die überwiegende Mehrheit der Länder und Völker nicht besitzt. Dostojewski hat das sehr gut empfunden."

Unfreiwillig komisch wirkt Beloussows Bemerkung, es sehe derzeit so aus, als ob Russland vom Westen aus dem bisherigen Wertesystem "rausgeworfen" worden sei: "Wir sind auch freiwillig gegangen."

"Wie können wir schützen, was wir nicht haben?"

Diese Beschwörung "traditioneller" Werte sorgte für eine lebhafte und teils ironische Debatte: "Ideale von Freiheit, Gleichheit, Toleranz, Achtung des Privateigentums und der Menschenrechte, Achtung der Menschenwürde, Bevorzugung der Demokratie gegenüber allen anderen Regierungsformen, Marktwirtschaft, Rechtsstaatlichkeit, Vorrang der Menschenrechte, individuelle Souveränität geht vor staatliche Souveränität, die Liste kann lang sein. Aber wie können wir schützen, was wir nicht haben, nicht schätzen und nicht teilen?" fragte ein russischer Blogger mit 70.000 Fans.

Ähnlich sah es ein Blogger aus Pskow mit einem naheliegenden Argument: "Traditionelle westliche Werte beginnen mit der Achtung der Institution Privateigentum und der Rechtsstaatlichkeit. In Russland hat sich grundsätzlich weder das eine noch das andere durchgesetzt. Gleichzeitig unternehmen Staat und Gesellschaft nichts, um eine angemessene Haltung gegenüber Privateigentum und Recht zu voranzubringen."

Der russische Politologe Ilja Graschtschenkow schrieb über Beloussows Auftritt: "Er ist schlussendlich eine Bestätigung dafür, dass wir Teil der europäischen Zivilisation sind und selbst die Fans des fortgeschrittenen Staatskapitalismus nicht wirklich Teil Chinas werden wollen." Er warf Beloussow vor, eine Art "digitalen Feudalismus" im Sinn zu haben, eine "idealisierte UdSSR", nämlich technisch auf dem neuesten Stand zu sein, mit dem Staat als alles beherrschendem "Großem Bruder".

"Suche nach alternativen Verhandlungswegen"

Politikwissenschaftler Sergej Starowoitow hatte die originelle Idee, Beloussow ziele mit seinem TV-Auftritt auf die Konservativen im Westen, etwa die US-Republikaner und die britischen Tories: "Dabei handelt es sich natürlich um ein klares Anzeichen dafür, dass die bestehenden Verhandlungswege wirkungslos sind und ein Teil der russischen Elite nach alternativen Verhandlungswegen sucht. Das ist gut, wenn es abgesprochen und Teil eines operativen diplomatischen Spiels ist, und nicht sehr gut, wenn es Ausdruck einer persönlichen Initiative ist."

Es sei offenbar an der Zeit, dass sich Russland einen Vizepremier für "traditionelle Werte und den Kampf gegen die Postmoderne" leiste, spottete Blogger Gleb Tscherkassow, der sich dabei an ein satirisches Stück des sowjetischen Dichters Wladimir Majakowski (1893 - 1930) erinnert fühlte. Ähnlich skurril war ein Blog-Eintrag des russischen Propagandisten Golowanow, der sich nicht nur darüber ereiferte, dass der ukrainische Ableger der orthodoxen Kirche jetzt gleichgeschlechtliche Partnerschaften segnen will, sondern auch empört war, dass Mitarbeiter des US-Waffenherstellers Lockheed Martin am Gay Pride-Marsch in Washington D.C. teilnahmen.

"Düsterster Eindruck von russischen Eliten"

Der kremlnahe Politologe Sergej Markow verwies darauf, dass Beloussow sich aus Anlass einer Wirtschaftstagung äußerte, wo die "ehemalige liberale, pro-westliche Elite" versammelt sei. Offenbar wolle der Kreml keine "Wende nach Osten", fasste Markow den Inhalt des Interviews zusammen, sondern nach Süden. Jedenfalls sei Ideologie wichtiger als die Wirtschaft, denn wer sich auf den Weg mache, müsse sich erst mal darüber klar werden, wer er überhaupt sei.

Humorvolle Leser bescheinigten Beloussow einen ausgeprägten Hang zur "Selbstisolation, Selbstabhärtung und Selbstmobilisierung", wozu logischerweise dann auch "Selbstbesteuerung" gehöre. Andere hielten die Einlassungen für "sehr lustig" und "lachten über den Unsinn". Die Wirtschaftstagung in St. Petersburg sei zum "Humorgipfel" verkommen, erregte sich Blogger und Politologe Maxim Scharow. Der "Satiriker" Beloussow habe wohl beschlossen, das dortige Publikum in dessen gesellschaftlicher Nische zu bespaßen: "Hier entsteht der düsterste Eindruck von den angemessenen Fähigkeiten der russischen Eliten."

"Viele leben in eigener Realität"

Blogger Kirill Kabanow wählte übrigens ein besonders aberwitziges Argument, um für die abgehobene russische Elite zu werben: "Wir sagen oft, dass die Machthaber in Luxusdörfern hinter hohen Zäunen leben und nicht sehen, was um sie herum passiert. Ja, viele von ihnen schotten sich bewusst ab, leben in einer anderen, von ihnen geschaffenen Realität, abgeschnitten vom Leben der meisten Russen. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass ihnen jemand im Alltag ein angenehmes Leben ermöglichen muss. Und oft sind es Gastarbeiter aus den Ländern Zentralasiens und des Kaukasus."

Die allerdings hätten in den Villenhaushalten schon "schwere Verbrechen bis hin zu Morden" begangen. Die Mächtigen täuschten sich also, wenn sie annähmen, in "völliger Sicherheit" zu leben: "Allen Bürgern, die Migranten unabhängig vom Einkommen einladen, in ihren Häusern zu arbeiten, rate ich dringend, ernsthaft darüber nachzudenken, wen sie in ihre Häuser lassen und ob es sich lohnt."

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